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Armer, U einer Victor!

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„Ärmer, kleiner Victor!“ Mit diesen in stets wehmutsvollem Gedenken ausgesprochenen Worten gedachte mein Großvater, Paul de Bourgoing, eines vierzehnjährigen Heldens, der mit ihm den weiten Weg bis Moskau zurücklegte und ihn dann mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte betreuend, den Tod auf den weiten Feldern Rußlands fand. Als Paul de Bourgoing nach vierzig Jahren seine Memoiren verfaßte, fühlte er sich verpflichtet, darin seines Begleiters zu gedenken, um wenigstens dieses eine Opfer jugendlichen Heroenkultus unter den Hunderttausenden unbekannter Helden des Jahres 1812 der Vergessenheit zu entreißen und ihm für seine Hingebung zu danken.

Es war im Monat Juni 1811, als der damals zwanzigjährige Militärakademiker zum Leutnant befördert, dem 5. Tiräilleurregimcnt der Jungen Garde zugeteilt wurde. Wer bezweifelte damals in Frankreich, daß die riesenhaften Rüstungen Napoleons die Vorbereitung für den Kampf mit Rußland seien. „Wir waren derart siegesbewußt, daß wir diesen Feldzug mit Bedauern als den letzten betrachteten, den der Kaiser plante, um der Beherrscher der Welt zu werden. Wie schade, meinten wir Jungen, nach so vielen glorreichen Siegen so spät am Ende des Ganzen daranzukommen.“ — „Seid unbesorgt“, belehrte sie ein ergrauter Hauptmann der Alten Garde, „wir sind noch nicht am Etlde angelangt; der Kaiser wird uns noch zu schaffen geben; jedem einzelnen genug!“ So sprachen und dachten alt und jung in ihrer unerschütterlichen Zuversicht.

Nach einer Inspizierung im Kasernenhof erblickte Paul de Bourgoing einen kleinen Tambour, der, auf seiner Trommel sitzend, bitterlich schluchzte. „Ach Gott, ich habe einen großen Kummer. Ich habe mich anwerben lassen, um den Krieg in Rußland mitzbmachen, und trage seit vierzehn Tagen die Tambouruniform. Und jetzt schickt man mich weg.“ „Aus welchem Grund?“ „Der Dr. Poirsen hat erklärt, ich sei zu schwach.“ „Wie heißt du?“ „Victor Lanternier, mein Vater ist ein Pariser Juwelier. Seit achtzehn Monaten helfe ich ihm, doch fehlt es an Arbeit. Und schließlich ziehe ich den Militärdienst allem vor; ich möchte so gerne mit der Jungen Garde nach Rußland.“ „Willst du mit mir als mein Diener kommen“, war die unüberlegte Frage des neugebackenen Leutnants, der die Folgen seines Anerbietens nicht ermaß.

„Das Abkommen ward sofort von uns beiden, überaus leichtsinnig, wie ich gestehen muß, getroffen. Ein vierzehnjähriger Diener, der wie dreizehn aussah, konnte mir in diesem mühseligen und gefährlichen Feldzug nicht von großem Nutzen sein. Doch ich sah von der Welt nur das Gute: es war mitten im Sommer, es herrschte dauernd ein wunderbares Wetter, die Sonne leuchtete in ihrer ganzen Pracht, und in meinen Träumen von Ruhm schien mir alles ganz anders als die grauenvolle Wirklichkeit des Rückzuges über die Beresina:“

Bereits am übernächsten Morgen erfolgte der Abmarsch des Regiments; der Wunsch jedes Infanteristen, seinen Dienst zu Pferd verrichten zu können, ging meinem Großväter schon als Leutnant durch seine Ernennung zum Bataillonsadjutanten in Erfüllung. Diese bevorzugte Stellung, um die besonders die älteren Kameraden den jungen Leutnant, der noch kein Pulver gerochen, beneideten, hatte jedoch viele Schattenseiten. Ohne einer bestimmten Kompanie anzugehören, in jeder dieser Unterabteilungen manchmal nur als unerbetener Gast betrachtet, der sich dann selbst Unterkunft und Verpflegung verschaffen mußte, am Lagerfeuer ein Eindringling, fühlte sich der Adjutant recht vereinsamt. Seit dem Einmarsch in Rußland seinem1 General Delaborde hatte erfahren, daß der Adjutant des Obersten Hennequin, der sich in Deutschland als Dolmetscher bewährt hatte; in Polen die gleiche Verwendung finden könne. In Warschau, wo mein Urgroßvater als Gesandter in Sachsen und im Großherzogtum abwechselnd residierte, hatte sich sein Sohn die Anfangsgründe der polnischen Sprache angeeignet. Als er sich bei seinem Divisionär meldete, war diesem gerade ein polnischer Lancier vorgeführt worden. Graf Delaborde ließ ihm durch meinen Großvater einige Fragen stellen. Da sich der Lancier auch auf Deutsch fließend verständigen konnte, und der General keine der beiden Sprächen beherrschte, überschätzte er die Sprachkenntnisse des Leutnants. „Das trifft sich gut, Sie gehören von nun an zu meinem Stab!“

Am 14. September zog Kaiser Napoleon in Moskau mit seinen jubelnden Truppen ein.

„Ich danke Ihnen, Herr Leutnant; so werde ich den Feldzug nur zur Hälfte zu Fuß mitgemacht haben.“ Der arme Junge sollte jedoch bald durch seine Vertrauensseligkeit Pelz und Pferd verlieren. Nachdem Paul de Bourgoing in seinen Memoiren sein Gewissen durch die Erwähnung dieser Hilfe für Victor einigermaßen entlastet, weist er noch auf die durch andere Teilnehmer an dem Rückzug bestätigte Tatsache hin, „man möge nicht glauben, daß die retirierende Armee zwei volle Monate hindurch vom ersten Tage an in einem sich täglich steigernden Elend befand“.

Während der ersten drei Wochen des Rückmarsches herrschte schönes Wetter; Lebensmittel waren reichlich vorhanden. „Die Temperatur war derart milde, daß Victor Lanternier seinen Pelz auf den Rücken seines Pferdes schnallte und, die Zügel an dem Wagen des Generals befestigte. Das sorglose Kind, wegen des warmen Sonnenscheins einhermarschierend, verlor sein Pferd aus den Augen, das ihm samt seinem Mantel abhanden kam. Nun stand er da, in seiner grauen Tuchweste.“ Madame Anthony, die Soubrette einer französischen Truppe, die in Moskau gastiert hatte, erbarmte sich ihres kleinen Landsmannes und schenkte ihm einen Gehrock, den sie in einer Hosenrolle getragen hatte.

Am 16. November erhielt das 5. Tirail-leurregiment, das bisher die Nachhut bildete, mit ihm Großvater Paul, die Feuertaufe. Da alle Meldungen eine große Aktion erwarten ließen, und er seine schon recht müde Stute Griseldis nicht zu sehr belasten wollte, vertraute er Victor Lanternier seinen neuen Pelz an. Als die letzten Kompanien, nachdem sie die russische Front durchbrochen, sich durch Krasnoe zurückzogen, traf mein Großvater, mitten im heftigsten Gewehrfeuer, den unerschrockenen Victor an. „Das tapfere und treue Kind war mit dem schweren Pelz, den er nachschleifte, wegen mir zurückgeblieben. Es hätte mit der Tete abziehen können, verharrte aber auf dem ge-fährdetsten Posten. .Schnell, schnell, Herr Leutnant, nehmen Sie Ihren Pelz; ich kann nicht so schnell der Nachhut folgen; man muß sich beeilen und nicht zurückbleiben.' Als Paul de Bourgoing dem tapferen Jungen für seine Ausdauer danken wollte, wehrte er bescheiden ab. „Ach ja! Das wäre etwas Schönes gewesen, mit Ihrem Pelz davonzulaufen. Ich habe Sie in der Ebene vor der Front der Jungen Garde herumgaloppieren sehen; durch Griseldis habe ich Sie von so weit her erkannt.“

Nach der Beresina nahm Paul de Bourgoing wahr, daß die Kräfte Victors sichtlich abnahmen. „Jeden Tag langte er verspätet im Biwak an. Angsterfüllt erwartete ich ihn dann; endlich vernahm ich seine schwache Stimme. So stand es um das arme Kind, das mir seine Eltern anvertraut hatten. Ich ging Victor entgegen und fand ihn in seinem dünnen braunen Rock, den ihm Madame Anthony geschenkt. Ich führte ihn zum Feuer, wo er sich erwärmte und etwas erholte. Doch schon in der Morgendämmerung mußte er sich wieder auf den Weg machen, den ganzen Tag allein, mühselig drauflos marschieren. Auch ich lernte damals das bedrückende Alleinsein kennen. Als letzter beim Stab angelangt, legte ich mich in recht trüben Gedanken hin, als ich im Halbschlaf die mir wohlbekannte Stimme Victors vernahm. Er eilte ganz beglückt auf mich zu und hüllte mich in meinen Pelz. Ich dankte ihm, sprach ihm Mut und Trost zü. /Trachte uns jeden Abend einzuholen; wir werden bald aus diesem verwüsteten Land herausgekommen sein, und einmal in Deutschland, bist du gerettet.' ,Mein Gott, Herr Leutnant, ich bin aber am Ende meiner Kräfte; ich schleppe mich fort, so gut es geht. Viel weiter werde ich aber nicht mehr kommen.' Dies war das letzte Mal, daß er uns erreichte. Abends, im Biwak angelangt, wartete ich vergeblich auf ihn; ich hörte nicht mehr seine Stimme. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.“

Victor Lanternier hat das Los der Nachzügler ereilt, die den Tod durch Kälte, Hunger und das Versagen ihrer Willenskraft, verlassen und hilflos, gefunden haben. „Weder der Befehl eines Vorgesetzten noch kriegerischer Ehrgeiz haben ihn geleitet, als er einen ganzen Tag auf dem gefährdeten Posten während des Höhepunktes einer blutigen Schlacht im dichtesten Geschoßhagel ausharrte. Er kann nur den Dank desjenigen beanspruchen, für den er sich derart in Gefahr gebracht hat. Als sein gutes Herz und seine Anhänglichkeit ihm diesen beharrlichen Mut einflößten, hatte der arme Victor nur noch wenige Tage zu leben und zu leiden. Er konnte getrost vor Gott erscheinen, da er sich für eine gute Tat aufgeopfert hatte.“

(Aus einem in Vorbereitung befindlichen Erinnerungsbuch.)

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