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Aufstieg und Fall Erhards

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Ludwig Erhard griff zur Boxersprache und rief aus, er werde für sich nicht das Handtuch werfen lassen. Dennoch hat er abtreten müssen, und nun läuft er Gefahr, daß ihm mehr Steine nachgeworfen werden, als er verdient hat. „Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, das Gute wird mit ihnen oft begraben.“ Fast sieht es darnach aus, daß dieser Satz auch über Erhards Kanzlerkarriere geschrieben werden würde.

Der Mann, der ohne seine Zigarre sowenig zu denken ist wie es Winston Churchill war, galt von Anfang an als der Inbegriff des Wirtschafts-. Wunders. Schwer verletzt im ersten Weltkrieg, erschien er als die Verkörperung strahlender Gesundheit und besten Wohlergehens, die nach der Methode Couė geformt und gelebt wurden: „Mir geht es jeden Tag besser und besser.“

In der Tat steht Erhards größte Leistung am Beginn seiner politischen Laufbahn: Er trat 1948 für die Währungsreform ein, und er entfaltete gemäß den obligaten Lehren des Liberalismus das Wirtschaftswunder unter dem Stichwort „laisser faire, laisser aller“. Er tat das so vollendet, daß der FDP-Vizekanzler Franz Blücher von ihm zu sagen pflegte: „Eigentlich gehört er zu uns.“ Tatsächlich ist Erhard erst vor einiger Zeit offiziell der CDU beigetreten, die er seit 1949 im Bundestag vertritt.

Mit Beginn der Bundesrepublik im Jahre 1949 wurde Erhard Bundeswirtschaftsminister, nachdem er die westdeutsche Wirtschaft schon im Rahmen der Dreizonenverwaltung geleitet hatte. Organisation und Bürokratie waren dennoch nie seine Stärke. Wo es aber darum ging, die Grundzüge seiner Wirtschaftspolitik darzulegen, zu verteidigen und zum Tragen zu bringen, da war er der gegebene Mann. Sein Ministerium in Bonn-Duisdorf ist oft als ein „Klub freischaffender Künstler“ bezeichnet worden. Aber die Wirkungskraft dieses Ministeriums und der Erhard- schen Wirtschaftspolitik haben auch die Spötter nie bestritten.

In jenen ersten Jahren der Bundesrepublik hat auch Erhard durch viele, oft strapaziöse Reisen im Ausland dazu beigetragen, daß Ansehen und Kredit der Bundesrepublik überall in der Welt sich festigten und mehrten. Wo er erschien, wirkte er durch seine Biederkeit und Redlichkeit — ein Wort, das in seinem Sprachschatz eine große Rolle spielt —, seine wirtschaftliche Sachkenntnis und die Unbefangenheit und Bescheidenheit seines Auftretens. So wurde er zu einem wertvollen Reisenden und Verkäufer für die deutsche Wirtschaft.

Dennoch war die deutsche Wirtschaft mit der Politik, die der Vater des Wirtschaftswunders betrieb, nicht immer einverstanden. Auch in seiner Fraktion und Partei wurde manches Mal lebhafter Unmut über ihn laut. In solchen Augenblicken vertraute Erhard auf die Überzeugungskraft seiner Beredsamkeit. Auf dem Stuttgarter Parteitag der CDU brachte er auf diese Weise den Wirtschaftsausschuß zu tosendem Beifall, wo ihn erhebliche Verärgerung erwartet hatte. Einmal in seiner Fraktion schien es auf Biegen und Brechen zu gehen, aber er verließ den Sitzungssaal nach halbstündigen Ausführungen als der Sieger.

Um so empfindlicher wirkte es auf ihn, wenn seine Kunst der Überredung nicht durchschlug. Das widerfuhr ihm 1957 bei den Industriellen des Ruhrbergbaus. Das geschah einige Male in diesem Jahr in den Wahlkämpfen, wo er in einigen Fällen die Beherrschung verlor. Er schimpfte dann auf die Wähler, wie er die Intellektuellen als „Pinscher“ hingestellt hatte, ein Wort, das sie nun gleich dem Vorbild der Geusen als einen Ehrennamen tragen.

Bei diesen Gelegenheiten zeigte sich, daß Erhard dünnhäutig ist, so robust er erscheinen mag. Er ist der Typ eines Mannes — eines deutschen Mannes, möchte man sagen —, der sich, eben weil er schlicht und gerade angelegt erscheint, schwer ausloten läßt. Plötzlich stößt man auf unvermutete, überraschende Untiefen. So hat man ihn einen Gummilöwen genannt und damit doch nur einen Teil seines Erscheinungsbildes gezeichnet.

Jahrelang hat Erhard seinem Vorgänger Adenauer loyal gedient. Erhard hat gewußt, wie Adenauer über ihn dachte. Er hat wohl auch manches Mal empfunden, daß Adenauer, wie ein früheres Kabinettsmitglied es auszudrücken pflegte, eine „beinahe physische Abneigung“ gegen ihn hatte. Aber Erhard ist trotzdem seinen Weg unverzagt weitergegangen. Adenauer hat ihn nicht untergekriegt. Erhard hat der Errichtung der EWG zuge- stimmt, weil man ihm gesagt hatte, sie sei eine politische Notwendigkeit. Unabhängig davon hat er jedoch stets laut seine Meinung verkündet, „Kleineuropa“ sei ein „wirtschaftlicher Nonsens“.

Die Nachfolge Adenauers hat Erhard angetreten, als sei dies eine Selbstverständlichkeit. In der Tat hatte die CDU keinen populäreren Mann als ihn. Er war ihre Wahllokomotive und in den Wahlkämpfen auch von Adenauer nicht zu übertreffen. Er liebt die Diskussion, die Auseinandersetzung. Mit dem nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Prof. Ernst Nölting von der SPD hat er, solange dieser dem Bundestag angehörte, sich brillante Rededuelle geliefert. Dennoch gibt es Situationen, in denen jedermann erwarte, Erhard werde das Wort ergreifen — aber er tut es nicht.

Als er in das Palais Schaumburg einzog, hat er zu seinem Vorgänger gesagt: „Mit Ihnen geht eine Ära zu Ende.“ Das Wort ließ auf tiefe Einsicht schließen. Aber nachträglich fragt man sich, was die Konsequenzen aus dieser Einsicht waren.

In der Tat hat Erhard ein sehr schweres Erbe angetreten. Aber im Jahre 1963, als sich Adenauer zurückzog, wurde dies noch von den wenigsten erkannt. Die meisten waren noch geblendet vom flammenden Glanz des Wirtschaftswunders und bemerkten nicht, wie er schon in die verräterische Röte der Abenddämmerung überging. Sie erwarteten daher, daß Erhard alles das tatkräftig aufgreifen werde, was Adenauer nach ihrer Meinung mehr und mehr hatte schleifen lassen.

Aber am Firmament der Weltpolitik gingen gewichtige Veränderungen vor. Der kalte Krieg lief aus. Die USA und Sowjetrußland näherten einander. In Frankreich betrieb de Gaulle immer offener und kühner sein eigenwilliges Spiel. Das Europa der Sechs mußte mit wachsenden Schwierigkeiten kämpfen. Europa und Deutschland traten für die Amerikaner hinter Asien zurück. Der atemberaubende Aufschwung des Wirtschaftswunders ließ nach.

Die Bonner Politik mußte diese Entwicklungen rechtzeitig voraussehen und ihre Maßnahmen treffen. Die Forderung war im Grunde eine Leistung von geschichtlichem Maß. Die Bilanz der Ära Erhard ist hingegen in den Augen seiner Kritiker, daß Erhard demgegenüber versagt hat. Sie räumen ein, daß die Probleme schon gestellt waren, bevor Erhard Kanzler wurde. Wer gerecht ist, wird ihn daher auch nicht zum Prügelknaben machen, weil diese

Probleme entstanden sind. Aber von allen Seiten wird der schwerwiegende Vorwurf erhoben, daß Erhard dieser Probleme nicht Herr geworden sei.

Auch hinter diesen Vorwurf muß man indessen noch das Fragezeichen setzen, wieviel einem anderen geglückt wäre. Die deutsche Politik befindet sich innen und außen in einer Lage, die nicht allein durch sie, sondern entscheidend durch die Umstände herbeigeführt worden ist. Aber Erhard erleidet nun das Schicksal eines jeden, der die letzte Verantwortung trägt. Er wird für alles verantwortlich gemacht, gleichgültig, wieviel er selbst Schuld daran trägt.

Worin hat Erhard versagt? In vielem. Er hat dem Kabinett, seiner Fraktion, seiner Partei nicht die Überzeugung vermittelt, daß er führe. Im Gegenteil, er hat ständig den Eindruck verstärkt, daß er es an Führung, Phantasie und Entschlußkraft fehlen lasse. Nicht nur hat Erhard eine andere Arbeitsweise als sein Vorgänger, der Jahrzehnte an der Spitze einer umfangreichen Verwaltung gestanden hatte. Nicht lange nachdem er ins Palais Schaumburg eingezogen war, melde ten sich überall Zweifel, ob er die Arbeit des Kabinetts so zu formen vermöge, daß sie in jedem Fall wirkungsvolle Gestalt annehme. Kabinettsmitglieder klagten, er leite die Kabinettssitzung weniger als daß er der Diskussion folge. Fragte man Teilnehmer an der Kabinettssitzung, wie der Bundeskanzler sich verhalten hatte, so zuckten sie nicht selten wortlos mit den Schultern.

Erhard hat im Herbst 1965 kenntnisreich vorausgesehen, daß die zahlreichen Ausgabenbeschlüsse des Bundestages — reine Wahlgeschenke vor den Bundestagswahlen — den Bundeshaushalt zum Überlaufen bringen würden. Aber er hat kein Machtwort dagegen gesprochen. Er hat nicht vom Artikel 113 des Grundgesetzes Gebrauch gemacht, der ihm zu Gebote stand. Er hat es vor einigen Wochen zugelassen, daß sein Finanzminister Dahlgrün sich im Kabinett von dem Bundeshaushalt distanzierte, den sein eigenes Ministerium dem Kabinett vorgelegt hatte.

Erhard war nach und nach der Weisheit Adenauers gefolgt, mit Paris, Washington und London gleichermaßen auf gutem Fuß zu stehen. Aber er erkannte nicht — zumindest wurde es nicht sichtbar —, daß die deutsche Außenpolitik unter Schrö- dens Leitung immer mehr aus diesem gleichschenkelig gedachten Dreieck ausbrach und sich immer einseitiger an die USA anlehnte.

In der Europapolitik wollte Erhard den General de Gaulle zu einer politischen Union bewegen, ohne zu verstehen, daß de Gaulle nur in einem mit ihm übereinstimmte: im Verlangen nach Aufhebung der Supranationalität, während Erhards sonstige Europapolitik — Einbeziehung Englands, Skandinaviens und so weiter — dem General gar nicht gefällt. So scheiterte Erhard auch hier.

Erhard bestätigte Johnson die Bereitschaft zu jenen Devisenzahlungen an die USA, von denen heute in der Bundesrepublik niemand weiß, wie sie aufgebracht werden sollen. Erhard machte unter vier Augen in Rambouillet de Gaulle Zugeständnisse bezüglich der Agrarfinanzierung in der EWG, die ebenfalls eingelöst werden mußten. Schließlich unterzeichnete Erhard im Jahre 1964 ein Kommunique mit Johnson, in dem erstmals die Bonner Regierung die Gleichzeitigkeit von Wiedervereinigung und Entspannung preisgab und mit der Formel einverstanden war, die Wiedervereinigung könne auch eine Frucht der Entspannung und Abrüstung sein.

Aber nicht nur dies. Es funktionierte auch der Apparat im Palais Schaumburg mangelhaft. Der Beraterstab verstand es nicht, den Kanzler Erhard vor der Öffentlichkeit mit seinen Ideen, seinen Sorgen, seinen Plänen aufzubauen. Er gab auf die Optik zuviel, auf den Inhalt der Politik zuwenig.

So mußte es notwendigerweise dahin kommen, daß Erhard sein Kabinett, seine Fraktion nie richtig im Griff hatte und daß sich die Bande zu ihnen immer mehr lockerten, der Unwillen über ihn immer weiter um sich griff.

Es entspricht der Natur Erhards, der sich selbst eine Mission zuspricht, daß er hinter den sachlichen Einwendungen gegen seine Führungskunst und Politik böse Intrigen erblickte, die er glaubte um ihre Wirkung zu bringen, indem er sie entlarvte. Aber welcher Kanzler, welcher Politiker muß nicht damit rechnen, daß Männer mit dem Dolch im Gewand ihn umschleichen?

Erhards politischer Aufstieg gehörte zu den Symbolen der deutschen Erneuerung nach 1945. Er hätte einen anderen, einen triumphalen Abgang verdient. Aber in einer Dichtung eines Bonner Freiheitskämpfers aus dem Jahre 1848, Gottfried Kinkel, steht am Ende der Satz: „Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.“

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