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Blaubarts Kammern in Jerusalem

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Jerusalem ist eine Stadt der faszinierenden Geheimnisse…

In den mensdiheitsalten Stadtfels sind Grotten voll versiegelter Rätsel gehöhlt. — Ich will gar nicht von den Geheimnissen sprechen, die einmal der Zufall enthüllen wird. Wir kennen etwa den Quadratkilometer Raumes auf dem Hügel Ophel, in dem einmal die Nekropole der biblisdien Könige entdeckt werden wird, aber wir wissen nicht mehr darüber. Aber es gibt noch andere Rätsel in Jerusalem, die hinter verschlossenen Türen verborgen sind, an denen man gleichsam täglich vorübergeht. — Das sind die wahren Kammern Blaubarts, von denen man zu träumen beginnt, wenn man einmal dieser Stadt verfallen ist.

Ein mittelalterlicher Komplex auf dem Hügel Zion heißt „Nebi Daud”, nach einer unsinnigen Tradition, die hier das Grab König Davids vermutet. Er ist das kleine Kloster, welches die Franziskaner im 14. Jahrhundert um die Ruine des Zionmünsters der Kreuzfahrer erbauten. Die Türken vertrieben die Mönche im 16. Jahrhundert. Seit damals gilt es als unverletzliches mohammedanisches Heiligtum, weil König David auch im Koran löblich erwähnt wird.

Die südöstliche Ecke der alten Kreuzfahrerkirche ist inmitten des kleinen Klosters erhalten. Auf der Empore des rechten Seitenschiffes wurde hier der „obere Raum des letzten Abendmahles” verehrt, das „Coena- culum”. Darunter lag die „Kapelle der Fußwaschung”, von der man in der Kirche der Byzantiner die Krypta des heiligen Stephan betrat. Da die Reliquien Stephans im 5. Jahrhundert in eine eigene Basilika übertragen worden waren, entstand mit dem Neubau der Kirche dyrch die Kreuzfahrer eine neue Pilgertradition, welche das leere Grabgewölbe als die Gruft des königlichen Vorfahren Jesu deutete.

Das „Coenaculum” steht Nichtmoslems offen, die von einem flachen Dach durch ein vergrößertes Fenster direkt in den ersten Stock der Ruine geleitet werden. Von hier führt eine alte Stiege in die „Fußwaschungs- kapelile” hinab, die darunter liegen muß. Seit vier Jahrhunderten hat kein Europäer diesen Raum betreten dürfen. Dig mohammedanische Scheu vor dem falschen Königsgrab versagt der Wissenschaft den wahrscheinlich interessantesten Kreuzfahrerbau des Heiligen Landes.

Der Laie wird sich darüber trösten können. Aber auch seine Phantasie muß die Tatsache faszinieren, daß es im Herzen Jerusalems eine Schatzkammer gibt, voll unwahrscheinlicher Kleinodien, die seit einem Jahrhundert kein Mensch betreten hat. Es ist die „innere Schatzkammer des Heiligen Grabes” im dritten Kellergeschoß unter der Grabeskirche. Ernste Gelehrte waren und sind der Ansicht, daß neben den Opfergaben der Kaiser Ost- und Westroms auch die letzten erhaltenen Goldgefäße des herodiani- schen Tempels dort aufbewahrt werden. Es ist das historische Krongewölbe der Kreuzfahrerkönige, dessen drei Schlüssel einst dem Patriarchen und den Meistern der Ritter des Hospitals und des Tempels anvertraut waren. Zum letztenmal ist dieses Schatzgewölbe geöffnet worden, als vor einem Jahrhundert der griechische Patriarch seine Residenz von Konstantinopel nach Jerusalem zurückverlegt hatte. Kein Kunsthistoriker, kein Mensch unserer Generation hat jemals den Schatz des Heiligen Grabes gesehen. — Ich bin selbst einmal vor der wuchtigen Eisentüre mit den drei Schlössern gestanden, aber das ist (wie Kipling zu sagen pflegt) „eine andere Geschichte …”

Seit siebzig Jahren konnten in der Altstadt Jerusalem keine archäologischen Grabungen vorgenommen werden. In den frühen siebziger Jahren, dank einem gutmütigen Pascha, das goldene Zeitalter der biblischen Archäologie, entdeckten Wilson und Warren die heute völlig im Schutt begrabene Brücke, welche im alten Jerusalem von der Oberstadt zum Tempel führte. Wo diese Brücke am alten Tempeltor endet, entdeckten die Forscher unter dem heutigen Gebäude des mohammedanischen Obersten Gerichtshofes wohlerhaltene Bauten aus der Zeit Christi; wahrscheinlich die „Kammer aus gehauenen Steinen”, in der das Große Synhedrion tagte, wenn es Nichtjuden zu verhören hatte, die den Tempelbezirk nicht betreten konnten. Als die englischen Forscher im nächsten Frühjahr wieder in Jerusalem eintrafen, fanden sie ihre Grabungen verschüttet und vermauert. Seit damals war es keinem Archäologen möglich, an dieser Stelle weiterzuarbeiten. Die ungeheuren antiken Gewölbe unter dem Gerichtsgebäude, die eigentlich verschüttete Paläste sind, blieben der modernen Altertumswissenschaft unzugänglich. Wir wissen von ihnen nur, was Wilson und Warren in ein paar kurzen Grabungswochen feststellen konnten …

Ein paar hundert Meter nördlich, auch am Rande des Tempelbezirks, gibt es eine Quelle, der die Sage Heilkraft zuschreibt. Da sie nur spärlich fließt, existieren auf dem Grund des Brunnenschachtes Stollen, die zu den Ursprungsstellen des Wassers führen. Dort wurde einst das Wasser geschöpft und zum Brunnen getragen. Derartige unterirdische Anlagen sind in mehreren antiken Städten Palästinas gefunden worden, die, stets auf Hügeln gelegen, immer Schwierigkeiten mit ihrer Wasserversorgung hatten. Einen dieser Tunnels konnten Wilson und Warren erforschen. Die heutigen Besitzer der Quelle und des damit verbundenen Bades aber, deren Familie seit Jahrhunderten hier sitzt, behaupten steif und fest, daß sich am Ende eines anderen Tunnels ein wohlerhaltenes heidnisches Nymphäum befindet. Ihre Angaben können nicht überprüft werden, weil archäologische Untersuchungen, die sich unter den Tempelplatz erstrecken könnten, von der Mandatsverwal’tung nicht gerne gesehen werden. Die Bademeister selbst hätten gar nichts dagegen, aber der Brunnen hat sich leider bis zum Rand mit Wasser gefüllt, seit Jerusalem eine moderne Wasserleitung besitzt und das leicht salzige Wasser der Quelle kaum mehr verwendet wird. Derart ist ohne offizielle Hilfe der städtischen Feuerwehr nichts auszurichten.

In Blaubarts Schloß gab es nur eine einzige versperrte Kammer, und das war mehr, als Frau Blaubart aushalten konnte. Von den versperrten Kammern Jerusalems habe ich hier auf gut Glück vier erwähnt. Es gibt deren viel mehr. Kammern, die Tradition und Mißtrauet verschlossen hält. Hinter deren vermauerten, versperrten, überschwemmten Türen kein düsteres Geheimnis verborgen ist, sondern wichtige archäologische Entdeckungen, deren jede interessanter wäre als noch ein Königsgrab in Ägypten. Und das sind keine Funde, nach denen man jahrelang in einem Wüstental suchen müßte, das sind Funde, die nur auf den Mann warten, dem es gelingt, mit ein paar mittelalterlichen Hirngespinsten fertig zu werden.

Vielleicht wird es im künftigen Jerusalem, der „Freien Stadt unter dem Schutz der Vereinten Nationen”, möglich sein, wissenschaftliche Forschung von den Hemmungen alten und neuen Haders zu befreien. Dann wird es bald Nachrichten aus Jerusalem geben, die hinreißend interessant sind, obwohl sie nichts mit Politik zu tun haben.

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