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Bomben auf der „grünen Insel“

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Inniskillen (Nordirland). Reuter. In BrookeborougHt, Grafschaft FermanagH, überfielen irische Nationalisten eine Polizeistation. Zwei der Angreifer wurden getötet, ein dritter gefangen- genommen. Zwei Polizisten erlitten Verletzungen,

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Inniskillen (Nordirland). Reuter. In BrookeborougHt, Grafschaft FermanagH, überfielen irische Nationalisten eine Polizeistation. Zwei der Angreifer wurden getötet, ein dritter gefangen- genommen. Zwei Polizisten erlitten Verletzungen,

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So rückt die „gr-üne Insel" wieder in das Blickfeld. Der Haß gegen England ist nicht erloschen. Trotz der 1948 errungenen Unabhängigkeit ist nämlich ein kleiner Teil Nordostirlands weiter unter der englischen Krone geblieben. Dieser Zipfel umfaßt sechs von insgesamt 32 Grafschaften, zählt 1,4 Millionen Einwohner und eine protestantische Mehrheit von 60 Prozent. Die Vereinigung dieser 13.500 Quadratkilometer mit dem Freistaat (70.300 Qua- dratkilomter) ist aller Wunsch. Aber Ueberfälle und Terror sind für die nüchternen Engländer keine überzeugenden Argumente, auch Costello, der irische Ministerpräsident, lehnt sie ab. Das Paradoxe daran ist, daß der protestantische Norden die Uniierung mit dem katholischen Südirland, wie es in der letzten Wahl deutlich zum Ausdruck kam, gar nicht will.

Irland has a long memory. Dieses Nichtvergessenkönnen ist die tragische Seite in diesem Land ohne Beispiel: Es besitzt eine keltische Amts- und Staatssprache, das Gälische, das schon halb vergessen, zu neuem Leben erweckt worden ist, das aber die Schüler nur lernen — um wieder nur Englisch zu sprechen. Eltern, die sich verpflichten, mit den Kindern nur Gälisch zu sprechen, bekommen Prämien. Irland hat nie einen Angriffskrieg geführt, sondern einen 700jährigen Freiheitskampf. Es hat weder Aar noch Leu im Wappen, sondern eine goldene Harfe. Die Rom-Treue trug den Iren den Haß Heinrichs VIII. ein. Mit juristischen Kniffen wurde das Land um Ulster der britischen Krone übertragen und die Iren im eigenen Land zu Knechten fremder Herren gemacht. Im 19. Jahrhundert verhungerten Hunderttausende, ebenso viele wanderten nach den Vereinigten Staaten aus, wo heute noch das antibritische Ressentiment der MacCarthy glüht. 1845 zählte die Insel acht, jetzt nur drei Millionen Einwohner. Während des Sezessionskrieges kämpften auf Seite der Nordstaaten fast eine halbe Million Iren. Bis vor einigen Jahren waren die „Cobs“, die gutmütigen, breiten New-Yorker Polizisten, ausschließlich irischer Herkunft, allenthalben stößt man in Amerika auf die O’Kelly, O’Don- nell, MacDonald. Rothaarige, grünäugige Irinnen eroberten Hollywood: Greer Garson, Jeanette MacDonald, Maureen O’Hara. Der St. Patricks Day ist die großartige Demonstration der Verbundenheit mit der alten Heimat, die seit je in den USA starken moralischen und finanziellen Rückhalt besitzt. Immer wieder kommen Amerikaner zur Erholung und Ahnenforschung nach Irland. Ein Johann O’Brien, Graf auf Thomond, diente im altösterreichischen Heer, verhinderte 1809 den Donauübergang der Franzosen und bekam den Theresienorden.

England verübte Grausamkeiten in Irland, man kann das bei Jonathan Swift nachlesen. Ein Dichter nannte Irland die „Niobe“ unter den Völkern. Die Iren fochten durch Jahrhunderte mit einem nur mehr mit dem der Polen vergleichbaren Heroismus um ihr Volkstum, ihre Religion, um ihr nacktes Leben. Auch England erlebte bittere Stunden, wie beim Osteraufstand 1916, mit einem Feind im Rücken. Irland verweigerte im zweiten Weltkrieg die Anlage von Flugplätzen. Churchill hat das am 13. Mai 1945 den Iren vorgeworfen: „Ich kann nur beten, daß in den Jahren, die ich nicht mehr erlebe, die Schande vergessen und die Glorie dauern werde." Eamon de Valera, Irlands „grand old man“, Rebell seit früher Jugend und langjähriger Ministerpräsident, blieb die Antwort nicht schuldig. „Churchill ist stolz auf Großbritanniens Alleinstehen. nachdem Frankreich gefallen war. Konnte er in seinem Herzen die Großzügigkeit nicht finden, anzuerkennen, daß es eine kleine Nation gibt, die nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern für Jahrhunderte der Aggression allein gegenüberstand, die Plünderungen, Hungersnöte, Massaker ohne Ende erlitt, die manchmal bewußtlos geschlagen wurde, aber jedesmal nach dem Erwachen, den Kampf wieder aufnahm, eine kleine .Nation, die nie dazu gebracht werden konnte, die Niederlage anzunehmen und nie ihre Seele aufgegeben hat?"

1948 schüttelten sich beide in Straßburg zum erstenmal die Hand, bald darauf empfing Churchill de Valera in Downingstreet zum Essen, man unterhielt sich . . . über das Verhalten der Pferde bei der Attacke von Omdurman.

Lim ein guter Ire zu sein, muß man zuerst ein guter Katholik sein, sagt man heute noch auf der Insel. Katholischsein ist dort kein Lippenbekenntnis, es ist das Staat und Leben umfassende Ordnungsprinzip. Die Geistlichen waren immer im Volk verwurzelte Ratgeber, die in den Jahrhunderten des bitteren und oft verzweifelten Freiheitskampfes die Rolle spielten wie in Oesterreich etwa Marco d’Aviano 1683 und Pater Haspinger 1809. Das Land hat eine auffallend niedere Kriminalstatistik, in der nur Trunkenheit und Raufhandel etwas hervorstechen. In den Städten werden sonntags von morgens 5 bis mittags 12 Uhr ununterbrochen Messen gelesen, die immer überfüllt sind. Oft stehen die Gläubigen Schlange. Beim Vorüber-gehen an einer Kirche schlägt fast jeder Ire ein Kreuz. Beim Läuten der Angelusglocke bleiben viele mitten auf der Straße oder auf dem Feld stehen, um den Angelus mitzubeten. Tischgebet ist die Regel in irischen Häusern. Irland schickte auch immer Priester ins Ausland. Iren waren die Apostel der Festlandsgermanen: Kilian, Kolo- man. Fridolin, Trudpert, Totnan. Sie trugen im Mittelalter das Christentum nach Bayern, Schwaben und in die Alpentäler, zahlreiche Klöster von St. Gallen bis Bobbio sind irische Gründungen. Uebrigens führen alle angelsächsischen Kardinale, nach den Lateinern die stärkste Gruppe im Kardinalskollegium, ihre Abstammung auf Irland zurück.

Die irische Landschaft duldet keine kontinentalen Vergleiche: Dürftige Rasen, weite Weiden, gurgelnde Moore, fischreiche Flüsse, kilometerlange Hecken von Natursteinmauern unterbrochen, graues Gemäuer verfallener Bauernhöfe, Burgen find Herrensitze, oft weit und breit keine Menschenseele. Krähenschwärme durchsetzen den unbeschreiblichen irischen Himmel. Nirgendwo leuchten die Farben so weich, und nirgendwo kann man die Sonnenuntergänge so allein erleben wie auf der grünen Insel. Lieber allem ein Hauch Schwermut. Ein von Neurosen, Atomhysterie verschontes, von vielen Engländern bereits entdecktes Ferienparadies, für jene vor allem, die nicht Luxus, sondern das Uferlose, Schweigende, Einmalige suchen. Die schweren Transatlantikmaschinen donnern zwar heute schon über Irland, westwärts über die Meere, aber noch wohnen Fischer und Bauern in Lehmhütten, hängt der verrußte Teekessel über offenem Herdfeuer, bäckt man Brot selbst, sitzen Frauen am Spinnrocken, tanzt die Jugend zur Flöte und Fiedel, erzählt man uralte Balladen, in denen der Riese Balor geistert, und liebt das Harfenspiel. Eine Kulturtradition, die seit Jahrhunderten ununterbrochen ist. Ein Volk von hohen Qualitäten und nationalen Schwächen: witzig (irische Witze sind unnachahmlich), phantasievoll, gastfreundlich im Ursinn des Wortes, wett- und rauflustig, bescheiden, kinderliebend (fünf Kinder die Regel, zehn nicht die Ausnahme), freiheitsdurstig, dabei von scheuer Zärtlichkeit. Ein Volk, das mitten im zwanzigsten Jahrhundert die Luft freier Armut atmet und seit alters her die lebenskräftigsten Männer, Priester und Dichter in alle Welt schickt: Oscar Wilde, W. B. Yeats, James Joyce, Eugen O’Neill (auch irischer Herkunft) und G. B. Shaw, der 1948 im „News Chronicle“ erklärte: „Ich karin nicht einsehen, daß es eine Sache von großer Bedeutung sein soll, wenn Eire sich von England ganz lossagt. Iren sind in England immer Ausländer gewesen, und auch ich bin nach all diesen Jahren noch immer ein Ausländer. Ich werde immer ein Ausländer sein, da fch einer der wenigen Menschen hier bin, die objektiv denken. Engländer sind der Objektivität nicht fähig. Aber ich will Ihnen einen Artikel für 1000 Pfund schreiben, um die Lage in ihrer richtigen Beleuchtung zu schildern."

Jetzt explodieren wieder Bomben. Aber die nicht rosige Wirtschaftslage zwingt dennoch die beiden Irland zur Zusammenarbeit. Freilich stehen sich Protestanten und Katholiken mit einer für europäische Begriffe schwer verständlichen Fremdheit gegenüber, das wäre an sich nicht so schlimm, aber beide sind leider Iren, und Iren sind unglaubliche Dickschädel. Weitblickende Iren vertrauen einer anderen Taktjk. Nordirlands Katholiken sind geburtenfreudiger als Nordirlands Protestanten. So ändert sich stetig das Mehrheitsverhältnis, und die „uner- lösten“ sechs Grafschaften dürften eines Tages, der noch in der Ferne liegt, dem Freistaat von selbst anheimfallen.

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