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Brüssel zwischen Flamen und Wallonen

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Von allen kriegsbetroffenen Staaten Europas hat sich Belgien, obwohl der Krieg zweimal über das Land hinwegrollte und es einer vierjährigen Besetzung unterwarf, am raschesten erholt.

Trotzdem hat auch Belgien mit der Lösung schwerwiegender Probleme zu kämpfen, die vorwiegend im nationalen Bereich liegen. Es handelt sich hier um die noch immer bestehenden Spannungen zwischen dem wallonischen und dem flämischen Bevölkerungsteil, die sich in drei regionalen Bereichen auswirken: im flämischen, im wallonischen und in der eine besonders geartete Lage zwischen diesen beiden einnehmenden Landeshauptstadt Brüssel.

Man muß zum Verständnis des Problems auf die Entstehung des belgischen Staates im Jahre 1830 zurückgreifen. Seine Loslösung aus dem Königreich der Vereinigten Niederlande erfolgte unter den Einflüssen der Pariser Julirevolution und unter französischer Patronanz. Im neuen Staat Belgien hatte daher das französisch-wallonische Element eine ausgesprochene Vormachtstellung. Der starke kulturelle Rückhalt des Wallonentums an Frankreich wirkte sich ebensosehr zuungunsten der Flamen aus wie das politische Gewicht des großen Nachbarstaates. Die Flamen, die zäh um ihre Rechte kämpften, erlangten allmählich greifbare Erfolge. Gestützt darauf, daß sie die Mehrheit der belgischen Bevölkerung bildeten, gelang es ihnen im Laufe der Zeit, die flämische Gerichts- und Verwaltungssprache für die flämischen Provinzen sowie die Doppelsprachigkeit für alle belgischen Gesetze und Verordnungen zu erkämpfen. Kurz vor dem ersten Weltkrieg begann in flämischen Kreisen der Wunsch nach einer sprachlichen Verwaltungsaufteilung des Landes um sich zu greifen und beherrschte lange Zeit und in starkem Ausmaße die Gemüter. Wenn die Gewinnung der nationalen Freiheiten der Flamen eines Zeitraums von mehreren Generationen bedurfte, so lag dies nicht zum wenigsten an der starken kulturellen Ausstrahlung der französisch denkenden und sprechenden Hauptstadt Brüssel. Eingebettet in flämisches Gebiet übte sie auf die umgebenden ländlichen Kreise Flanderns einen stark entnationalisie- renden Einfluß. Vor allem beklagen sich die Flamen, daß der Sog der anderssprachigen Hauptstadt, angesichts der auch in Belgien herrschenden Landflucht, zahlreiche Flamen in ihren kulturellen Kreis zieht. Die Zentralisierung der . Staatsgeschäfte und vieler Industriezweige in der Kapitale verstärkten die für Flandern nachteiligen Tendenzen.

Im wallonischen Teil Belgiens verlief die Entwicklung gegenläufig. Er hatte, gestützt auf die ausgedehnten Kohlenfelder Wil- loniens, einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Diese Kohlenbezirke gehen aber allmählich der Erschöpfung entgegen. Die reichen limburgischen —• also flämischen — Kohlenzechen, modernst eingerichtet, arbeiten nun rentabler und das wirtschaftliche Schwergewicht verschiebt sich seit 25 Jahren nach dem flämischen Norden. Die Wirtschaftskraft des aufstrebenden Hafens von Antwerpen, eines der größten Um- schkgzentren Europas, verstärkte das flämische Wirtschaftspotential. Dieses Zurücktreten des französisch sprechenden Landesteils, das sich auch auf politischem Gebiet auswirkte, führte zu einer Unzufriedenheit, die in der Begründung eines „Mouvement Wallon“ und 1945 in zahlreichen Beschwerden im belgischen Parlament Ausdruck fand.

Die Beunruhigung der Wallonen geht aber auf noch tiefergehende, demographische Ursachen zurück. Das Kräfteverhältnis der beiden Volksgruppen ist in einer steten, für sie nachteiligen Verschiebung begriffen. Hierüber liegen sehr eindrucksvolle Zahlen vor:

Diese Ziffern zeigen die klare Auftriebstendenz des flämischen Bevölkerungsteils. Wallonien hat die niedrigste Geburtenziffer Westeuropas — Frankreich mit 14.6 Prozent inbegriffen — und die höchste prozentuelle Zahl von Sterbefällen, Frankreich mit 15,3 Prozent ausgenommen. Alljährlich nimmt so die wallonische Bevölkerung um

20.0 Seelen ab, während die flämische um

10.0 wächst. Soweit auf Grund der jetzigen Umstände eine Vorhersage möglich ist, wird daher die Bevölkerungsstatistik Belgiens im Jahre 1980 nachstehendes Bild zeigen:

Flamen Wallonen Brüssel Insgesamt 4,575.500 2,130.000 748.400 7,453.900

Dieses sich heute bereits abzeichnende Gefälle hat den flämischen Bevölkerungsteil beruhigt. Man hört hier nicht mehr, wie vor 20 Jahren, den Ruf nach politischer Selbständigkeit, Föderalismus oder Separation. Die gleiche Perspektive hat jedoch den wallonischen Nationalismus und damit föderalistische und separatistische Tendenzen dieser Seite geweckt. Das Zusammentreffen dieser Wirkungen ergibt das seltsame Bild, daß gleichzeitig noch Flamländer wegen der noch nicht erlangten völligen Rechtsgleichheit Klage führen, während die Wallonen ihrer Befürchtung vor einer Art flämischem Imperialismus Ausdruck geben. Das „Mouvement Wallon“, das in Waterloo zu tagen pflegt, verkündete sogar mehr oder minder ernstgemeinte Wünsche nach einem Anschluß Walloniens an Frankreich. Im Jahre 1947 unterbreitete „Le Conseil Economique Wallon“ der belgischen Regierung einen Bericht, der alle Ursachen der wallonischen Unzufriedenheit aufzählte. Flandern zeigte für die wirtschaftlichen Sorgen Walloniens i weitgehendes Verständnis, indem es für das Kompensationsgesetz stimmte, nach dem die mit Gewinn arbeitenden flämischen Kohlengruben einen Teil ihrer Überschüsse zur Unterstützung der unrentabel gewordenen wallonischen Kohlenzechen abtreten sollen. Im Jahre 1947 stellten auch einige wallonische Abgeordnete den Antrag auf eine Verfassungsänderung, die auf eine paritätische Vertretung von Wallonen und Flamen hinausgelaufen wäre und sonach den Flamen den Vorteil ihrer gesünderen Volksund Familienstruktur entrissen hätte, doch wurde dieser Vorschlag abgelehnt.

Was kann man aus diesen Tatsachen schließen? Was entzweit und was eint Flamen und Wallonen und wie ließe sich das Einvernehmen und die friedliche Zusammenarbeit zwischen ihnen verwirklichen? Haben beide Volksgruppen getrennte Interessen und wie stimmen diese Interessen mit jenen der belgischen Volksgemeinschaft überein?

Wenn sich auch das flämisch-wallonische Einvernehmen in den letzten Jahren nicht gebessert hat, so besteht doch keine wesentliche Gefahr für einen Bruch in der staatlichen Gemeinschaft. Man darf die Bedeutung einer gewissen wirtschaftlichen Eifersucht, einer bestimmten Spannung in den kulturellen Beziehungen und gelegentliche überscharfe Äußerungen extremnationaler Elemente nicht überschätzen. Die politischen Parteien des Landes sind nach weltanschaulichen Programmen unterschieden und es besteht nicht die Gefahr, daß eines Tages etwa ein geschlossener flämischer Block einem Wallonischen gegenübersteht. So beherrscht ‘ der Gegensatz zwischen „rechts“ und „links“ die politische Konstellation ohne Rücksicht auf nationale Verschiedenheiten innerhalb dieser Gruppen.

Seit Jahrhunderten bewohnen beide Völker gemeinsam diesen Raum und die Vergangenheit lehrt, daß eine freundschaftliche und fruchtbare Zusammenarbeit möglich ist. Wallonien lehnt sich an Frankreich an und richtet sich auch kulturell nach dem Süden, während Flandern sich auf seinen Nachbarn im Norden stützt und innerhalb des germanischen Kulturkreises lebt. Diese verschiedenartige Geistesorientierung aber kann die Quelle geistigen Reichtums werden, weil die Berührung und Angleichang zweier Weltkulturen dadurch gefördert wird, was in nicht geringem Maße dazu beiträgt, die geistige Spannweite eines kleinen Volkes zu erweitern und dieses in gesundem Gleichgewicht zu erhalten.

Der Schlußstein der nationalen belgischen Einheit ist das gemeinsame Fürstenhaus. Nun ist wohl das überwiegend katholische Flandern königstreu gesinnt, während die gegnerischen Stimmen vorwiegend aus dem mehr sozialistischen Wallonien kommen. Die Königsfrage ist aber hauptsächlich Gefühlssache und es ist Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit des Volkes selbst zu König Leopold III. hält.

Wirtschaftlich sind Flandern und Wallonien auf einander angewiesen, da sie nur vereint sine lebensfähige Gemeinschaft bilden.

Eine einträchtig Zusammenarbeit der drei Staaten Belgien, Luxemburg und Niederlande im Beneluxbündnis wird sie zu einer respektablen Macht zusammenschließen, die für das europäische Gleichgewicht von Bedeutung sein kann.

Bei der Entfaltung und der Pflege des Einvernehmens zwischen Wallonen und Flamen kann die Hauptstadt Brüssel eine bedeutende Rolle spielen, wenn sie die völkischen Traditionen beider achtet und auch dem Geiste nach zweisprachig wird. Für die gesunde flämische Kultur ist es nicht hinderlich, wenn es in Flandern Leute französischer Muttersprache gibt, wenn sie die flämischen Traditionen bejahen. Die Geschichte von drei Jahrhunderten hat bewiesen, daß dies möglich ist. Wird Brüssel so in Wahrheit „zweisprachig“, so kann es ein festes Bindeglied zwischen Wallonen und Flamen werden, eine Plattform zum Austausche ihrer geistigen Reichtümer und der Schätze ihrer beiderseitigen Wissenschaft. Dieses Brüssel, als wirkliche nationale Hauptstadt, wird der bindende Zement der nationalen Einheit und Größe Belgiens sein.

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