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CARMEN – CAPRICCIO

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Die Merkwürdigkeiten beginnen mit der Geburt und dem Namen des „Carmen“-Komponisten. Als dieser nämlich am 25. Oktober 1838 in Paris zur Welt kam, erhielt er den kriegerischen Namen Alexandre-Cesar-Leopold. Aber als Bizet — erst anderthalb Jahre später — in der Kirche Notre-Dame de Lorette getauft wurde, nannte man ihn kurz und bescheiden Georges. Der Familienname der Mutter lautete Delsarte. Man findet diesen Namen auch als Delzarte und del Sarte. Wahrscheinlich stammt sie von einem Spanier, der im 16. Jahrhundert mit der Invasionsarmee Karls V. in das Gebiet der heutigen Niederlande gekommen war und sich später im Departement du Nord niederließ. Fast wäre Bizet, den Nietzsche später gegen Wagner ausspielte, wegen dieses Vorfahren — in dem man einen spanischen Arzt jüdischer Abstammung vermutete — unter die NS-Rassenbestim- mungen gefallen. Und wie war das mit seiner verspäteten Taufe? Und nahm Bizet nicht auch eine Jüdin zur Frau, nämlich die Tochter seines ersten Lehrers, Fromental Halėvy, die Nichte seines späteren Librettisten Ludovic? — Aber der von Nietzsche als Gegenspieler Wagners auf den Schild gehobene Bizet war ein großer Verehrer des Wagnersehen Werkes und wurde nach seinen ersten Opern wiederholt des Wagnerismus verdächtigt. Nach der Premiere der „Perlenfischer“ bezichtigte man Bizet der harmonischen Biz- zarerie und Originalitätssucht sowie der Nachahmung Fėlicien Davids, Verdis und vor allem Wagners. Auch zur Zeit der Kommune und des heftigsten französischen Nationalismus bekannte sich Bizet als Bewunderer Wagners — und erhielt dafür nach der Aufführung von „Djamileh“ und der „Arlesienne“ die Quittung: man sagte ihm „ungezügelten Wagnerismus“ und „Wagnersche Kakophonien“ nach.

Seine Stoffe freilich suchte Bizet nicht im nebligen Norden und in der Welt des Mythus. Den für „Carmen“ fand er bei Prosper Mėrimėe, dem späten Romantiker und gelehrten Archäologen, dem Übersetzer aus drei Sprachen, Höfling, Psychologen und Helden einiger Liebesromane. Auf einer Spanienreise im Jahne 1830 erzählte ihm die Gräfin Manuela de Montijo von Land und Leuten, unter anderem von einer Zigarettenarbeiterin aus Sevilla und von einem Soldaten, der seine Geliebte aus Eifersucht getötet hatte und dann unter die Räuber gegangen war. 15 Jahre später gestaltete Mėrimėe diese beiden Stoffe in einer Novelle und schuf die weltberühmte Gestalt der Carmen mit ihrem typischen Benehmen von Frauen und Katzen, die — nach einem Wort Mėrimėes — „nicht kommen, wenn man sie ruft, die aber kommen, wenn man es nicht tut“. So populär wurde diese von Mėrimėe geschaffene Figur, daß noch zu Beginn unseres Jahrhunderts eine Zigeunerin auftrat und sich für die Urenkelin jener Carmen ausgab, die mit ihrem richtigen Namen angeblich Ar Mintz geheißen habe — was wie „Carmen“ klingt.

Das realistische Sujet war von allem Anfang an heftig umstritten und rief moralische Kritiker und literarische Bewunderer auf den Plan. Zu den letzteren gehörte Sainte- Beuve, der die Geschichte als „exquisite et dure“ bezeichnete, ferner Montherlant und Galsworthy; für die ersteren sprach Leo Tolstoj und eine Reihe von Kritikern in den französischen Zeitungen. Die Librettisten Meilhac und Halėvy haben alle wesentlichen Motive und Charaktere der Mėrimėeschen Novelle beibehalten, schufen aber für Carmen eine Kontrastfigur, die rührend-brave Micaela, und zogen mehrere Liebhaber Carmens in einer Person zusammen, dem Toreador Escamillo, der in der Novelle als Picador Lucas, also als Mann von geringerem Rang, erscheint. Zu weiteren Konzessionenwar Bizet nicht bereit. Daß diese Micaela nicht nach seinem Geschmack war, sieht und hört man daran, daß er für ihre Hauptarie keine neue Melodie erfand, sondern eine Arie aus der frühen Oper „Griseldis“ herübemahm. Mit dem Torero- lied, dem Lieblingsstück aller Kleinbürger und Salonkapellen, hat es eine noch schlimmere Bewandtnis. Als man Bizet darauf aufmerksam machte, daß seiner Oper eigentlich der „Schlager“ fehle, soll er gesagt haben: „Ils veulent de l’ordure — eh bien ils l’auront“ (ein Ausspruch, der sich nicht zum Übersetzen eignet). Und nachdem er das berüchtigte Auftrittslied geschrieben hatte und dieses von Ludovic Halėvymit Begeisterung und dem Lob: dies sei genau das, was noch gefehlt habe, aufgenommen wurde, soll Bizet nur gesagt haben: „Tant pis“ — um so schlimmer. Es ist die Ironie des Schicksals dieser Oper, daß gerade diese beiden Nummern Publikumsfavoriten geworden sind.

Als Bizet in den Jahren 1873 bis 1875 die „Carmen“-Musik schuf (die Niederschrift der 1200 Seiten umfassenden Partitur erfolgte in der unglaublich kurzen Zeit von zwei Monaten!), ging die zweite Welle des „Hispanismo“ über Europa, bezeugt durch „spanische“1 Werke von Glinka, Rimsky-Korssakow, Sarasate, Lalo, Chabrier u. a. (Der ersten Welle verdanken wir Mozarts „Figaro“, den „Barbier von Sevilla“ von Rossini und Beethovens „Fidelio“, die dritte „spanische“ Welle trägt dann Werke von Debussy, Ravel, de Falla, Albeniz, Richard Strauss, Hugo Wolf u. a.) Man sah in Spanien ein Land der Größe, mit einem strengen Stil, einem Leben voller Unerbittlichkeit. Mit seiner Landschaft, seiner Sonne und seinen Farben übte es exotischen Reiz, wurde zum südlichen Trauimland. Aber Bizet fühlte, als er die „Carmen“-Musik schrieb, kein Bedürfnis, dorthin zu reisen. „Cela me gėnerait“ — dies würde mich stören —, sagte er als echter Künstler und Pariser. Ähnlich verhält es sich mit der spanischen Musik der Oper „Carmen“. Als Volksmelodien sind nur drei Nummern bezeugt (wie übrigens in Strawinskys „urrussischem“ Petruschka): Carmens erstes Lied, dessen Text eine Zauberformel enthält, die sich in der Zigeunernovelle Puschkins findet, ein Polo, der das Schicksalsmotiv enthält und aus der Sammlung „Echos d’Espagne“ stammt, dort allerdings als Komposition Manuel Garcias vermerkt ist, schließlich die Habanera aus der Sammlung „Fleurs d’Espagne“, aber sie stammt von Yradier, dem Autor von La Paloma, und wahrscheinlich aus Kuba. — Die in der ganzen Welt berühmte spanische Oper „Carmen“ ist übrigens in Spanien gar nicht beliebt. Carmen sei, so meinen die Spanier, weder eine echte Zigeunerin, noch eine Spanierin …

Im Jänner des Jahres 1875 wurde die Partitur der Oper abgeschlossen und der Opera comique für 25.000 Francs verkauft, das heißt, diese Bühne erwarb die Uraufführungsrechte. „Carmen“ war aber keineswegs als „komische“ Oper in unserem Sinn konzipiert, sondern enthielt lediglich, im Unterschied zur „großen Oper“ mehrere gesprochene Dialoge. Diesie konnte man französischen Sängern, die auch sprechen gelernt haben, ohne weiteres zumuten, nicht aber den Sängern der ausländischen Bühnen, an denen Bizet seine neue Oper anzubringen hoffte. Daher unterschrieb er noch zu Lebzeiten einen Vertrag, die gesprochenen Dialoge in Rezita- tive umzuwandeln. — Nach Bizets Tod hat dann sein nächster Freund, Ernest Guiraud, diese Arbeit pietätvoll und geschickt durchgeführt. In Wien war lange Zeit eine „gemischte Fassung“ mit teils gesprochenen, teils gesungenen Zwischentexten in Gebrauch, bis dann Gustav Mahler 1899 die gesprochenen Stellen eliminierte. Offensichtlich eine Fehlentscheidung, denn die echte „Carmen“ ist das nicht! Vielleicht ließ er sich von dem Gedanken leiten, daß Bizet sich, von Akt zu Akt, immer mehr dem Typus der Grande Opera näherte: im 1. Akt gibt es in der Originalpartitur zehn Unterbrechungen der Musik durch Prosa, im 2. Akt sechs, im 3. Akt vier — und im letzten Akt keine mehr.

Am Morgen des 3. März wurde Bizet zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Abends fand die Premiere statt. Die üblichen Schwierigkeiten waren vorausgegangen: das Orchester hatte die Partitur für unspielbar erklärt, und der Chorwar erbittert, weil er nicht nur singen, sondern auch agieren sollte. — War die Premiere von „Carmen“ nun ein Erfolg oder ein Durchfall? Ist Bizet tatsächlich an gebrochenem Herzen über die schlechte Aufnahme seines Werkes gestorben — oder war er das Opfer der durch die angestrengte Arbeit hervorgerufenen Übermüdung und seines alten Leidens, einer Halskrankheit? — Bizet starb, auf den Tag genau, drei Monate nach der Premiere. Man kann über all das kein klares Bild bekommen, denn die Zeugnisse so Prominenter, wie des Textdichters Ludovic Halėvy, des Freundes Guiraud, des Komponisten d'Indy und der Sängerin der Titelpartie, Celeste Galli-Mariė, widersprechen einander. Die Aufnahme durch das Publikum scheint zunächst kühl gewesen zu sein, aber dann wurde das Werk im Laufe eines Jahres 45mal gegeben — und verschwand dann bis zum Jahre 1883 aus Frankreich —, auch dies wiederum ein Kuriosum der Operngeschichte.

Die erste Carmen wurde freilich mit der Rolle berühmt.

Sie reiste damit und erhielt sagenhafte Honorare. Im November 1881 spielte sie die Carmen in Genua. Unter dem Publikum jener Aufführung befand sich auch der aus Sachsen gebürtige Basler Universtiätsprofessor Friedrich Nietzsche, der seinem Freund Peter Gast begeistert schrieb: „Vorgestern hörte ich eine Oper ,Carmen1 von einem Franzosen Bizet und war erschüttert. So stark, so leidenschaftlich, so anmutig und so südlich … Ich bin nahe daran, zu denken, ,Carmen1 sei die beste Oper, die es gibt; und solange wir leben, wird sie in allen Repertoiren Europas sein.“ — Später, in seiner Streitschrift „Der Fall Wagner“ von 1888, hat Nietzsche seine Vorliebe für dieses Werk ausführlich begründet. „Ich hörte gestern — werden Sie es glauben? — zum 20. Mal Bizets Meisterstück … Wie ein solches Werk vervollkommnet! Darf ich sagen, daß Bizets Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte? Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht! ,Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen1, erster Satz meiner Ästhetik. Diese Musik ist reich. Sie ist präzis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur unendlichen Melodie. Sie hat von Mėrimėe noch die Logik der Passion, die kürzeste Linie, die harte Notwendigkeit; sie hat vor allem, was zur heißen Zone gehört, die Trockenheit der Luft, die Jimpidezza1. Hier ist in jedem Betracht das Klima verändert“ — im Unterscheid zum feuchten Norden, zum „Wasserdampf des Wagnerschen Ideals“.

Auch unter den Musikern gab es viele Bewunderer und begeisterte Lobredner der Oper „Carmen“. Nicht nur Brahms, sondern auch Wagner, gegen den Nietzsche so eloquent die „Carmen“-M’Usik ausgespielt hatte, schätzte das Meisterwerk Bizets, ebenso Gounod und Hugo Wolf, Tschaikowsky und Busoni, Debussy und Saint-Saens, Puc eini und Strawinsky. Wie lebendig der Stoff auch heute noch ist, bezeugt eine lange Reihe von Bearbeitungen und Neuschöpfungen: von Sil Vara stammt ein Theaterstück „Die Gitana“ von 1916, am Moskauer Künstlertheater wurde „Carmencita und die Soldaten“ gespielt, 1935 gab es im französischen Rundfunk ein Hörspiel „La vraie Carmen“. Auch der Film bemächtigte sich der spanischen Zigeunerin. Für einen französischen Streifen schrieb der spanische Komponist Ernesto Halffiter eine neue „Oarmen“-Musik, die er dann später in seiner (unseres Wissens unvollendet gebliebenen) Oper „La Muerte de Carmen“ Verwendete. Otto Preminger transponierte in seinem Film „Carmen Jones“ die Handlung in das Milieu nordamerikanischer Neger, Soldaten, Arbeiterinnen und Straßenmädchen. Auch die neue „Carmen“ der Salzburger Festspiele ist eine Breitwandproduktion. — Das Wort Nietzsches vom mediterranen Charakter dieser Musik scheinen Regisseur und Bühnenbildner zu sehr au piedde la lettre genommen haben, denn Sevilla liegt — auf der Salzburger Festspielbühne — am Meer, und geschmuggelt wird am Strand. Dies ist die vorläufig letzte Metamorphose der „unsterblichen“ Carmen.

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