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Cavalcata Sarda

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VOM MEER UMSPÜLT und von den Küsten Europas und Afrikas her immer wieder bedroht ist das Leben der Bewohner Sardiniens, seit sie ihre Selbständigkeit gegen die jeweiligen Eroberer zu behaupten versuchten.

Folgte doch der Periode einer hochentwickelten Kultur (seit der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends), nach der Vertreibung der Phönizier durch die Karthager um 600 v. Chr., eine Periode schwerster Kämpfe der Inselbevölkerung gegen diese und die späteren Eroberer, Römer und Vandalen, die erst im Jahre 534 mit der Eingliederung Sardiniens in die oströmische Diözese Afrika durch die Byzantiner ein Ende fanden. Vom 8. Jahrhundert an beherrschten zuerst die Sarazenen und, nach einer bis Anfang des 11. Jahrhunderts währenden Epoche der Selbständigkeit, die Araber die Insel, die von da an ein Spielball der Kämpfe zwischen den Städten Pisa und Genua, den Päpsten und den Staufenkadsern werden sollte. Ende des 13. Jahrhunderts schalteten sich die Könige des Hauses Arago-nien in diese Auseinandersetzungen ein. Seit 1388 wurde die sardische Insel vom Haus Aragonien verwaltet; erst 1478 kapitulierte die Markgrafschaft Oristano. Nach der aragonischen kam mit dem Utrechter Frieden die österreichische Herrschaft, die sieben Jahre später Sardinien im Tauschweg gegen Sizilien dem Hause Savoyen übergab. So wurde die „isola de'Sardi“ mit Savoyen und Piemont, Aosta, Mont-ferrat, Genua und Nizza zur Sardinischen Monarchie unter König Viktor Emanuel vereinigt; dieser hat nach der Einigung Italiens am 14. März 1861 den Titel König von Italien angenommen. Im derzeitigen italienischen Staaltsverband wurde der Insel die regionale Selbständigkeit gewährt, die sie seit mehr als 2000 Jahren in langen und harten Kämpfen zeitweise errungen und immer wieder verloren hatte.

SOLCHE FREIHEIT FÜHRT zur Freude — einer Freude, die sich dort, wo sie einer so tief verwurzelten Anlage entspringt, zu einer Erhebung über den Alltag wird.

„Das Fest dauerte neun Tage, deren drei letzte einen andauernden ,ballo tondo' darstellten, der von ,suoni e canti' begleitet wurde.“ — Dieses Fest, nicht etwa ein fröhliches Winzerfest, sondern zu Ehren Unserer Lieben Frau gefeiert, beschreibt Grazia Deledda, gebürtig aus Nuoro im Herzen Sardiniens und Trägerin des Nobelpreises 1927, in ihrem Roman „Canne al vento“.

Was ist nun dieser „ballo tondo“, den die Dichterin erwähnt und der ganze drei Tage lang mit „Sang und Klang“ getanzt wurde? Er gehört — als Tanz im Kreise um einen Mittelpunkt — zu den ältesten Tanzformen der Welt und entspringt einem Urbe-wußtsein des Menschen, das im Ringelreihen der Kinder immer wieder seinen spontanen und elementaren Ausdruck findet.

In Sardinien hat sich dieser Rundtanz zu einer Hochform entwickelt, die in der Echtheit und Schönheit der reichen Konfiguration nur dort zu finden ist. Die Tanzenden bilden um den in der Mitte auf seiner Ziehharmonika spielenden Musikanten einen Kreis, der sich verengt, um sich gleich einer Blume zu öffnen und durch kleine und sehr präzise Sprünge ein rhythmisches Wogen ergibt, daß trotz aller Mannigfaltigkeit und Bewegtheit die Grundform des Kreises jedoch niemals verläßt, bis zu dem Augenblick, den die Tänzer wählen, um ihren Abtanz zu beginnen.

DIESER BEREITS IM MITTELALTER beliebte gesellige Tanz wurde schon damals bei allen nur möglichen Anlässen von allen getanzt, besonders bei den zahlreichen Volksfesten. Diese Volksfeste standen und stehen auch heute in engem Zusammenhang mit den großen und zahlreichen kleineren Festen des Kirchenjahres, deren eindrucksvollste und besonders schön gestaltete folgende sind: das Fest des heiligen Ephysius, das vier Tage lan in der Hauptstadt Cagliari, nämlich vom 1. bis 4. Mai, gefeiert wird, das Fest des heiligsten Erlösers am 29. August in Nuoro, dem Geburtsort Grazia Deleddas und des Dichters Sebastiano Satta, und die „Prozession der Kerzenieuchter“, die zur Vigil von Maria Himmelfahrt in Sas-sari, der zweitgrößten Stadt der Insel, abgehalten wird.

SASSARI ZIEHT AM FEST CHRISTI HIMMELFAHRT eine unübersehbare Menge von Menschen aus allen Teilen von Sardinien in seinen Stadtbereich, um dort ein Fest zu feiern, das zum Unterschied von allen anderen Festen einen eigenen und einzigartigen Charakter zeigt: die „Cavalcata Sarda“, das große Fest der Reiter, der Tänzer und der Sänger und ihrer bodenständigen Trachten.

Es ist das jüngste aller sardischen Feste, dem die Kontinuität, in welcher sich die anderen Feste entwik-kelt haben, fehlt, das jedoch bald zum zwanzigsten Male eine Tradition Wiederaufleben läßt, die aus der Zeit der spanischen Vizekönige stammt. Aus einem höfischen Prunkaufzug zu Ehren der Regenten und deren Gäste ist es auf breitester Basis zu einem Fest des Volkes geworden, das, auf rein weltlicher Grundlage aufgebaut,i keiner Weise mit kultischen Handlungen zusammenhängt und dadurch einen besonderen Platz im Rahmen der volkstümlichen Feste einnimmt. Denn volkstümliche Feste sind einem religiösen Urgrund entwachsen, der wohl zuweilen nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber immer vorhanden ist. . Hier ist es ein Festzug, veranstaltet, um hohe Gäste zu ehren und ihnen einen Überblick über das Schönste und Wertvollste zu bieten, was die Insel besitzt. Dieser „Überblick“ bildet den Kern des festlichen Aufzugs aus dem die „Cavalcata Sarda“ geschaffen wurde. Dieser „Kern“ ist in unseren Tagen derselbe wie zur Zeit der aragonischen Herrscher und besteht aus dem kostbarsten Besitz der Sarden: aus ihren herrlichen Pferden.

War es einst das Defilee eines „cor-teo reale“, das die aus Afrika und Spanien importierten Araber und Andalusder mit Noblesse über die sardische Erde tänzeln ließ, so sind es heute deren Nachfahren, Ergebnisse langjähriger Züchtung und Kreuzung mit anderen, besonders irländischen Rassen. Mehr als ein halbes Tausend werden als Träger der in kräftigem Rot leuchtenden mittelalterlichen Miliz von Cagliari, der in den napoleonischen Uniformen gekleideten Carabinieri, der in den Befreiungskämpfen durch ihren Mut berühmt gewordenen, einherstür-menden „Cavalieri di Sedilo“ und der tapferen Reiter von Fonni vorgeführt.

Reizvoll wirken Brautpaare, die auf einem Pferd fröhlich an den Tribünen vorbeireiten; dies wird von vielen Kindern, paarweise auf dem Rücken eines Esels reitend, mit Eifer und großem Geschick nachgeahmt. Ein hübsches Bild bieten aber auch die im Herrensitz allein reitenden Frauen, deren überaus weite Röcke die Kruppe des Pferdes vollständig bedecken.

ES SIND ÜBER 3000 MENSCHEN, die in den ungemein reichen und schönen Trachten ihres jeweiligen Heimatortes reiten, fahren oder in Gruppen schreiten. Diese Trachten sind untereinander völlig verschieden und oft mit Gold- und Silberschmuck reich bestickt und behängt.

Nicht in allen Familien waren solche Trachten erhalten; da wurden dann nach alten.Bildern und Stichen stilechte Kopien angefertigt, wie denn auch die autochthonen alten Modelle geschont werden müssen, um erhalten zu bleiben. So werden ständig nach echten Stücken neue für den Gebrauch an hohen Festen angefertigt.

Inmitten der Gruppen von Männern, Frauen und Kindern, die am Abend auf dem großen Stadtplatz von Sassari ihre Tänze und Gesänge vorführen, erscheinen plötzlich über und über mit Blumen geschmückte, aus bemaltem Holz angefertigte zeltartige Wagen, gezogen von Ochsen, die ein reiches Blumendekor auf ihren Stirnen, Hörnern und ihrem kunstvoll gearbeiteten Geschirr tragen. Es sind die „träkkas“, und auf ihnen sitzen dicht gedrängt junge Burschen und Mädchen, die das „trallallalera“ (ein Typus des „mu-tettu sardo“) singen.

Barfüßige Fischer aus Cabras, ihre Netze hinter sich herziehend, singen und tanzen zu den süßen Tönen der „launeddas“, der dreifachen Flöte aus archaischer Zeit. Einen noch nicht restlos geklärten Karnevalspuk verkörpern die aus ältester Zeit stammenden „mammuttones“, Holzmasken tragende, unheimliche Gesellen, deren zottige Felle mit großen kuhglockenartigen Schellen benäht sind und die von lassoschwingenden, rotbefrackten „issokkadores“ zu einem ebenso charakteristischen wie schaurigen Sprung-Schritt-Rhythmus angetrieben werden.

ERHALTEN KOSTBAREN VOLKSGUTES ist der Leitgedanke, der das Ente Provinciale peril Turismo von Sassari bewogen hat, weder Mühe noch Arbeit zu scheuen und die beträchtlichen Kosten aufzubringen, um dieses Fest der Reiter, Tänzer und Sänger alljährlich durchführen zu können, das nicht nur einen Spiegel der noch nicht völlig ergründeten Volkskunst darstellt.

DER SARDE WEISS, was die Natur ihm schenkt und was ihm nicht genommen werden darf, und er weiß auch, was er sich von der Technik und dem Mechanismus der modernen Zivilisation nehmen kann und soll, ohne dadurch Schaden zu erleiden. Er liebt sein Land und so seien Dantes Worte: „... e a dir di Sardigna, le lingue lor non si sen-tono stanche“, freundlicher, als er selbst es gemeint hat, gedeutet: „Von Sardinien zu sprechen, ermüdet ihre Zungen nie.“

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