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Churchills Privatleben

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CHURCHILL — Der Kampf ums Uberleben IM0/IM5. Ana dem Tagebuch eine Lelbarites Lord M o r a n. Aus dem Englischen von Karl Beriieh. Verlag Droemer-Knaur. 804 Selten, Leinen. DM 34.-.

Dieses Werk erregte bereite als Vorabdruck in der WochentzeitJung „Sumiday Times“ in England sehr großes Aufsehen. Wer kennt die Zahl der Bücher, die bereits über Ohurchill geschrieben wurden, der Memoirenschreiber, die versucht haben, sich mit der Persönlichkeit des großen Kollegen und Zeitgenossen auseinanderzusetzen? Und während die „offizielle“ vom Sohn Randoüph Churchill verfaßte ausführliche Biographie erst ihrer Vollendung entgegensieht, darf man ruhig annehmen, daß die Ohurchill-Literatur eines Tages etwa der Napoleon-Literatur an Umfang gleichkommen wird.

Im vorigen Jahr war etwas Erstaunliches geschehen: In einem Land, wo das Recht auf Schutz der Intimsphäre immer noch zumindest anerkannt wird, wo die British Medice! Association oft mit ausgesprochener Härte die Schweigepflicht der Ärzte fordert, hatte der vertraute Freund und Leibarzt eines Staatsmannes dessen peinliche kleine Geheimnisse ausgeplappert, um seine eigene Eitelkeit zu befriedigen. Zwar wollte die Familie Churchill die Herausgabe der Memoiren des Lord Moran keinesfalls verhindern, aber sie verlangte Streichungen. Man gewann nicht den Eindruck, daß sie alle Passagen streichen wollte, die dem Ansehen des großen Mannes abträglich wären, sie hätten nur jene entfernt, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Die Tatsache, daß das Manuskript Churchills Witwe (Lady Spencer-Churchill erfreut sich in England großer Beliebtheit) nicht einmal vorgelegt worden war, erragte allgemeines Mißfallen. Die ehrwürdige „B. M. A.“ überlegte, ob sie ihrem prominenten Mitglied eine Rüge erteilen sollte: tat sie es schließlich so geschah es inoffiziell. Natürlich beiharrte Lord Moran auf seinem Standpunkt, daß Winston Churchill kein Patient gewesen war wie jeder andere; Aufzeichnungen über den genauen Gesundheitszustand eines für die Geschichte so eminent wichtigen Mannes wie Churchill besäßen, behauptete Moran, historischen Wert. Und mit der Veröffentlichung könne man nicht warten, bis alle einschlägigen Studien abgeschlossen seien. Hier hat Moran nicht ganz recht: Sehr viele Dokumente über den zweiten Weltkrieg sind den Historikern noch nicht zugänglich. Außerdem wundert man sich, wenn ein Arzt und Freund nicht zu wissen scheint, welcher Verstoß gegen die guten Sitten begangen wird, wenn Worte, die in Augenblicken körperlicher Schwäche und nervlicher Erschöpfung gesprochen wurden, so bald nach dem Tod des Sprechers von dessen Witwe und Kindern in der Sonntagszeitung gelesen werden können. Anderseits muß doch gesagt werden, daß gerade diese Indiskretionen es sind, die dieses Werk mitunter zu dem machen, was es ist — eines der faszinierendsten und wertvollsten Bucher über den zweiten Weltkrieg und die ihm

darauffolgenden Jahre, die bisher geschrieben worden sind. Churchill war ein Genie vom Niveau eines Napoleon, eines Julius Cäsar, eines Prinz Eugen. Er besaß Intuition und einen von intensivem Studium und langem Nachdenken geschärften, blitzartig funktionierenden Geist, dank derer er die großen Zusammenhänge im Zeitgeschehen und ihre Konsequenzen erfaßte. Doch sah es manchmal fast so aus, als würde er Scheuklappen tragen, was einzig darauf zurückzuführen war, daß er im Gespräch mit anderen einfach nicht zuhörte. Von eisernem Willen, unterlag sein Gemüt zuweilen Schwankungen, die ihn an den Rand der Melancholie brachten, allerdings nur für kurze Zeit, denn er verfügte über die Konstitution eines Kriegsrosses und zwang seine todmüden Generäle, seine hohen Beamten und parlamentarischen Assistenten, Nacht für Nacht bis zu den Morgenstunden bei ihm auszuharren. Und das alles, obwohl er 1940, als er zur Macht kam, bereits 66 Jahre alt war. Zweimal im Laufe des Krieges wurde er ernstlich krank. Schon damals trug der 1940 in seinen Dienst gerufene Lord Moran eine viel schwerere Verantwortung für den ungeduldigen, aufbrausenden Patienten, als die Öffentlichkeit ahnen durfte.

Moran folgte Churchill — sooft er sich von London entfernte — auf Schritt und Tritt, er erlebte unzählige nicht offizielle Beratungen mit, Churchill sprach mit ihm wie zum engsten, fast gleichgestellten Mitarbeiter und — Moran machte Notizen. Seine Beobachtungen waren weit mehr als einfach die eines intelligenten Anwesenden: er sah nicht nur Churchill, sondern auch Stalin, Roosevelt und Harry Hopkins mit den Augen eines hervorragenden

Arztes, Schon früher war es sein Hobby gewesen, Menschen und deren Reaktionen zu studieren, wenn sie unter seelischem Druck stehen und allerlei Eniubehrungen zu erleiden haben. Moran war vielleicht der erste, der im ersten Weltkrieg die Auswirkungen von langarihaltender Lebensgefahr, Kälte, Nässe und latenten oder verdrängten Angstgefühlen bei Menschen an der Front zu studieren begann. Sein Buch „The Amatomy of Courage“ wurde ein Bestseller und führte im zweiten Weltkrieg zu einem unendlich differenzierten Unterscheidungsvermögen von Tapferkeit und Feigheit als im ersten Krieg. Moran. ein sensa/bler, hochgebildeter Mensch, in manchem Churchill ebenbürtig, in vielem sein Gegensatz, war doch nicht ganz imstande, über den eigenen Schatten zu springen, und es ist in der englischen Kritik mit leichter Ironie vermerkt worden, daß Moran an gewissen Eigenschaften des Renaissancemenschen Churchill Anstoß 2u nehmen schien. Er, Moran, konnte Churchills vielseitige Begabungen als Schriftsteller, Maler, Staatsmann, sogar als Maurer ehrlich bewundern. Trotzdem war er in irgendeinem Meinen Winkel seiner puritanischen Seele zugleich neiderfüllt und abgestoßen, wenn er diesen übergewichtigen, luxusliebenden, zigarrenrauchenden Gastronomen betrachtete.

Mit der Beendigung der Feindseligkeiten war Morans Aufgabe nicht beendet. Auf Churchills innenpolitische Niederlage im Jahre 1945 folgte seine letzte Amtszeit als Premierminister, Jahre, in denen der greise Gigant mit heimlicher Trauer und Abscheu den unaufhaltsamen Schwund der geistigen Kräfte bekämpfen und erdulden mußte. Churchill, der“ große Kämpfer, versank schließlich in Senilität: bis zum Schluß von seinem Leibarzt betreut, verehrt, geliebt, und letzten Endes doch ein klein wenig verraten.

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