fahrrad - © Foto: Getty Images / Anadolu Agency / Metin Aktas

Das Fahrrad im Krieg

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Die Rolle der Zivilbevölkerung in Kriegsreportagen hat sich in den letzten 50 Jahren massiv verschoben. Normierten Propagandabildern werden nun differenzierte Geschichten entgegengesetzt.

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Die Rolle der Zivilbevölkerung in Kriegsreportagen hat sich in den letzten 50 Jahren massiv verschoben. Normierten Propagandabildern werden nun differenzierte Geschichten entgegengesetzt.

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Einundzwanzig Jahre jung war der russische Panzersoldat, als er am 28. Februar, wenige Tage nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine, zu seinem Sturmgewehr griff und einen unbewaffneten ukrainischen Zivilisten erschoss, den er am Wegrand erspähte. Der 62-jährige Oleksandr Schelipow war an diesem Tag in der Nähe seines Hauses im Gebiet Sumy, im Nordosten der Ukraine, unterwegs. Er schob sein Fahrrad. Gekämpft wurde an diesem Ort nicht. Knapp drei Monate später, am 23. Mai 2022, wurde der junge russische Soldat, der kurz nach seinen Schüssen gefangen genommen wurde, in einem Gerichtsverfahren in Kiew schuldig gesprochen und (noch nicht rechtskräftig) zu lebenslanger Haft verurteilt. Dieser erste Kriegsverbrecherprozess im Ukraine-Krieg erhielt weltweit ein enormes Medienecho. Fast alle Berichte hoben ein Detail hervor: das Fahrrad, mit dem der ukrainische Zivilist unterwegs war.

Gewaltiges Machtgefälle

Wieso wurde gerade das Fahrrad erwähnt? Weil dieses im Ukraine-Krieg zu einem ikonischen Schlüssel für das gewaltige Machtgefälle zwischen Aggressor und Opfer, zwischen der russischen Brutalität und der gepeinigten ukrainischen Zivilbevölkerung geworden ist. Wir kennen Fahrradbilder aus Butscha, Borodjanka und vielen anderen Orten der Ukraine. Die Bildsprache ist stets die gleiche: hier die russische Zerstörungswut, dort der einfache Bewohner, der inmitten der Verwüstung sein Fahrrad schiebt. Das Fahrrad ist in diesen Bildern mehr als nur ein einfaches Fortbewegungsmittel, es ist zum Sinnbild für die Wehrlosigkeit der zivilen Opfer geworden, die der brutalen Gewalt schutzlos ausgeliefert sind.

Das Fahrrad verweist aber noch auf einen anderen Aspekt des Krieges: die Rolle, die die Zivilbevölkerung in den Kriegsbildern spielt. Und diese Rolle hat sich im letzten halben Jahrhundert massiv verschoben. Zwar ist das Bild des Fahrrads neu in der Bildsprache des Krieges. Aber das Bestreben, die Komplexität der Kämpfe in einfache, leicht verständliche Bilder zu übersetzen, die Freund und Feind, gut und böse auf einen Blick scheiden, reicht, historisch gesehen, viel weiter zurück.

In den Kriegen des 19. Jahrhunderts tauchten Zivilisten noch nicht in der Kriegsfotografie auf, denn ihr Platz lag außerhalb des Schlachtfeldes. Es war ein Kennzeichen des Ersten Weltkrieges, die klare Trennlinie zwischen Soldaten und Zivilisten immer mehr zu verwischen. Der Schriftsteller Karl Kraus hat diese Verschiebung einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen.“ Und dennoch: Zivilisten als leidgeprüfte Individuen begegnen uns (abseits von Flüchtlingsbildern) in den fotografischen Reportagen des Ersten und auch des Zweiten Weltkriegs kaum. Auch Robert Capa, der große Kriegsfotograf des 20. Jahrhunderts, bettete das Schicksal des Einzelnen stets in jenes der Gemeinschaft ein. Die gute kollektive Sache, der Kampf um die Spanische Republik etwa, triumphiert bei ihm über das Individuum. Im Koreakrieg feierte der bekannte amerikanische Kriegsfotograf David Douglas Duncan zuallererst die Heroik der eigenen Soldaten, das Leid der Zivilisten interessierte ihn nicht. Sein Ziel war, schrieb er im Vorwort zu seinem Fotoband „This is War!“ (1951), „etwas von dem sichtbar zu machen, was ein Mann auszuhalten hat, wenn sein Land sich zu Krieg entschließt, ob er nun von der Gerechtigkeit der Sache überzeugt ist oder nicht“

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