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Das Gespenst

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Der Medikamentenkonsum steigt weiterhin an. Die Gesamtausgaben für Medikamente und Heilmittel haben sich seit dem Jahre 1938 nahezu versiebenfacht. Es gibt Krankenkassen, die bereits einen Abgang von hunderten Millionen Schilling aufweisen; die wenigen noch aktiven können sich ausrechnen, wann die letzten Reserven geschwunden sein werden. Die Einführung einer starren Rezeptgebühr, die Fünfschillingmarke auf den Krankenscheinen der Gebietskassen konnten die angespannte Situation in keiner Weise verbessern. Denn es hat sich längst herausgestellt, daß die Patienten, um die Ausgabe hereinzubekommen, sich zumindest ein Päckchen Kopfwehpulver mehr verschreiben lassen.

Außerordentlich aufschlußreich sind nun die Diskussionen der einzelnen Interessengruppen über die Versuche, das drohende Debakel abzuwenden.

Von der pharmazeutischen Industrie und den Apothekern Verständnis für die Eindämmung des Medikamentenverbrauches zu erwarten, ist, menschlich gesehen, wohl zuviel verlangt. An der Sozialverwaltung, die über die Zulassung der Medikamente bei den Kassen zu entscheiden hat, fällt es dem Unvoreingenommenen außerordentlich schwer, zu glauben, alle Entscheidungen und Richtlinien würden nur nach Notwendigkeit und Güte getroffen. Wer die Praxis dieses Verwaltungsapparates kennt, hat in den letzten Jahren immer wieder Maßnahmen auf diesem Gebiet beobachten können, die mehr als unverständlich waren. Dann wiederum kommen die Aerzte, die freimütig erklären, es sei das pausenlose Schreiben von Rezepten keine so harte Mühe, wie etwa die wirkliche Plage, den vielfach neurotisch überlagerten Patienten eine gesunde Lebensführung (ohne Genußmittel, mit richtiger Schlaf- und Arbeitseinteilung und richtiger Ernährung) einreden zu wollen.

Nun, die Kassen selbst, die als einzige wirklich ein Interesse haben müßten, das ungeheure Defizit zu beseitigen — haben sie das Interesse wirklich? Die Krankenkassen genießen Privilegien, die in der Privatindustrie ganz undenkbar wären, und haben außerdem die engsten Querverbindungen politischer und wirtschaftlicher Art zu den vorher aufgezählten Gruppen. Dazu kommt noch ein sehr bemerkenswerter Umstand: Von einer ganz eindeutig bestimmten politischen Richtung wird seit jeher der vollkommen staatliche Gesundheitsdienst angestrebt, in dem eben alle Kosten vom Staate getragen werden. Das kolossale Defizit, die Verwendung von Riesensummen aus anderen Fonds (Renten- und Pensionsfonds) ist eine - Art Druckmittel gegen die konservativ eingestellte Bevölkerungshälfte. Man stellt sich vor, daß ein Abgang von hunderten Millionen eben,eines Tages vom Staate getragen werden müßte, daß der Staat eben gezwungen sein wird, alle Kosten zu übernehmen. Je größer das jetzige Debakel der Kassen, um so näher wähnt man sich der Verstaatlichung.

Ist dies aber wirklich der richtige Weg?

Die Masse der modernen Menschen gleicht einem verwöhnten Kinde. Um sie gewogen zu halten, erfüllen die politischen Machthaber alle Wünsche — geben auch den unsinnigsten Forderungen nach. Welcher Politiker würde es wagen, zur Vernunft, zu persönlichem Verantwortungsgefühl zu mahnen? So wie das verwöhnte Kind letztlich die Eltern, die es verwöhnt haben, angreift und attackiert, so würde auch ein solcher Politiker in kürzester Zeit hinweggefegt werden.

Es ist eine weitestverbreitete Ansicht, der Staat sei so etwas wie ein guter Onkel. Ausgestattet mit einer prallgefüllten Brieftasche, ist er jederzeit in der Lage, alle Löcher im Haushalt auszugleichen und zu stopfen. Die Patentlösung für alle mißlungenen finanziellen Transaktionen, für alle passiven Einrichtungen lautet daher: Verstaatlichung. Daß ein staatlicher Gesundheitsdienst, der Unsummen verschlingt, in einem Weltreich, das überall wirtschaftlich wohlfundiert ist, nicht unbedingt zum Ruin führen muß, ist begreiflich. Zumal ja die Bürger in Großbritannien über ein außergewöhnliches Maß von Selbstdisziplin verfügen. In einem kleinen Staat aber muß die Verschleuderung von Staatsgeldern auf diesem Sektor zui Katastrophe führen. Ein geradezu klassische: Beispiel ereignete sich vor zehn Jahren in Neuseeland. Dort konnten die Sozialisten volle

14 Jahre lang die Macht im Staate unbeschränkt ausüben. Alle staatlichen Institutionen genossen die besten Privilegien und jegliche Unterstützungen, während die privaten Unternehmungen schwersten Einschränkungen unterworfen waren. Trotzdem konnten die gesamte Privatindustrie und alle privaten Einrichtungen wesentlich bessere wirtschaftliche Erfolge buchen. Der staatliche Gesundheitsdienst aber führte neben anderen unerfreulichen Erscheinungen auch zu einem ungeheuren Medikamentenkonsum. Als die sozialen Abgaben insgesamt 40 Prozent des Einkommens ausmachten, wurde die so wirtschaftende Regierung davongejagt, und eine konservative Nachfolgerin hatte die undankbare Aufgabe, die übersteigerten sozialen Mißbräuche wieder auszugleichen.

Die Herzschwäche läßt sich medizinisch an zwei Kardinalsymptomen erkennen: an der nächtlichen Atemnot und an dem übermäßigen Ausscheiden von Harn in der zweiten Hälfte der Nacht. Wenn diese Zeichen vom Arzt erkannt werden, kann man zunächst einmal versuchen, durch Reduktion gewisser körperlicher Anstrengungen, wie beispielsweise Stiegensteigen, dem Herzen unnötige Belastung zu nehmen. Außerdem bewährt sich eine gewisse Gewichtsabnahme, und nicht zuletzt sind diätetische Maßnahmen sehr oft in der Lage, das Herz zu entlasten. Auch ein bis zwei Tage Bettruhe führen oft wieder zu einer Speicherung von Reservekräften, so daß die Anzeichen von Herzschwäche bald wieder verschwinden. Nur dann, wenn alle diese Maßnahmen nichts nützen, greift der kundige Arzt zu einem Gift: Digitalis.

Diese schweren Fälle von Herzschwäche sind glücklicherweise sehr selten. Auf 30 Patienten und Patientinnen, die ständig oder fallweise Digitalis in irgendeiner Form nehme , kommt kaum einer oder eine, die es wirklich benötigen. Man liest auch auf Rezepten oft die Verordnung: „Durch vier Wochen täglich

15 Tropfen“ oder „Durch drei Wochen ein bis zwei Tabletten“. Bedenkt man, wie schwer giftig Digitalis wirklich ist, so erscheinen solche Rezepturen unverständlich. Sie werden allerdings begreiflich, wenn man erkennen kann, daß ein sehr großer Teil aller Digitalispräparate weitgehend unwirksam in den Handel kommt, daß weiter an Stelle des Digitalis irgendwelche andere Glykoside in den Handel kommen, die kaum eine Wirkung haben und hektoliterweise konsumiert werden (Weißdornsaft, Maiglöckchenextrakte, Meerzwiebelsäfte usw.). Der Arzt schläft ruhig bei solchen Verordnungen, und der Patient fühlt sich wohl — in seinem Lebenskampf. Die Frau in schlechter Ehe kann vom Mann mehr Beachtung fordern, denn sie hat es ja mit dem Herzen (siehe Digitalisfläschchen). Und im Betrieb kann man leichtere Arbeit fordern (siehe Digitatysfläschchen). Und man fordert frühzeitig eine Rente, denn man muß ja schon seit vielen Jahren Digitalis nehmen. Und bei allen nervösen Herzstörungen durch Kaffee und Nikotin ist es gut, das Herz mit Digitalis zu stützen.

Eine Frau ist acht Jahre Diabetikerin und bekommt allmonatlich von der Krankenkasse Insulin verschrieben. Sie muß täglich 20 Einheiten spritzen und benötigt daher im Monat eineinhalb Durchstichflaschen zum Preis von rund 40 S. Da sie aber absolut nicht in der Lage ist, eine genaue Diät einzuhalten, liegt sie jährlich mindestens zweimal je drei Wochen im Spital zur diätmäßigen Einstellung. Es ist allgemein bekannt, daß der Spitalstag derzeit mit rund 130 S berechnet werden muß. Zusätzlich benötigt sie wegen eines Magenleidens ständig Medikamente, die infolge der unrichtigen Diät nichts nützen, und die Patientin wird schließlich operiert. Sie bleibt fast zwei Monate an der chirurgischen Klinik, kommt anschließend auf einige Wochen in ein Erholungsheim.. Zurückgekehrt, sucht sie den Hausarzt auf und läßt sich von ihm eine Menge Medikamente wieder verschreiben. Zuletzt fordert sie eine Flasche Franzbranntwein mit Menthol. Der Arzt sagt, dies könne nicht verschrieben werden. Daraufhin bricht sie in Tränen aus und beklagt sich bitter, „ein Leben lang in die Kasse eingezahlt und noch nie etwas bekommen zu haben“.

Es sind mehr als vierzig Jahre; seit das russi-. sehe Experiment des Sozialismus begann. Aus einer amorphen Bevölkerung von Analphabeten formte der Bolschewismus innerhalb weniger Jahrzehnte eine Generation von Technikern,

fanatischen Arbeitern, Wissenschaftlern und Sportsmenschen. Man mag dazu eingestellt sein, wie man will: es ist nicht ratsam, die Erfolge zu verkleinern. Schon oft mußte der festen seine Voreingenommenheit büßen, und gewisse Erfahrungen sollten nicht übergangen werden. So hat ausgerechnet die Sowjetunion erkannt, daß zwar der staatliche Gesundheitsdienst eine Notwendigkeit ist, aber nicht so, wie es sich unbelehrbare Politiker in anderen Ländern vorstellen: Denn wenn auch der Staat alle Maßnahmen trifft, um dem einzelnen zu helfen, so zwingt er ihn doch, die Kosten teilweise zu tragen. 20 Prozent aller Heilmittel muß der Sowjetbürger, egal ob Direktor einer staatlichen Fabrik oder Rentner, aus eigener Tasche bezahlen. Kein Wunder, daß man gesund bleiben will und bei der Verordnung von Medikamenten vom Arzt möglichst wirtschaftliche Gesichtspunkts erbittet. Denn 20 Prozent für jedes Pulver, für jeden Tag Spital, für jeden Tag Erholungsheim sind viel Geld.

Durch diese Maßnahme hat man in der Sowjetunion die Bevölkerung erzogen, wirtschaftlich zu denken und Staatsgelder nicht mit sinnloser Pillenschluckerei und unnützem Säftekonsum zu verschleudern. Man wußte sehr wohl, daß auch ein Sozialismus Grenzen hat...

Und in Oesterreich?

Der Konsum an Medikamenten steigt unaufhörlich an. Es ist offenbar niemand interessiert, dieses Uebel energisch zu bekämpfen, teils aus klarer Berechnung, teils aus Unwissenheit. Nimmt das Defizit der Kassen immer mehr zu, werden die Gelder weiter so wie bisher verschleudert, danfi steht man eines Tages vor einer unlösbaren Situation.

Ob man es wahrhaben will oder nicht, es gibt nur zwei Möglichkeiten, und ,man wird sich schon in der allernächsten Zeit zu der einen oder anderen entschließen müssen. Entweder: man läßt das Defizit der Kassen weiter an- - steigen, dann zwingt man den Staat, eines Tages die ungeheuer angewachsene Schuld zu übernehmen. Dann werden die sozialen Abgaben rapid ansteigen, wenn nicht sogar das ganze wirtschaftliche Gleichgewicht in Gefahr gerät. Oder aber man erkennt die ungeheure Gefahr und greift zu den längst fälligen harten Maßnahmen, die anfänglich bestimmt sehr viele Gegenreaktionen nach sich ziehen werden. Aber es muß eben gelingen, die Bevölkerung zum wahren SoHali n frr ,uiKl.-eigenem Verantwortungsgefühl’zu erziehen.- Es. muß zur. Besinnung gerufen werden.

Man steht vor der Wahl, die Würfel sind noch nicht gefallen.

Noch nicht...

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