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Das heilige Experiment

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Das außerordentliche Schweigen, in das sich der am Abend des 8. Mai 1957 in Rom angekommene Mann freiwillig begab, dokumentiert die außerordentliche Bedeutung des Versuches, den er unternommen hat. Er wohnt nun bei den polnischen Römischen Schwestern im Vatikan, den er bisher nur einmal verließ, zum Besuch der polnischen Nationalkirche in der Nähe des Kapitols.

In kleinstem Kreise — neben dem Heiligen Vater und den polnischen Bischöfen Klepacz, Choromanski und Baraniak waren nur noch der „Maestro di Camera", Msgr. Callori di Vignale, der geheime Almosenmeister des Papstes, Erzbischof Diego Venini, der Sakristan Seiner Heiligkeit, Bischof Van Lierde, der Präfekt der päpstlichen Zeremonien, Msgr. Enrico Dante, und der Ordinarius der Exilpolen, Erzbischof Gwalina, sowie Msgr. Banaszak vom Institut Catholique in Paris und einige polnische Geistliche, die in Rom leben, anwesend — wurde ihm der Kardinalshut überreicht: Kardinal Wyszynski, dem Primas von Polen.

Auf seiner Reise nach Rom hatte er eine einzige Unterbrechung gemacht: in Wien, wo er. von Erzbischof Dr. König empfangen, den Kahlenberg besuchte, die kleine Kapelle, die an König Sobieski und den Abwehrkampf gegen die Türken erinnert, dann in der Krypta von St. Stephan des toten Kardinals Innitzer gedachte und sodann den päpstlichen Nuntius in Oesterreich, Erzbischof Dellepiane. aufsuchte.

In Rom begrüßte ihn eine begeisterte Menschenmenge. Auf dem Bahnhof war auch das heutige Polen durch den Botschafter beim Quirinal, Jan Drito, zum Empfang erschienen. Beim Vatikan ist Polen immer noch durch den Botschafter des General Anders, seiner im Krieg gebildeten Emigrantenregierung. vertreten. Zwei Botschafter, zwei Welten.

Das Experiment des Kardinals Wvszynski wird beleuchtet durch ein Versprechen, das Gomulka den Delegierten von Nowa Huta (Königshütte) gab. Für die neue Stadt mit 80.000 Einwohnern, die da um die neuen Stahlwerke entstanden ist, war ursprünglich keine Kirche vorgesehen. Nun soll sie gebaut werden: an der Kreuzung der Karl-Marx-Straße mit der Straße der Demokratie.

Die außerordentlichen Schwierigkeiten, die einem Gelingen des Kardinalexpertments entgegenstehen, werden in dieser einen schlichten Meldung bereits sichtbar. Sie enthält eine Reihe brennender, ungelöster Probleme und offener Fragen. Wird Gomulka, der eben in schwerstem Kampfe mit den Stalinisten und kommunistischen Bürokraten alter Prägung steht, in vielen Rückzugsgefechten bemüht, die Grundlagen des „polnischen Oktobers" zu retten, dieses Versprechen einlösen, wird er sich selbst halten können? Ein weiteres Zurückweichen Gomulkas und ein Sieg der Kommunisten alter Observanz würde die begonnene Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat in Polen in Frage stellen, würde drohen, wohl die Katholiken für diesen Staat zu vereinnahmen, nicht aber ihnen die so bitter notwendige innere und äußere Lebensfreiheit zu geben.

Als das Kardinalsexperiment, in vollem Wortsinn verstanden, erweist sich eben der Versuch, eine Kirche an der Kreuzung der Karl- Marx-Straße und der Straße der Demokratie zu bauen. Wo kreuzt sich die Straße, die durch Blut und Tränen, Gräber und Kerker gezeichnet ist, mit der Straße, die in die Freiheit, den Frieden, den Fortschritt führt? Gibt es an dieser Kreuzung weltgeschichtlicher Straßen, auf denen heute gigantische Kolosse fahren, nur Zusammenstoß oder ein kurzes Verharren, ein Abwarten der zwei Fahrkolonnen, wobei jede auf das Signal „Freie Fahrt“ harrt?

Ist es möglich, daß beide Straßen Mtnal das friedliche Gesicht der Via Appia annenmen, an der heute, nach Jahrtausenden, die Gräber der großen Geschlechter Roms auf das heitere Reisen in Freude und Freizeit, zu Arbeit und Erholung herabsehen, nachdem lange zuvor und lange genug der harte Schritt römischer Kolonnen auf ihr widerhallte, Marschbataillone, die eine Welt eroberten? Bedarf es langwieriger, große Zeiträume umfassender Kämpfe und Auseinandersetzungen bis dieser Kirchenbau möglich wird, weil die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die heute in der Ostwelt in äußerst labilen Verhältnissen um ihre Erhaltung im Wandel ringen, sich so weit gereinigt und eben gewandelt haben, daß das Kreuz Christi in Freiheit leuchten kann, ohne von den Kreuzen der Menschen überschattet und verdrängt zu werden?

Das ist ja das heikle an jedem echten geschichtlichen Experiment: es versucht, Kreuzwege abzukürzen, versucht. Katastrophen zu ersetzen durch Wachstumsprozesse, indem es Wandlungen, die naturgemäß sehr, sehr lange Zeit brauchen, durch entscheidungsschwere Taten beschleunigen will.

Man hat gerade der römischen, der katholischen Kirche oft den Vorwurf gemacht, sie scheue vor Experimenten, vor heiligen Experimenten zurück. Nun, die Geschichte und unsere Gegenwart zeigt, daß sie immer wieder ihre treuesten Söhne, ihre heiligsten Kinder hingegeben hat. um ein heiliges Experiment zu wagen. Der Name, dem bekannten Drama Fritz Hochwälders entnommen, deutet bereits auf ein heute wieder vielbeachtetes heiliges Experiment hin: auf den „staatssozialistischen“ Indianerstaat der Jesuiten in Paraguay Dieses Experiment ist gescheitert, das heißt, es wurde von außen her zerschlagen. In seiner Nachfolge sind viele große Experimente der Kirche und in der Kirche gescheitert bzw. zerschlagen worden: der kühne Versuch der Jesuiten, China durch ein hohes Maß von Anpassung an chinesische Geisteswelt zu gewinnen; der Versuch der Arbeiterpriester, durch eine totale Hingabe in die Welt von ganz anderen, von Proletariern, Farbigen, Heiden, Atheisten und Kommunisten, durch reine Präsenz in ihr das Reich Gottes zu bauen. — Diesen scheiternden Experimenten stehen gelingende Experimente gegenüber: die geschichtsmächtigsten Heiligen sind solche, die eine neue Lebensform, eine neue Möglichkeit als Christ i n der Zeit, in der Ueberwindung der spezifischen Versuchungen und Nöte einer Epoche, zu wirken, erfolgreich durchsetzen — immer gegen stärkste Widerstände, von außen und von innen (Karl Rahner).

Kein Liebhaber der Wahrheit, des Menschen, der Freiheit und des wahren Fortschritts darf also der römischen Kirche den Vorwurf machen, sie wehre sich gegen Experimente: gegen Versuche, neue, unerwartete christliche Lebensformen und Existenzen zu begründen, W'ege des Christen zu finden in scheinbar völlig unwegsamem Gelände, da wo allem Augenschein und aller brutalen Tageswirklichkeit zufolge Wüste, Dschungel, Dunkelheit und Schrecken herrschen.

In eben diesem Sinne hat die römische Kirche einst ihre Missionäre ausgesandt, in das heidnische Europa hinein. Und sie vermochte ihnen nichts mitzugeben als ihren Segen, „alle guten Wünsche" für die gefährliche Reise, und ihr Vertrauen auf ihre Tapferkeit, ihre Klugheit und auf den Wind Gottes, der weht, wo Er will. Ihr Vertrauen auf den Heiligen Geist.

In eben dieser Situation befindet sich Rom und die Weltkirche gegenwärtig. Kardinal Wyszynski gegenüber. Dieser hat ein Werk begonnen, das, wenn es gelingt, Perspektiven eröffnet, die einmal das Gesicht der Erde verändern können. Etwas von dem, was da im engeren politischen Raum begonnen wurde, hat in eben diesen Tagen, in denen der Primas von Polen in Rom weilt, in m Paris, im Centre der katholischen Intellektuellen Frankreichs, diesem vielleicht bedeutendsten und autoritätsstärksten Zentrum eines zukunftsoffenen, wagemutigen zeitgenössischen Katholizismus, der führende katholische Abgeordnete im Sejm, Doktor Stanislaw Stomma (Krakau), in einer Rede erläutert: die katholischen Abgeordneten im polnischen Parlament setzen sich nicht für die Gründung einer katholischen Partei ein; sie anerkennen, daß Polen ein sozialistisches Land sei und daß Polen im Ostblock bleibe, geistig und religiös aber ein eigenes Leben führen müsse. Die katholische Elite Polens strebe an, den Traditionskatholizismus in einen dynamischen Katholizismus zu verwandeln. „Im Rahmen eines sozialistischen Staates wollen wir den katholischen Glauben bewahren und für eine kulturelle und religiöse Wiedergeburt unseres Landes kämofen.“

Wer die Weltgeschichte der letzten 40 Jahre und unsere Gegenwart besieht, dieses Praktizieren des Terrors, des politischen Terrors, und anderer Spiele des Schreckens, rund um die Welt und rund um die Wasserstoffbombe, weiß, wie außerordentlich groß die Gefahren sind, die mit diesem Versuch verbunden sind. Eben diese Gefahren und eben diese Schrecken sind aber da, um vom Menschen gemeistert zu werden. In einem großen unbedingten Vertrauen darauf, daß Gott der Schöpfer und Erhalter dieser unserer Erde und Menschheit ist und daß der Heilige Geist das einzige echte Prinzip des wahren Fortschritts und der wahren Freiheit ist.

Das Experiment des Primas von Polen trägt pfingstlichen, vorpfingstlichen Charakter. Es versucht, zunächst in Polen, Formen zu finden, wo bisher formlose Gewalt und Form nur als Fassade galt. Es versucht, neue Wege zu erschließen und eine neue Sprache zu sprechen — jenseits des Blockdenkens unmittelbarer Gegenwart, das denn naturgemäß zu Blockierungen und Fixierungen in immer neuen Gewaltaktionen führt. Die ganze Welt wird sein Scheitern oder Gelingen mit höchstem Interesse verfolgen: von Peking bis Berlin, von Tokio bis London. Dem Christen und dem Katholiken aber steht es zu, seiner in Ehrfurcht. Gebet. Opfer täglich zu gedenken und so auf seine Weise mitzutragen an der schweren Last, die auf den Schultern dieses Mannes ruht.

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