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Das Hightech-Produkt aus der Steinzeit

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Mancher lächelt heute, wenn vom täglichen Brot die Bede ist, das uns der Herr geben möge. Es leben unter uns aber auch noch genug Menschen, die bei sich selbst eine unangenehme Empfindung registrieren, wenn sie sehen, daß Brot weggeworfen wird. Oft sind es Ältere, die den Krieg erlebt haben.

Auch wenn das Brot in den reichen Industriestaaten heute nicht mehr die zentrale Bolle in der Ernährung spielt, ist es auch hier noch von größter Wichtigkeit. Erst recht in jenen armen Ländern, in denen es das Grundnahrungsmittel darstellt. Der große Konkurrent des Brotes ist die Knollenfrucht Maniok.

Das Brot wurde vor rund 8.000 Jahren erfunden und ist somit uralt. Andererseits ist es jung: Nicht nur, weil die Ackerbaukultur vor 8.000 Jahren Jahrtausende alt war, sondern auch, weil es weltweit auf dem Vormarsch ist. Allerdings nicht nur infolge seiner Vorteile, sondern auch durch die mitunter nicht gerade zimperlichen Marketingmethoden der Getreidewirtschaft. In Teilen der Dritten Welt hat' das Maniok, in Lateinamerika als Yuca bekannt, nicht nur den Vorteil der Tradition und Akzeptanz, sondern die Knolle ermöglicht auch die höchste Kalorienausbeute pro Hektar Anbaufläche. Trotzdem förderten ausgerechnet Hungersnöte in Teilen Afrikas das Vordringen des Brotes, denn Hilfslieferungen von Getreide stillen nicht nur Hunger, sondern leisten auch einen Beitrag zur Veränderung von Ernährungsgewohnheiten.

Brot als Luxusgut

Auch die Kartoffel ist Konkurrent des Brotgetreides. In Irland wurde sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Billignahrung der Landarbeiter, die auf den Äckern der Grundbesitzer das für den Export nach England bestimmte Brotgetreide produzierten. Nicht das Brot, sondern die Kartoffel ermöglichte die irische Bevölkerungsexplosion. Als die Kartoffelfäule zuschlug, kam es zur „famine”, der Hungersnot der 1840iger Jahre. Uber eine Million Menschen starben, während die Verschiffung des irischen Brotgetreides nach England weiterging.

Aus der Perspektive der im Überfluß Lebenden ist das Brot also Primitivnahrungsmittel, aus der Perspektive der Ärmsten kann es sich durchaus als Luxusgut ausnehmen.

In Europa war es bis zum Bekanntwerden der Kartoffel das Grundnahrungsmittel schlechthin. Für große Teile der Welt ist die Kulturgeschichte zu einem guten Teil identisch mit der Geschichte des Brotes. Weshalb der prächtige Bildband „Brotkultur” des DuMont-Verlages, an dem eine ansehnliche Biege von Autoren mitwirkte, denn auch weit mehr darstellt als eine der üblichen Historien irgendeines Wirtschaftszweiges. Übrigens hat der Vater des Herausgebers, Willy Eiselen, 1955 in Ulm das Deutsche Brotmuseum gegründet, dessen 40jähriges Bestehen Anlaß zur Entstehung des Bandes war.

treideprodukte über die Hälfte des Kalorien- und Eiweißbedarfes der Menschheit. Auf über 30 Prozent der Weltanbaufläche von Getreide wächst Weizen. Der größte Weizenproduzent der Welt ist China mit über 100 Millionen Tonnen, Europa erzeugt 115 Millionen Tonnen.

Verglichen mit dem, wovon der Mensch in den Jahrtausenden vor der Erfindung des Brotes lebte, ist dieses ein Hightech-Produkt. Vor allem das unter Zuhilfenahme von Hefe erzeugte Brot. Vorher gab es nur das „ungesäuerte” Brot der Bibel. Aber auch dieses hatte eine länge Geschichte, in der, ausgehend von der Wiederaussaat eßbarer Grassamen, die ursprünglichen Sorten durch Verwendung der Samen mit erwünschten und Unterdrückung der unerwünschten Eigenschaften systematisch immer weiter verbessert wurden. Die Verbesserung der Wildpflanzen und Wildtiere durch Zucht ist wohl die früheste experimentelle Betätigung des Menschen, dabei wurde er zum Erfinder.

Dabei suchte er wohl auch immer wieder aufs neue sein labiles Gleichgewicht zwischen Mut zur Veränderung und Beibehalten des Bewährten. Zuviel Konservativismus bedeutete Stillstand, zuviel Experimentierbereitschaft das Bisiko von Ernteausfällen, Hungersnot und Tod. Man darf annehmen, daß bei die- ] sem Prozeß auch der I Mensch selbst einem unbarmherzigen Selektionsprozeß unterlag. Von den Verhungerten berichtet keine Inschrift. Der Hunger war bis heute der ständige und treueste Begleiter der Menschheit. Und er ist es, abgesehen von den Wohlstandsinseln der Industriestaaten, auch heute noch.

Die Geschichte des Brotes ist zugleich die Geschichte seines Fehlens -somit des Hungers. Wahrscheinlich war über lange , Perioden der Menschheitsgeschichte Verhungern die häufigste Todesursache, in Summe fielen möglicherweise, soweit sie nicht einander umbrachten, keinem Übel mehr Menschen zum Opfer.

Die 100 Millionen Chinesen und 20 Millionen Inder, die im Lauf des 19. Jahrhunderts verhungert sein sollen, schrien nicht nach Brot, sondern nach Beis. Aber in Europa und Rußland hieß das Grundnahrungsmittel Brot. Der Erste Weltkrieg bescherte ganz Europa eine gewaltige Hungersnot, allein in Bußland starben bis 1922 rund sechs Millionen, die Opfer von Stalins Zwangskollektivierung werden auf weitere 3 bis 10 Millionen geschätzt. /

In Notzeiten fällt der Mensch vom Hightech-Produkt Brot auf ältere, urtümlichere Ernährungsgrundlagen zurück. Man nennt das Reprimi-tivierung. Vor etwa 6.000 Jahren begann der kontinuierliche Getreideanbau in Europa, seither verdrängte

gewann der Brei wieder Terrain. Und dank dem Siegeszug der Töpferwaren auch die Suppe.

Suppe wurde nach beiden Weltkriegen in den „Ausspeisungen” verteilt, in Wien standen 1945/46 täglich hunderte Menschen mit Kochgeschirren oder leeren Konservendosen im erzbischöflichen Ordinariat Schlange. Suppe verteilen noch heute die Klöster täglich an die Ärmsten. Suppe und Brei stehen in der Bangordnung des Nährwertes ganz oben. Sie haben mehr Kalorien als Brot. Und sind ihm auch bei der Ausnützung der Ausgangsprodukte überlegen. Weshalb in großen Teilen Lateinamerikas der Speisezettel der Armen die Auswahl zwischen Brei aus roten Bohnen mit Tortilla und Tortilla mit Brei aus roten Bohnen bietet. Tortilla ist nichts anderes als Fladenbrot.

Die Frage, wieviele Menschen die Erde ernähren könne, ist daher nicht zu trennen von der Frage, wie diese Menschen ernährt werden sollen. Auf dem Niveau der roten Bohnen mit Tortilla plus verbesserte angepaßte Agrartechnologien kann sich die Menschheit jedenfalls viel mehr Wachstum leisten, als wenn sie von dicken Broten, dünn belegt, wie es moderne Ernährungswissenschaftler empfehlen, leben will. Gehen aber riesige potentielle Ackerflächen dem Getreideanbau verloren, weil die als Weiden für die Fleischnahrung der Beichen benötigt werden, dann ist die Menschheit tatsächlich schon jetzt viel zu groß. Täglich Fleisch für Milliarden ist nicht drin. Ebenso, wie das Auto für jeden Erdenbürger

Mit dem Brot als Grundnahrungsmittel hingegen könnte bei gerechterer Verteilung von Grund und Boden das im nächsten Jahrhundert erwartete Bevölkerungswachstum gerade noch verkraftet werden. Jahrhundertelang galt Brot für breite Schichten als luxuriöse Sonntagskost. Vor allem Qualitätsbrot wie das herrschaftliche „ Schönroggenbrot”, das bei den Armen nur an hohen Festtagen auf den Tisch kam.

Im späten 18. Jahrhundert drückte sich der rasante wirtschaftliche Aufschwung etwa in Norddeutschland unter anderem darin aus, daß man es sich dort bereits leisten konnte, zum Frühstück Kaffee und Brot zu sich zu nehmen. Biesige ländliche Regionen löffelten nach wie vor die Morgensuppe. Große Teile Skandinaviens ebenso wie die Menschen in den Alpen verstanden unter Brot noch harte, flache, fladenartige Brote, die mehr Ähnlichkeit mit Tortil-la oder mit Knäckebrot hatten als mit dem, was heute in den Bäckereien liegt.

Brot wurde übrigens keineswegs

heute eher verachtete Brotsuppe war einst eine die Ernährung verbessernde und damit den Wohlstand steigernde Innovation und Grundlage vieler verfeinerter Suppen.

Heute steigt übrigens der Brotkonsum in Europa wieder, was die Ernährungswissenschaftler sehr freut. Immer neue Brotsorten werden kreiert - manche zerfallen vor lauter Schmackhafigkeit beim Schneiden zu Krümeln. Aber die Zunahme des Verzehrs geht wohl nicht zuletzt auf die Bedeutung des Brotes als Bei- und Unterlage zurück. Wenn wir es „im Schweiße unseres Angesichtes” essen, dann tun wir es wohl im Liegestuhl in der Sonne. Die Illusion, es könne auf Dauer so weitergehen, kann sehr verfliegen.

„Brotkultur” informiert über all dies umfassend und anhand eines attraktiven Bildmaterials. 24 Autoren waren am Werk.

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