Weltkarte - © Illustration: Wikipedia (Public Domain); Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger

„Das Jahr 1000“: Beginn der Globalisierung?

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„Das Jahr 1000“, behauptet die Historikerin Valerie Hansen, „markierte den Beginn von Globalisierung.“ Sie lädt auf eine lehrreiche und schwungvoll gezeichnete Zeitreise ein.

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„Das Jahr 1000“, behauptet die Historikerin Valerie Hansen, „markierte den Beginn von Globalisierung.“ Sie lädt auf eine lehrreiche und schwungvoll gezeichnete Zeitreise ein.

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Welche Bilder haben Sie im Kopf, wenn Sie an die erste Jahrtausendwende nach Christus denken? Sehen Sie endlose Wälder, dazwischen armselige Weiler, berittene Krieger in Kettenhemden und hier und da ein Kloster, in dem betende Mönche mit Bangen und Hoffen das Ende der Welt erwarten? Nun, dann sollten Sie sich von Valerie Hansen auf eine Zeitreise mitnehmen lassen!

Die an der Universität Yale chinesische und Weltgeschichte lehrende Historikerin führt uns mit ihrem Buch „Das Jahr 1000“ unter anderem nach Quanzhou. Unter der Song-Dynastie erlebte China damals einen anhaltenden wirtschaftlichen Boom, und Quanzhou, das auf halbem Weg zwischen Hongkong und Shanghai liegt, stieg gerade zur größten Hafenstadt des Reiches auf: eine mittelalterliche Mega-City mit hunderttausenden Einwohnern, unter ihnen viele Araber, Perser und Inder. Neben Kultstätten der chinesischen Volksreligion standen buddhistische Pagoden, hinduistische Tempel und Moscheen.

Noch diverser als ihre Bevölkerung waren die Güter, die in dieser Metropole feilgeboten wurden: afrikanisches Elfenbein, Weihrauch von der Arabischen Halbinsel und Ambra aus Somalia, Sandelholz aus Java, Benzoe und Aloeholz, außerdem Bernstein vom Baltikum, Perlen aus Sri Lanka, Rattan-Matten aus Malaysia, Nelken von den Molukken ... Auslaufende Dschunken und Dhaus brachten chinesische Seide und hochwertige Keramik bis zu den Gestaden Afrikas.

Die Vielfalt und Menge der Güter, die weiten Entfernungen, über die sie gehandelt wurden, ein Vielvölkergemisch – das alles machte das China der ersten Jahrtausendwende, in Valerie Hansens Worten, zu dem „am meisten globalisierten Ort der Welt“. Denn Quanzhou war nicht der einzige Hafen an Chinas Küste, und der Fernhandel wirkte sich nicht nur auf die Hafenstädte und das Leben hoher Beamter und anderer Privilegierter aus. Er veränderte auch den Konsum breiter Schichten und die Produktion im Landesinneren.

Die Autorin verweist auf Bauern, die statt für den Eigenbedarf vermehrt „Cash Crops“ wie Litschis, Zuckerrohr oder Hanf anbauten, um aus den Erlösen Lebensmittel zu kaufen. Andere gaben die Landwirtschaft ganz auf und verdienten ihren Unterhalt fortan im Bergbau, in der Salzgewinnung oder in der Keramikindustrie. Die chinesischen Drachen-Töpferöfen, deren Beschickung hunderte Arbeitskräfte erforderte, waren auf der ganzen Welt konkurrenzlos: An steilen Hängen zogen sie sich in mehreren Kammern bergwärts. Bei Temperaturen von bis zu 1400 Grad brannten manche pro Durchgang 30.000 Stücke Porzellan, jedes so zart und glänzend, wie man es sonst nirgends vermochte.

Terra incognita

Valerie Hansens Darstellung der chinesischen Wirtschaft zur Zeit der Song-Dynastie und ihrer globalen Verflechtungen ist erfrischend zu lesen, zumal diese ferne, vergangene Welt für viele hierzulande Terra incognita sein dürfte. Der Autorin gelingt es zu zeigen, dass typische Phänomene der Globalisierung wie massenhafter Austausch von Menschen und Gütern über große Distanzen und Arbeitsteilung weder moderne noch genuin „westliche“ Errungenschaften sind. Doch Valerie Hansen will mehr. „Das Jahr 1000“, behauptet sie, „markierte den Beginn von Globalisierung.“

Um diese These zu begründen, führt die Autorin ihre Leserschaft einmal rund um den Globus. Sie beginnt mit den Atlantikfahrten der Wikinger, die um das Jahr 1000, wie Hansen glaubt, nicht nur Neufundland, sondern auch die mexikanische Halbinsel Yucatán ansteuerten, wo man auf Wandmalereien der Maya menschliche Gestalten mit hellen Haaren findet. Die Skandinavier waren überhaupt ein umtriebiges Volk. In Osteuropa mischten sie ganz vorne im Sklavenhandel mit – schon damals ein Weltmarkt, der sich um die Millionenmetropole Bagdad drehte. In der Hauptstadt des Abbasidenreichs konnte man Sklaven von überallher kaufen, von der Kiewer Rus bis Indien, von Turkestan bis Ghana. Valerie Hansen schätzt, dass im Lauf des Mittelalters fast ebenso viele Menschen durch die Sahara in den Mittleren Osten verschleppt wurden wie in der Frühen Neuzeit über den Atlantik nach Amerika: zwölf Millionen.

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