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Das Kind baute die Brucke

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Um mit dem elften Laterankonzil von 1179 zu beginnen: es läßt sich vermuten, daß diese Kirchenversammlung einen nachfühlbaren, gleichsam unterschwelligen Zusammenhang mit dem „Wunder von Avignon“ hat. Dieses ist zwei Jahre vor der Konzilseröffnung, 1177, bezeugt.

„Die gesamte geistliche und weltliche Obrigkeit der Stadt Avignon“, so heißt es in dem ergreifend schlichten Bericht, „war Zeuge, daß zuerst sechs Männer den gewaltigen Steinklotz, welcher den Bau der Brücke über die Rhone tragen sollte, nicht einmal zu heben, geschweige denn an seinen Bestimmungsort — im Fluß — zu bringen vermochten; und daß dann ein kleiner Hirtenknabe, Benedikt, kam. Er erzählte, er habe die Stimme Jesu Christi gehört, die ihm befahl: Trage den Steinklotz zum Fluß! Und die gesamte versammelte Bürgerschaft sah, wie Benedikt den Klotz allein aufhob und in die Wasser der Rhone trug, wo er ihn aufstellte. Sie konnten über diesem Stein die Brücke bauen.“

Der Einwand, das 12. Jahrhundert sei eben in seiner Sucht nach Wundern leichtgläubig und kritiklos gewesen, kann kaum überzeugen. Eher möchte man geneigt sein, so zu argumentieren: in jenen Jahren sah die christliche Völkerfamilie — von der man in bezug auf jene Zeit mit Recht sprechen darf -r dem Laterankonzil entgegen. Dieses sollte den gleichfalls 1177 zustande gekommenen, jedoch erst vorläufigen Friedensschluß — zwischen Papst Alexander III. und Friedrich Barbarossa — besiegeln. Allerorts, in den Städten des heiligen Reiches wie in Südfrankreich, wurde eine immer stärker werdende Sehnsucht gefühlt, die beiden Häupter der Christenheit möchten zu friedlicher Verständigung gelangen. (Sie war wohl kaum geringer, als es etwa der Wunsch von Millionen heutiger Menschen ist, Ost und West möchten zu einem Modus des Zusammenlebens finden.) Dieses heftige Verlangen durchwirkte zutiefst die eher unbewußten, emotionalen Seelenregungen der damaligen Menschen. Wird aber dergestalt das Innerste vieler Menschen gleichzeitig durchwirkt, so erstarkt auch die religiöse Sensibilität,das Hörenkönnen übernatürlicher Stimmen. Der kleine Held des Wunders von der Rhonebrücke, ein naives Kind seines Zeitalters, konnte so die Stimme vernehmen, die ihm den Steinklotz zu tragen befahl. Für sein subjektives Empfind: ?n war es die Stimme des Herrn. Objektiv betrachtet, war es vielleicht die Stimme der bildenden, bauenden Kräfte seiner ganzen Epoche.

Vielleicht gilt dasselbe auch für die folgenden Jahrzehnte. Das 12. allgemeine Konzil im Lateran, 1215, unter Führung Innozenz' III., ist ja allgemein bekannt dafür, daß es eine riesenhafte „Heerschau“ der geistlichen Stärke der Una Sancta des Hochmittelalters darstellte, eine Phalanx, an der die — sich bereits heftig empörenden — Häresien noch einmal zerschellten. Sie trifft zeitlich fast zusammen mit dem Ereignis der Stigmatisierung des heiligen Franziskus. Ein Ereignis, dem man sich nur in Ehrfurcht nahen darf: man bliebe wohl zu sehr dem Kreatürlichen verhaftet, wollte man es aus der Psychologie der Epoche deuten! Verantworten läßt sich dagegen die Aussage: es war mehr als bloßer „Zufall“, daß die 8g-matisierung mit dem 12. Laterankonzil synchron war.

Ein halbes Jahrhundert später kämpfen noch die Besten aus der damaligen Völkerfamilie des Abendlandes gegen das Irrewerden der Massen an der Idee des Papsttums an. Wieder ein Gefühl der Erwartung: man harrt des 14. allgemeinen Konzils, das 1274 in Lyon stattfinden wird. Der beste Denker jener Zeit, der „engelgleiche Doktor“ Thomas von Aquino, bereitet sich auf die Teilnahme an diesem Konzil vor. Es wird ihm nicht mehr vergönnt sein, es mitzuerleben. Aber im zehnten Jahr vor der Eröffnung des Konzils erscheint ihm, wie überliefert wird, Christus in menschlicher Gestalt. Der Herr besucht den Denker in seiner Zelle, lobt das, was Thomas über ihn geschrieben, fragt, welchen Lohn Thomas sich wünsche. „Herr! Nur Dich allein!“ ist des Thomas Antwort.

Thomas von Aquino ist allgemein bekannt als ein objektiver Denker, von wachem, kritischem Bewußtsein. Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß er etwa einer „Sinnestäuschung“ zum Opfer gefallen sein sollte. Als er im zehnten Jahr darnach zum Konzil in Lyon unterwegs war, ereilte ihn infolge eines Unfalles der Tod. Zwischen der von ihm erlebten Offenbarung und dieser seiner letzten Erdenreise besteht zwar kein kausaler Zusammenhang, wohl jedoch eine Beziehung von rief innerlicher Art. Man wird ihrer habhaft, wenn man sich betrachtend in sie versenkt. Sofern Thomas die entscheidendste Geistesleistung seines Jahrhunderts erbringt, scheint das, was ihm als Individuum geschah, wohl dem gleichwertig, was zuvor in Avignon einer großen Gruppe sich offenbarte. Er ist der eine, in dem sich konzentrierte, was in Tausenden keimhaft gelebt hatte.

Wieder vergehen Jahrzehnte; nun residiert das Papsttum in Avignon, und das Ansehen des Stellvertreters Christi sinkt im gleichen Maß, wie umgekehrt die Krise der Glaubenszweifel wächst. Wieder sind Länder und Völker erfüllt von drängenden Spannungen, von denen die am stärksten um den Glauben Ringenden amwenigsten loskommen. Dies ist das atmosphärische Klima zur Zeit des 15. Konzils zu Vienne: 1311. Ein Jahr vor seiner Eröffnung geschieht es, daß in einem Tiroler Dorf, St. Georgenberg, ein Priester von dem allerorten sich regenden, quälenden Zweifel befallen wird: Kann denn die Transsubstantiation von Brot und Wein reale Wirklichkeit sein? Vor den Augen seiner gesamten, in der Kirche versammelten Gemeinde verwandelt sich ihm, so wird überliefert, der Wein in seinem Kelch zu wirklichem Blut, rotem Blut, das bis an den Rand des Gefäßes hochschäumt. (Noch heute ist in St. Georgenberg dieser „Blutkelch“ zu sehen.) Wie in Avignon Franzosen, so waren hier Tiroler die Zeugen eines Sichoffenbarens der Übernatur. Wie fern lag ihrem Anlaß die kritiklose Wundersucht! Dieser Anlaß war ja vielmehr der, daß ein geistiger Notstand beseitigt werden sollte. So wie die Avigno-nenser ihres Brückenbaues bedurft hatten — auf realer Ebene —, so bedurfte hier der Priester einer sichtbaren Hilfe, damit er glauben könne. Hier wie dort stimmte ein „Consensus omnium“ freudig und gläubig zu. Ein solcher Consensus ist aber nur möglich, wenn — wie in diesen beiden Fällen — ein bevorstehendes Konzil alle Seelenkräfte der Menschen dazu drängt, um eine Lösung schwerer Krisen zu ringen.

Mehr als zwei Jahrhunderte verstreichen, bevor wieder zwei Offenbarungen, die mit der Vorbereitungsperiode eines Konzils zusammenfallen, gemeldet werden. Soeben ist Rom geplündert worden (1527), darnach sind Völker und Reiche von der katholischen Kirche abgefallen, in England und in Skandinavien wird gleichfalls die Loslösung von der einen Kirche des Mittelalters aktuell: und das Trienter Konzil, auf das Unzählige noch hoffen, und das doch immer wieder hinausgeschoben wird, scheint nicht zustande kommen zu können. Gerade dieser so trostlose Zeitpunkt, der Spätherbst des Jahres 1539, ist es, von welchem der große Renaissancekünstler Benvenuto Cellini berichtet: „Mir erschien der Engel des Herrn im lichtlosen, unterirdischen Kerker, und er sagte mir voraus, ich würde gerettet werden — was in jenem Kerker völlig unmöglich schien! —, und nachher erfüllten sich alle seine Worte aufs genaueste.“ Cellini war zeitlebens der Idee des Papsttums treu ergeben geblieben, ihn beseelte eine stürmische Kampfesgesinnung wider die Glaubensspalter: fast sieht es so aus, als wäre er, in der Abfallszeit, als ein auserwähltes Gefäß für eine Offenbarung erkoren worden.

Am 13. Dezember 1541 — die genaue Datierung verdient Beachtung, sie ist bei „Wunderberichten“ selten! — erfährt nahe bei Basel der Edelmann Hans Thüring, der infolge eines Fehltritts in einen Abgrund stürzte, eine so wunderbare Rettung, daß alle Augenzeugen übereinkommen: der Ort seiner Rettung müsse in Hinkunft ein Ziel für Wallfahrer sein. So berichten die Chroniken genau über die Entstehung der Wallfahrt nach Maria-Stein in Basel.

Die beiden, völlig transzendenten Einwirkungen zugeschriebenen Eingriffe der Übernatur in menschliche Geschicke — im Fall Cellinis wie in Thürings — fallen wieder, wie dies von den früheren „Wunderereignissen“ galt, in eine Periode, wo auf das rettende allgemeine Konzil gehofft wurde.

Quod erat demonstrandum: es sollte in der Zeit des gegenwärtigen Konzils wieder ins allgemeine Bewußtsein treten, daß — in zeitlicher Nähe von Konzilen — immer wieder Einzelmenschen, manchmal auch Menschen^rup-pen von einer Gewißheit des Übernatürlichen berührt, worden sind.

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