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Das neue Bild Proudhons

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An der Stelle, wo der Doubs zum ersten Male nach seinem gewundenen Lauf zwischen den engen und hohen Kalkfelsen den französischen Jura verläßt, hat die Stadt Besançon im gepflegten Park der Moullière ihrem großen Sohn Pierre Joseph P r o u d- hon ein Denkmal gesetzt. Am 15. Jänner 1809 geboren, hat er vor ungefähr hundert Jahren jene Periode durchlebt, die wir heute als seine entscheidendste erkennen. Seine vielbesprochenen Schriften sind nunmehr in den Blickpunkt einer neuen Betrachtung gerückt, in dem seine Persönlichkeit und seine Gedanken in Frankreich einer Renaissance entgegengehen. Entscheidend haben dazu drei Werke beigetragen, die in den letzten Jahren erschienen: „Proudhon d’après’ses carnets inédits" (1843 bis 1847), herausgegeben von Daniel H a- lévy, Paris; „Proudhon et le christianisme" von Henri de L u b a c S. J., Editions du seuil, Paris, und „M a rx et P r o u d h o n“, Leurs rapports personnels 1844 bis 1847, Plusieurs texté inédits von Pierre Haubtmann. Editions Economie et Humanisme, Paris.

Die Bearbeitung einer Preisfrage, die von der Akademie Besançon gestellt worden war, „Die Nützlichkeit der Sonntagsfeier im Hinblick auf die Hygiene, die Moral, der Beziehungen zur Familie und den Staat“, hat Proudhon die Erwähnung seines Namens und eine bronzene Medaille eingetragen. Im ganzen nicht viel, aber er selbst bezeichnete dies mit den Worten: „Ich kann sagen, ich bin daran, den Rubikon zu überschreiten.“ Schon im Juni 1840 veröffentlichte er die Broschüre über das Eigentum: „Qu’est ce la Propriété? Ou Recherches sur le principe du droit et du gouvernement." Eine weitere Folge von Schriften stellte ihn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und machte ihn zum Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus in Frankreidi. 1844 fand die erste Begegnung zwischen dem Fünfunddreißigjährigen und dem fünfundzwanzigjährigen Karl Marx in Paris statt und dehnte sich über ein Jahr aus. Darüber gibt jedoch kein schriftliches Zeugnis, nicht einmal sein Tagebuch nähere Auskunft. Es ist aber anzunehmen, wie Lubac meint, daß lange Besprechungen in derselben Weise vor sich gingen wie zwei Jahre später zwischen ihm und Bakunin. Einige wertvolle Hinweise vermögen jedoch die von Pierre Haubtmann herausgegebenen Briefe zu bieten, die sich im Besitz der ältesten Tochter Katharina befanden, welche am 28. April 1947 gestorben ist. Der (Jedanke jener „heiligen intellektuellen Alliance", wie sie ein Historiker nennt, welche die hegelianische Linke zwischen den deutschen und französischen Sozialisten seit 1840 herzustellen träumte, gelangte nur in einer Episode zum Ausdruck, weldie auch die grundsätzliche Stellung Proudhons zu erhellen ermöglicht.

Proudhons Bedeutung ist keine rein historische. Es war ihm auch nicht gegeben, eine Schule zu bilden, wie schon Lorenz v. Stein 1855 treffend bemerkte, aber er kann zu Recht als Vorkämpfer der damaligen sozialistischen Schulen angesehen werden. Er stellt eine neue Gedankenrichtung im Sozialismus dar und unterscheidet sich wesentlich von Marx, wie schon die Auseinandersetzungen zwischen den beiden in den Jahren 1844 bis 1847 bezeugen, von denen Haubtmann wichtige Ergebnisse mitzuteilen weiß. Bereits Gaétan P i r o u hat in dem Sammelband „Proudhon et nôtre temps" (Paris 1920) den Versuch unternommen, den Proudhonismus mit dem Marxismus zu konfrontieren und auf die entschiedene Betonung des „unverletzlichen Rechts der menschlichen Persönlichkeit“ durch Proudhon zu verweisen, der geradezu einen Kult mit der individuellen Freiheit betrieben hat (S. 191). Proudhon ist der Ansicht, daß die schwerwiegenden sozialen Konflikte nicht nur materielle Ursachen und Beweggründe hätten, sondern daß vor allem eine „intellektuelle Revolution“ vor sich gegangen ist. Auf die Bedeutung der verschiedenen sozialen Herkunft der beiden Antagonisten madit K. Grün, welcher mit Proudhon wissenschaftlich verkehrte, bereits 1845 in seinem Buch aufmerksam. Dieser Umstand hat in der großen Marx-Biographie von Cornu, „Karl Marx, l’homme et l’œuvre", Paris 1934, nicht nur Erwähnung gefunden, sondern wurde zu einer These über die grundsätzliche Verschiedenheit der beiden Persönlichkeiten ausgebaut. Was bis dorthin mehr gelegentlich vermerkt wurde, erlangt nun durch die Arbeiten von H a- lévy, Lubac und Haubtmann eine neue Bedeutung. Halévy machte in seiner Durcharbeitung der bisher nicht herausgegebenen Tagebücher die Feststellung, daß Marx erkennen mußte, wie er von Proudhon sehr wohl verstanden wurde und dieser doch ganz andere Wege zu beschreiten gewillt war. Haubtmann zieht die gleichen Folgerungen aus einem bisher unbekannten Briefwechsel, den er erstmalig veröffentlicht. Proudhon nimmt hier offen Stellung gegen den „dogmatischen Ekonomismus" von Marx und den „atheistischen Humanismus“ Feuerbachs, wie auch Marx wieder sich in der „Heiligen Familie“ zu den spirituali- stischen Lehren Proudhons ablehnend verhält und das Anliegen • Proudhons, einen humanistischen Sozialismus zu schaffen, sehr wohl erkannte und bekämpfte. In seiner „Philosophie de la misère" wendet sidi Proudhon gegen den wichtigsten Punkt der marxistischen Argumentation, indem er den Feuerbachschen Humanismus, den er durch den deutschen Philosophen K. Grün kennengelernt hatte, als unlogisch und als „falsche Religion“ bezeichnet, da er sich als die natürliche Heiligkeit des Menschen darstellt, der die Natur zum Gott macht. Ihm erscheint dies als „abscheulich" und als „Destruktion jedweder Moral“. Er weist diese „Religion der neuen Atheisten“ entschieden zurück und j t sich wohl bewußt, daß er dadurch die Beziehungen mit dem „intelligentesten Teil des Sozialismus" abbricht, denn, wie er selbst in seinen „Contradictions économiques" schreibt, „die sichtbaren Erscheinungen" haben in den „unsichtbaren Ideen“ ihren Grund.

Diesen wahren Proudhon versucht Ln- baein seinem umfangreichen Buch mit einer bewundernswerten Genauigkeit zu zeichnen. Proudhon hatte sich in seiner % Buchdruckerzeit mit der katholischen Theologie und deren großen Vertretern vielfach beschäftigt, sie neu herausgebracht und auch sein System, soweit man in seiner Entwicklung von einem solchen sprechen kann, mit den Grundsätzen der katholischen Dogmatik zu unterbauen versucht. Lubac, der heute als einer der ersten Theologen in Frankreich gilt, hat mit seinem Buch eine gewaltige Bresche in die bisher übliche Proud- hon-Betrachtun gelegt, indem er das im letzten Grunde doch christliche Wollen dieses Mannes aufzeigt, in dessen Erscheinung er,

„ohne zu zweifeln, eine der wichtigsten geistigen Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts“ und die „am meisten fruchtbringende für unser Jahrhundert“ erblickt.

Die Hinwendung des europäischen Sozialismus zu den Idealen eines neuen geistigen Humanismus und die bewußte Abkehr führender Persönlidikeiten in dieser Bewegung vom atheistischen Materialismus wird in der Zukunft sicherlich eine intensivere Beschäftigung cvie auch eine neue Bewer-1 tung der wahren Gedankengänge Proudhons bringen und seine Person selbst noch mehr in den Vordergrund stellen.

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