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Das Werden Wiens

19451960198020002020

Von Karl Oellinger. H.-Bauer-Verlag, Wien 1950. XIX und 237 Seiten, 20 Tafeln und 19 Abbildungen und Pläne Im Text. S 58.—.

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Von Karl Oellinger. H.-Bauer-Verlag, Wien 1950. XIX und 237 Seiten, 20 Tafeln und 19 Abbildungen und Pläne Im Text. S 58.—.

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Karl Oettingers vorliegendes Buch durchbricht die 6eit langem allein herrschende Reihe der Spezialstudien zur österreichischen Mittelaltergeschichte und schafft erstmals seit vielen Jahren eine neue Grundlage. Blickpunkte und Ideen Oettingers entspringen einerseits aus zahlreichen Einzelergebnissen jüngerer Forschung, andererseits aus einer vielfach neuen Betrachtungsweise und Ausdeutung des Quellen- und Denkmälermaterials, das er zugleich beträchtlich erweitert. Zwar ist das Werk auf die österreichische Hauptstadt abgestellt. Das neue Gedankengut, das er vorlegt, ist jedoch aus viel weiterreichender Schau geboren und wird vielfach richtungweisend werden für die gesamtösterreichische Geschichtsauffassung vom Ablauf des Mittelalters. Das Buch ist nicht von heute auf morgen entstanden. Seit Anfang 1945 lagen viele Hauptgedanken in einer hekto-graphierten Fassung vor und bildeten so die Grundlage zu zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen. Aus solchen und weiteren intensiven Forschungen des Verfassers ist die letzte erweiterte Fassung entstanden, die nun im Druck endlich weitesten Kreisen zugänglich wird. Aber auch die Fachwelt wird durch das oft Verblüffende und Neuartige der gezogenen Folgerungen und die Prägnanz und Einfachheit der Schlüsse wieder in ihren Bann gezogen werden.

Eine auch nur annähernde Ubersicht des für Wien und Osterreich völlig neuen Geschichtsbildes, das sich aus Oettingers Arbeit ergibt, ist in dem hier gebotenen Rahmen unmöglich. So seien denn nur einige der aller-wichtigsten neuen Tatsachen hervorgehoben. Entgegen der bis vor wenigen Jahren herrschenden Meinung, das römische Vindobona sei in den Stürmen der Völkerwanderung gänzlich zugrunde gegangen und das spätere Wien eine karolingische oder gar ottonisch-6alische Neugründung, gelingt es Oettinger nachzuweisen, daß sich das Lager noch in römischer Zeit in eine Stadt verwandelt und — wenn auch in stark reduzierter Form — als „Reststadt“ die Jahrhunderte überdauert hat. Grundlage dafür bietet vor allem die Rekonstruktion einer großen römischen Kirche aus dem Plan von St. Peter. Für das siebente Jahrhundert vereinigen sich überzeugende Argumente historischer, 6prachgeschichtlicher und archäologischer Art zu einem erstmals geschauten Bild: Wien als Hauptburg und Residenz des aus fränkischem Blut stammenden Slawenkönigs Samo, der die slawischen Stämme von der Drau bis über Böhmen hinaus beherrschte, nachdem er deren bisherige Bedrücker, die Awaren, entscheidend geschlagen und dem Frankenkönig Dagobert siegreich die Stirn geboten hatte. Ebenso überraschende Einsichten ergeben sich für die Karolingerzeit und für die nächste deutsche Epoche nach der Vertreibung der Ungarn 991. Stadtherren während des ganzen 11. Jahrhunderts sind die deutschen Könige gewesen. Ihre Beauftragten in der Stadt jedoch waren von ihnen mit bestimmten Aufgaben betraute, den Markgrafen das Gegengewicht haltende Grafen. Schon um 1040 und wieder um 1100 ßind in dieser Stellung Mitglieder des salzburgischen Sighardingergeschlechtes als Gründer von Klöstern bei St. Peter und St. Michael mit Salzburger Mönchen nachweisbar. Erat 1104 vereinigt Markgraf Leopold III. nach der Ermordung des letzten Königsgrafen Sigehard beide Ämter in einer Person. Dies und die Vermählung dieses Fürsten mit der Kaiserschwester Agnes 1106 ist der Grund für den plötzlichen Aufstieg des Babenbergerhauses und letzten Endes für die Selbständigwerdung des österreichischen Territoriums geworden. Gegen 1150 hat dann Leopold III. Wien aus Königshand erworben.

Oettinger weist nun die Reihe der Stadterweiterungen unter den Babenbergern nach, deren es viel mehr gegeben hat, als man bisher annahm, und rekonstruiert die Reihenfolge ihrer Pfalzen, Ein bedeutendes Schlußkapitel ist dem Wahrzeichen unserer Stadt, St. Stephan, gewidmet. Auch hier kommt der Verfasser zu völlig neuen und überraschenden Schlüssen. Die bisher rätselhafte Baugeschichte des Domes wird aus dem Ringen der Landesherren mit den Bischöfen von Passau um ein Bistum in Wien mit einem Schlag erklärbar.

Mag auch manche der von Oettinger mit gebotener Vorsicht zur Di6ku6sion gestellten Thesen noch einiger Untermauerung bedürfen: im ganzen gesehen ist sein Buch ein großerWurf und sicherlich eines der b e-deutendsten und w i ch t i gs t en Werke zur Geschichte Österreichs in den letzten Jahrzehnten. Auch seine klare und lebendige Darstellung läßt eine breite Wirkung auf alle Forscher, Lehrer und Freunde der Geschichte und Heimatkunde Wiens und Österreichs voraussagen.

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