6555016-1948_17_01.jpg
Digital In Arbeit

Das zweite Lepanto

Werbung
Werbung
Werbung

In der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1571 wurde Papst Pius V. durch den Kardinalstaatssekretär geweckt. Eine außerordentliche Kunde war soeben über den päpstlichen Nuntius Facchinetti aus Venedig eingetroffen: die Türken waren bei Lepanto in einer Seeschlacht vernichtend geschlagen worden; von ihrer 300 Schiffe zählenden Armada war die Hälfte in einem taglangen Ringen zerstört, der Rest war geflohen.

Eine tiefe Bewegung befiel beim Empfang der Botschaft die Asketengestalt des fünften Pius, eine Erschütterung, die noch aus jedem seiner Worte sprach, als er frühmorgens des nächsten Tages den eilig zusammengerufenen Kardinalen und Gesandten mitteilte, Don Juan, der Halbbruder Philipps II. und Oberbefehlshaber der Liga, habe dem Halbmond eine entscheidende Niederlage bereitet, Italien sei aus seiner tödlichen Gefahr befreit. Ungeheuer war der Jubel, der in Rom, in ganz Italien aufbrach. Seit Monaten hatte das Land der erwarteten Entscheidung entgegengebangt, ihr entgegengefiebert: Würde das Ende Italiens nahe sein — welche Schrecknisse oder welche Befreiung barg die Zukunft? Und nun war di erlösende Kunde da!

Wie ein Paradoxon klingt die Behauptung, die in seinem Buche „Die Geburt des Abendlandes“ Henri Pirenne aufstellt: mit der Geburt Mohammeds, des Begründers des Islams, sei die Geburt des Abendlandes verbunden. Und doch ist es so. Der große Einbruch der Germanen in das römische Reich während der Völkerwanderung hatte die vom Mittelalter getragene Einheit der römischen Welt nicht zerstört. Binnen kurzem waren die Germanen romanisiert worden. Unter ihrer Herrschaft war das alte System des Rechts und der Verwaltung, war Latein als die von jedermann gesprochene und verstandene Sprache geblieben. Mit dem Einbruch des Islams war die antike Einheit des Mittelmeerraumes zerrissen worden. Das Meer hörte auf, Mitte zu sein und wurde Grenze. Zwei Jahre nach dem Tode Mohammeds beginnt der große Sturm des Islams, der ganz Nordafrika und Spanien erobert und erst in Südfrankreich haltmacht. Das Mittelmeer, von Osten, Süden und Westen vom Islam umklammert, wird gegen den Norden abgesperrt. Weitgehende Strukturveränderungen zieht für das Abendland diese Veränderung nach sich. Die Fahrt von den mohammedanischen Häfen zu den christlichen wird unmöglich, die Schiffahrt erlischt. Die Waren des Orients, Papyrus, Gewürze, Seide, verschwinden in Europa, sogar das öl in den Kirchen muß durch Wachs ersetzt werden. Die großen Handelsstädte verdorren. Das ganze bisherige Finanzsystem bricht zusam- den und damit der gesamte Verwaltungsapparat.

Zugleich vollzieht sich ein großer geistiger Umschwung. Mit den Städten verschwinden die Schulen, mit den Schulen die von allen verstandene Vermittlungssprache. In jenem Nordafrika, aus dem ein Tertullian und ein Augustinus ihre klassischen Bücher schrieben, tritt Arabisch an die Stelle der Sprache Roms. Mit dem Untergang der politischen Einheit des Mittelmeeres wird der Schwerpunkt von der bisherigen Mitte

— Italien — verdrängt. Während zweier Jahrhunderte versucht das mittelalterliche Abendland sich des Islams zu erwehren. Vergeblich. Ganz Nordafrika, weite Teile Spaniens, das Heilige Land bleiben unter der Herrschaft des Halbmonds. Um 1300 setzt der neue Stoß des Islams an: über den' Balkan hinauf nach Mitteleuropa und über Griechenland nach Italien. Durch 150 Jahre wird er auf dem Boden Österreichs aufgefangen. Der zweite Stoß richtet sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gegen üe apenninische Halbinsel.

Seit 1566 unter dem Einfluß des Kardinals Borromeo der Dominikanerkardinal Ghisleri 2mm Papst gewählt worden war, bildete die Abwehr der Türkengefahr das heiße Anliegen des neuen Papstes. Seine unablässigen Bemühungen waren auf eine Koalition aller katholischen Mächte gerichtet. Lange vergeblich. Deutschland war durch die Glaubensspaltung handlungsunfähig, Frankreich durch die Hugenottenstreitigkeiten, die Habsburger kämpften gegen die Türken schon in den eigenen Landen, Spanien hatte Schwierigkeiten in den Niederlanden und Venedig folgte seiner alten realistischen Politik. Es kam so weit, daß die Türken Malta überfallen und Ancona und Nettuno angreifen konnten. Ganz Griechenlands hatten sie sich bemächtigt. So ungebändigt war ihr Eroberungsdrang, daß sie dem seegewaltigen Venedig den Krieg erklären und nach Sizilien vorstoßen konnten.

Jetzt endlich, unter dem Druck dieser Ereignisse, einigten sich die großen christlichen Mächte des Mittelmeeres. Am 7. Mai 1571 wurde die Liga zwischen Spanien, dem Papst und Venedig geschlossen. In Neapel trafen sich die vereinigten Flotten. Am 16. September passierten sie Messina und nahmen Kurs gegen Osten, der Macht der Bedrängnis entgegen. Bei Lepanto, dem heutigen Nauplia, stießen sie auf die mächtige türkische Flotte. Unter den Zeugen und Mitkämpfern der Schlacht befand sich Miguel Cervantes, der Dichter.

Als die Abendsonne ihre letzten Lichter auf das mit Schiffstrümmern besäte Meer warf, war ein Sieg von weltgeschichtlicher Bedeutung errungen. Die Herrschaft des Ostens über das Mittelmeer war gebrochen. Rom, die Hüterin der Kultur und der Freiheit, konnte an die Spitze einer neuen Menschheitsepoche treten. Das christliche Abendland durfte aufatmen.

Abermals hat Italien ein Lepanto erlebt, eine gleich bedeutsame Entscheidung für Staatswesen und Geistesgeschichte. Auch diesmal stand gegen einen mächtigen Angreifer das Schicksal Italiens und der Zitadelle der Christenheit auf dem Spiele; auch diesmal war es eine Sichelgestalt, die der Gegner in seinem Abzeichen führte, und auch diesmal ging die Gefahr ganz Europa an. Und wie 1571 der Sieg über den großen Eroberer, dessen Reiterscharen schon über den Balkan und Griechenland gesprengt waren und ihre Fahnen schon auf den Türmen von Ragusa und Zengg aufgepflanzt hatten, konnte er auch diesmal nur durch die Vereinigung aller für das große Gemeinsame, zur Verteidigung der Freiheit und der abendländischen Kultur bereiten Kräfte erreicht werden. Die Niederlage aber traf auch diesmal einen Machthaber, der sich schon seiner Beute Italien sicher geglaubt hatte. Der Vergleich ist aber auch gültig, wo er auf die Zukunft weisend davor warnt, so wie die Liga jenes ersten Lepanto nach ihrem großen Siege untätig zu bleiben, indem jeder Verbündete seine eigenen Wege ging and Eigensucht und Rivalitäten die Früchte des Erfolges zum guten Teil vergeuden zu lassen. Die gelassene Sicherheit, mit der Degasperi, dieser Staatsmann, der in schwerster Zeit seinem Vaterland als ein Geschenk Gottes gegeben wurde, die parteidiplomatischen Aufgaben seines Amtes meistert, verspricht sich auch hier gegenüber solchen Schwächen zu bewähren.

Der Ausgang des großen Wahlganges in Italien, der den unbestrittenen Primat unter den Parteien den Christlichen Demokraten zuweist, erhält seine tiefste politische Bedeutung dadurch, daß er im Zeichen eines politischen Bündnisses zwischen christlicher Demokratie und verantwortungsbewußtem

Sozialismus gewonnen wurde. In diesem Zeichen redlicher Vereinigung der echten demokratischen Kräfte ist allen Aufbauwilligen für ein neues Europa der Weg gewiesen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung