6618577-1955_48_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Aufstieg des Abendlandes

Werbung
Werbung
Werbung

Angesichts des Zusammenrückens der Kontinente und angesichts der Zunahme eines geistigen Kontaktes zwischen dem morgenländischen und dem abendländischen Kulturkreis wirkt der Hader und wirken die- nationalen Rivalitäten in Europa reichlich altmodisch. Die Völker Asiens, die einst von Europa gelernt haben, beginnen allmählich, sich erhabener, weiser und größer zu dünken als ihr einstiger Lehrmeister. Eine geheimnisvolle Erwartung, daß Europa mit seiner der ganzen Welt geschenkten Kultur und Zivilisation noch nicht das letzte Wort gesprochen habe, klingt aber bei aller europafeindlichen Kritik durch. - Der geographische Begriff Europa muß nur einmal konfrontiert werden mit dem geistigen Gehalt, mit der kaum vergleichbaren geistigen Gestalt des Abendlandes. Hier in die Tiefe graben, heißt gleichzeitig ideenreiche Konzepte für die Zukunft entwerfen.

Das, was der Jugend heute vorschwebt, wenn sie sich für ein geeinigtes Europa gelegentlich begeistert, ist nicht eine Sache der Wirtschaftsgeographie, des Zolles oder des visumfreien Reisepasses, sondern eine Sache des noch nicht ganz verdrängten geschichtlichen Unterbewußtseins, daß eine zukünftige Rolle des Abendlandes nur gemessen werden kann an seiner eigenen großen Vergangenheit.

Sich auf eine solche positive und optimistische Weise — rückwärts und vorwärts schauend, besser mehr vorwärts schauend als rückwärts blickend — mit der Geistes- und Kulturgeschichte Europas zu befassen, ist das Werk eines nach Kanada emigrierten Oesterreichers, der in seinem Buch „A u f-

stieg des Abendlandes“ in Amerika und Europa größtes Interesse und vielseitige Zustimmung gefunden hat. Das zuerst (1952) in Kanada in französischer Sprache (La Manifestation de l'Occident) erschienene Werk liegt jetzt in einer erweiterten deutschen Fassung vor (Limes-Verlag, Wiesbaden). Wenn selbst der deutsche Bundeskanzler Doktor Adenauer sich die Zeit genommen hat, dem Werke seine staatspolitische und kulturgeschichtliche Bedeutung zu dokumentieren, so dürfte das allein schon ein Hinweis sein, daß dem vorliegenden Werke eine besondere Bedeutung zukommt. Der Verfasser A. Ch. DeGuttenberg versucht in 13 glänzend geschriebenen Kapiteln eine Reihe von tief eingewurzelten Vorurteilen zu beseitigen, um — mit Hilfe einer synthetischen Betrachtungsweise, gestützt auf das Forschungsergebnis von Linguistik, Archäologie, Anthropologie und Literaturwissenschaft — die verschütteten geschichtlichen Tatsachen ins rechte Licht der Gegenwart zu heben, dahinzielend, daß „ein deutliches Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der europäischen Menschen, ohne Unterschied der Volkszugehörigkeit oder deä Standes, aus der kirchlichen Idee eines europäischen Universalstaates herausgeboren wurde. Diese Idee nahm klare Formen an, als Europa und der ihm nun eigentümliche Christianismus nach der Ueberwindung der Hunnengefahr sich neuerdings dem arabisch-mohammedanischen Ansturm gegenüber befand“ (S. 373).

Das heißt mit anderen Worten: Der Verfasser versucht, wohlausgerüstet mit der entsprechenden Kenntnis der zuständigen Fachgebiete, zu zeigen, daß die Einigung Europas nicht sosehr eine Aufgabe der politischen Führung, sondern vielmehr des Aufweises einer schon längst dagewesenen geistigen und kulturellen Einheit ist. Die nationale oder nationalistische Zerklüftung Europas hat die Vorstellung erweckt, als ob es so etwas wie eine europäische und abendländische Einheit noch nie gegeben hätte. Jede Nation, jeder „politische Clan“ (S. 114) in Europa hat sich im Verlaufe der letzten 200 Jahre „seine Geschichte Europas“ gemacht, die nur den Zweck hatte, die eigene Nation zu verherrlichen. In Wirklichkeit gab es bereits lange vor der nationalen Aufspaltung eine europäische Einheit: Der Gottesname Dyaus im zweiten vorchristlichen Jahrtausend ist Zeuge für eine „völlig unanfechtbare Gemeinsamkeit auf religiösem Gebiete“. — „Wir besitzen dadurch die kostbare Gewißheit, daß schon in jener fernen Epoche ein großer Teil der Bevölkerung des Kontinents, der viel später erst Europa genannt wurde, eine Einheit im höchsten Ausdruck seiner Kultur, in der Religion, besessen hat“ (S. 123). Das hat schon J. G Frazer in seinem Sammelwerke „The Golden Boügh“ (1890) zu der Feststellung geführt, daß auf dem Gebiete des heutigen Europas „eine Zivilisation von einer bemerkenswerten Einheit herrschte“.

Es ist ein besonderes Verdienst des Autors, diese ursprüngliche Gemeinsamkeit der „Nordiker“, die Europa besiedelt haben, herausgestellt zu haben. „Die La-Tene-Periode bezeichnet die Vollendung der allgemeinen Indoeuropäisierung Europas“ (S. 279). Dahin weist die gemeinsame sprachliche Grundlage (indogermanische Sprachfamilie): das bezeugt die Aehnlichkeit der rassischen Merkmale der späteren Kelten, Germanen und Slawen im Lichte der anthropologischen und ethnologischen Forschung. Durch eine sorgfältige Untersuchung der mythischen und heroischen Literatur Europas (zum Beispiel Rolandslied und Nibelungenlied) wird weiter deutlich, daß ein „inneres geistiges Band die europäischen Men-

sehen und die europaischen Volker wie die Glieder einer Familie verbindet“ (S. 370). Das geistige Antlitz dieser Völkerfamilie wurde aber nicht durch die Kelten, Illyrer oder Germanen bestimmt, sondern durch die neuen Ideen und neuen religiösen Vorstellungen, die ihnen das Evangelium aus Galiläa brachte. „Der christliche Glaube, mit dem sich rasch 'und gründlich das erste große einheitliche europäische Kulturstreben verband, war der Baumeister, der das Haus des Okzidentes errichtete, das wir auch heute noch bewohnen“ (S. 208). Die Schaffung einer politischen Einheit unter den Völkern des Abendlandes (und dazu gehören nicht nur die in Europa wohnenden!) bedeutet auch nach Guttenberg nur das Wiederaufleben eines „biologisch und historisch begründeten Familiensinnes“ (S. 207).

Es ist kaum möglich, mit diesen kurzen Hinweisen den Reichtum des Buches glaubhaft zu machen. Es enthält ganz neue Gesichtspunkte für das geschichtliche Verstehen Europas. Es räumt mit so vielen

nationalen und chauvinistischen Vorurteilen auf, so daß sein Studium den Historikern ebenso wie den Politikern und Journalisten nicht genug empfohlen werden kann. Besonders zugute kommt dem Autor eine streckenweis glänzende Synthese sonst unabhängig operierender Wissenschaften, wie der Archäologie, Anthropologie und Ethnologie, Linguistik und Literaturgeschichte. Das Spezialistentum wird auch hier erst in der ganzheitlichen Schau fruchtbar und sinnvoll. Eine temperamentvolle Sprache, unbestechlich klares Denken und souveräne Verwertung eines reichen Materials der Fachgebiete macht die Lektüre des Buches zu einem Genuß.

Ich stimme Univ.-Prof. Dr. A. Dempf voll zu, wenn er in seiner eben erschienenen ausführlichen Besprechung des vorliegenden Werkes feststellt: „Ein höchst eigenwilliger, kämpferischer, aber bedeutender Denker greift mit diesem Buch energisch in die Bemühung um die Wiederherstellung des Abendlandes ein“ („Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesell-schaft“, 63. Jahrgang. 1. Halbband. München 1955. 229 Seiten).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung