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Der „Blick auf Marokko“

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Die dynastischen Beziehungen zu Spanien lenkten in Österreich durch Jahrhunderte die Aufmerksamkeit auf Spanien und seine Interessengebiete, die sagenhaften Länder um die Säulen des Herkules. Der Kampf gegen die Seeräuber und Barbaresken, die bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts von den Küsten Nordafrikas ausschwärmten und Handel und Sicherheit im westlichen Mittelmeer gefährdeten, verlieh diesen Bereichen einen gewissen romantischen Schimmer. Noch gemahnen die zehn Kolossalgemälde Vermayens im Wiener Kunsthistorischen Museum an die Eroberung von Goletta und Tunis durch die Truppen Karls V. und die Befreiung der 20.000 christlichen Sklaven aus allen europäischen Ländern, Symbol einer noch nicht zerbrochenen abendländischen Solidarität.

Während Maria Theresia ihr Augenmerk der Kolonisation im Südosten zu wendete, nahm ihr Sohn Joseph das Ideengut seines Ahnherrn Karl V. wieder auf und zog die mediterranen Ländergruppen in das Bereich seiner handelspolitischen Planungen: Triest sollte dafür das Ausfalktor bilden. Er gab dem jungen Triestiner Gelehrten Antonio Giuliani den Auftrag, die mittelländischen, auch afrikanischen Hafenstädte zu bereisen und nach ihren ethnologischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu untersuchen; da bat der junge Kaiser seine Schwester, die Königin Karoline von Neapel, Reisende aus Marokko, Tunis und Tanger mit besonderer Aufmerksamkeit zu empfangen.

Im Jahre 1783 erlebte der Kaiser die Genugtuung, daß der Sultan von Marokko, Ismael Chaseini, eine Gesandtschaft nach Wien schickte, um mit der österreichischen Regierung einen Handelsvertrag abzuschließen; schon früher war der kluge Potentat mit England, Holland, Frankreich und der Republik Venedig Verträge eingegangen. Die marokkanische Gesandtschaft wurde von dem Pascha von Tanger, Muhamed Ben Abdul Melag, geführt, einem gravitätischen ansehnlichen Herrn, der außer Arabisch auch etwas Französisch und Italienisch sprach. Die Ankunft der exotischen Gäste erregte in Wien Aufsehen. In ganz modern anmutender Weise war der bekannte Wiener Kupferstecher, Hieronymus Löschenköhl, der marokkanischen Reisegesellschaft bis nach Bruck an der Mur entgegengefahren, wo ihm der Pascha in eigener Person zur Porträtierung saß. Löschenkohl, stellte dann die vervielfältigten Bilder auf dem Kohlmarkt aus und erzielte mit ihnen unter den in Massen sich herandrängenden Wienern reißenden Absatz.

Als der Gesandte am 20. Februar 1783 in Wien eintraf und in einem Hause in der Nähe der Paulanerkirche abstieg, entstand ein lebensgefährlicher Zusammenlauf, der die Polizei zum Einschreiten nötigte. Der Pascha dankte der versammelten Menge von einem Fenster aus für die Ovationen, und schickte seinen Legationssekretär auf die Straße, um unter die Kinder Süßigkeiten auszuteilen. Im Gefolge des Fürsten befand sich seine Kammermusik und eine große Anzahl von Köchen.

Am 2. März wurde derGesandte vom Kaiser in Audienz empfangen. Er überreichte dem Monarchen den Entwurf eines Freundschaftsvertrages, der in lateinischer Sprache obgefaßt war, und der im Eingang der tiefen Trauer über den Tod der Kaiserin Maria Theresia Ausdruck gab, die als „große Mutter der Völker“ gepriesen wurde; bekanntlich war der Mariatheresienthaler in Nordafrika die Standardwährung. Das denkwürdige Vertragsinstrument, das der Gesandte überbrachte, hielt zwischen Österreich und einem fernen afrikanischen Land ein Abkommen fest, dessen wesentlicher Inhalt sagte:

österreichische und marokkanische Untertanen sollten freie Handels- und Schiffahrt in den beiderseitigen Ländern genießen. Die freie Ein- und Ausfahrt aller Waren sollte ohne Ausnahme erlaubt sein.

Die kaiserliche Flagge soll vor allen Kapereien der Marokkaner schützen und jeder einem kaiserlichen Schiffe etwa unabsichtlich zugefügte Schaden sollte ersetzt werden. Auch wurde jeder marokkanische Untertan verpflichtet, einem an der marokkanischen Küste gescheiterten kaiserlichen Schiffe Hilfe zu leisten. Schließlich enthielt der Vertrag auch Bestimmungen über die Herabsetzung von gewissen Zollabgaben im gegenseitigen Handelsverkehr. Als Geschenk des Sultans für den Kaiser überbrachte der Gesandte acht arabische Pferde mit reich vergoldetem Geschirr; er empfing als Gegengabe einen kostbaren Tafelaufsatz aus Porzellan und Silber und eine kunstvolle Uhr. Schließlich ernannte der Kaiser den Baron v. Tassara zu seinem Konsul in Marokko mit einem Gehalt von 4000 Gulden.

Kaiser Joseph rühmte im vertraulichen Kreise das würdevolle und bescheidene Auftreten des exotischen Gesandten, der sich auch unter europäischen Diplomaten sehen lassen könnte. Auch auf den Staatskanzler, Fürsten Kaunitz, machte der Pascha bei seiner Vorsprache Eindruck.

Die marokkanischen Herren erhielten zahlreiche Einladungen in die Salons des Wiener Adels. Als der Pascha an der Hoftafel speiste, wurde als besonderes Meisterwerk der Wiener Zuckerbäckerkunst die Stadt Tanger mit ihrem Hafen und den Festungswerken, in Zucker und Tragant modelliert, aufgetragen. Der Gesandte war entzückt. Er scheint denn auch bei aller orientalischen Zurückhaltung den Lockungen der Wiener Küche unterlegen zu sein, denn der kaiserliche Leibarzt, Hofrat v. Stoerk, mußte ihn von einer nicht unbedenklichen Magenerkrankung kurieren. Auch die Wiener Frauen übten ihren Zauber, denn zwei Mitglieder der Gesandtschaft — ihre Namen sind uns leider nicht überliefert —, blieben in der österreichischen Hauptstadt und heirateten Wienerinnen.

Außer den diplomatischen Verhandlungen und gesellschaftlichen Veranstaltungen beschäftigte den Gesandten auch das Studium der österreichischen Industrie; sein Sekretär hatte ihm eingehende Berichte über einige Zweige zu erstatten. Zumal die damals aufblühende Seiden- und Band Weberei auf dem Schottenfeld erregte sein Interesse. Auch wünschte der Pascha Wiener Ärzte und Wiener Musiker in seine Heimat mitzunehmen. Doch fand sich niemand, der sich zu dieser Reise entschlossen hätte.

Am 29. April erschien die marokkanische Delegation beim Kaiser Zur Abschiedsaudienz. Einem Augenzeugen und scharfen Beobachter, dem Zisterzianserpater Stefan Lichtblau von Hohenfurt, fiel es auf, mit welch undurchdringlichen Mienen die Orientalen in den Vorzimmern des Audicnzsaales auf die Fragen und Komplimente der Hofleute antworteten. „Sonderbarerweise“, so berichtet der Pater, „trugen nur der Pascha und seine vornehmsten Begleiter Pantoffeln. Die anderen Herren gingen trotz ihrer sonst prächtigen und überladenen Kleidung barfuß." Über Graz und Triest reiste die Gesandtschaft in ihre Heimat zurück.

Der Aufenthalt der Marokkaner in Wien hatte eine Flut von Broschüren und Flugschriften zur Folge. Die meisten beschäftigten sich im Geiste Rousseaus mit dem Gegensatz zwischen der Sensationslust und Neugier der Wiener, und der wirklichen oder vermeintlichen Herzenseinfalt der Afrikaner, die als schlichte, biedere Naturkinder gegenüber dem kulturverdorbenen Europäer dargestellt wurden. Aus diesem Geiste schrieb Johann P e z z e 1 seine berühmten „Marokkanischen Briefe" und Traunpauer seine „Beobachtungen eines Marokkaners in Wien“. Von Wert unter dieser naiven Geschäfts- und Tagesliteratur war nur die Broschüre des Statistikers Schweighofer „Einleitung zur Kenntnis der Verfassung der vereinigten Königreiche Marokko und Fes oder ein Blick auf Marokko“.

Unter den Wienern aber stärkte dieser lange nicht vergessene Besuch nach dem Beridit eines Zeitgenossen ein Staatsgefühl, das noch den Wert und die Bedeutung Österreichs nach der Weite der Entfernung maß, aus der jene Fremdlinge nach Wien gekommen’ waren. Joseph II. wurde als Cäsar Augustus gepriesen, zu dem die Gesandten barbarischer Länder als Bittsteller kamen. „Wien dürfe sich als Mittelpunkt der Welt ansehen“, schloß Sdiweighofer seinen Bericht über die marokkanische Gesandtschaft.

Die Marokkanergasse im 3. Bezirk, das heute verschwundene Marokkanerhaus in der Kramergasse und die Gasthäuser „Zum Marokkaner“ in der Gentzgasse und auf der Schottenbastei erinnerten Wien an seine erste diplomatische Berührung mit Afrika.

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