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Der gescheiterte Papst

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Die Zeitgenossen des Einsiedlers Pietro del Murrone, der kaum ein halbes Jahr lang Papst war und als solcher den Namen Coelestin V. wählte, schrieben zwar viel über ihn, diskutierten in größter Erregung das bislang unerhörte Ereignis einer freiwilligen Abdankung, die sie mit einem begeisterten Ja (Petrarca) oder einem verächtlichen Nein (Dante) kommentierten, aber sie verstanden ihn kaum. Dieser fromme Einsiedler aus den italienischen Bergen war durch ein ratloses Kardinalskollegium des Sommers 1294 gewählt worden, das durch die Parteiungen der Colonna und Orsini aufgespalten war. Die Kirche selbst stand, nachdem sie eben erst dem übermächtigen Patronat der staufischen Kaiser entgangen war, unter der nicht minder präpotenten Vormundschaft der französischen Anjou. In dieser Lage konnte der sichtbare Petrus-Nachfolger nur ein Mann sein, der den politischen Machtkampf entweder als ein energischer Herrscher mit Härte zu führen wußte, wie der später gewählte Bonifaz VIII., oder einer, der sich allen weltlichen Parteikämpfen als ein „engelgleicher“ zu entziehen verstand.

Coelestin scheiterte nach wenigen Monaten. Auch ein anderer an seiner Stelle hätte sich den politischen Kräften und Gegenkräften, die damals den Heiligen Stuhl umgaben, nicht zu entwinden vermocht. Selbst die herrisch sich aufbäumende, letzte Kraftanstrengung des mittelalterlichen Papsttums ah eines weltlichen Hirtenamtes, die Bonifaz VIII. vollbrachte, endete im Zusammenbruch. Die Zeit der Verbannung in Avignon zog herauf. Der französische König drängte auf

dem Konzil zu Vienne nicht nur darauf, Bonifaz VIII. im nachhinein zu verfluchen, sondern auch den engelgteicheu Coelestin V. als „Gegenbild“ demonstrativ heiligzusprechen. Zur Verfluchung kam es nicht, die Heiligsprechung wurde eingeleitet.

Vergessen sind heute die politischen Nebenabsichten des Königs und seiner kirchlichen Anhänger, die in Coelestin das Musterbild eines gefügigen, weitabgewandten Papstes, der das irdische Geschäft ganz den politischen Instanzen überließ, für die weitere Zukunft der Kirche aufstellen wollten. Aber geblieben ist das geheimnisvolle Zeichen, das der auch bei dieser Papstwahl, bei diesem Pontifikat anwesende Heilige Geist mit dem schwachen, armen Werkzeug des Einsiedlers Pietro gesetzt hat. Allen jenen Herrscherund Diplomatengestalten, jenen Juristen und großen Beamten, deren Pontifikats-jahre die Seiten der Kirchengeschichte anfüllen, steht der Gescheiterte, der Unwissende, der in seiner planlosen Güte fast Närrische entgegen Sein Bild hat die Jahrhunderte überdauert, das seiner erfolgreicheren Zeitgenossen ist verwittert und vergessen.

Giovanni Papini hat gewußt, was er sagen wollte, als er einem imaginären Zukunftspapst, dessen erdachte Briefe an alle Gruppen der Menschheit er entwarf, den Namen eines „sechsten“ Coelestin verlieh. Denn kein Papst hat seither den Namen des Heiligen gewählt. Wird sich in der Zukunft ein Petrus-Nachfolger unter dieses Namenszeichen stellen?

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