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Der größte Edelmann ...

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„... Graf von Flandern, Tirol und Barcelona.“ Seit der Zeit Karls V. stehen diese Worte am Ende des spanischen Königstitels, und sie deuten die Natur und die Ursache der habsburgischen Tragödie an. Wo ist der Sterbliche, der zugleich Flame, Tiroler und Katalane sein könnte? Das ist die Tragödie des Hauses Oesterreich: legitim, unabweisbar mit Aufgaben beladen zu werden, deren Erfüllung menschlicher Kraft unerreichbar ist. Die Sonne geht im Reich nicht unter — und eben daher ist jedes einzelne Land überzeugt, daß das Dasein des Reiches ihm den eigenen Fürsten vorenthält ... Dazu und vor all dem war Karl V. noch römischer Kaiser, legitimes Haupt der weltlichen Christenheit, Monarch des Erdkreises. Man hat bei seinem 400. Geburtstag viel an ihn erinnert — und nun bekommen wir das Buch eines Amerikaners. Der Autor war ein Amerikaner, der gerade Mitteleuropa aus eigener politischer Tätigkeit kannte, und so war er zur Abfassung des Buches wohl qualifiziert. Und wirklich liegt uns eine würdige Lebensgeschichte Karls V. vor.

Doch bevor wir das Buch selbst besprechen, wollen wir dem Uebersetzer ein Wort des Lobes spenden. Auch bei sprachlich gut übersetzten Büchern sind meist die Eigennamen ein Stein des Anstoßes, sobald sie einen Umkreis überschreiten. Ist der Uebersetzer kein gelernter Oesterreicher, dann verwechselt er etwa Lissa an der Adria, Lissa an der Elbe und Lissa in Polen; ist er aber einer, dann strauchelt er gewiß über die französischen Formen italienischer, westdeutscher, belgischer Familiennamen ... und so weiter. Hier aber sind Fehler dieser Art, soweit ich sehe, vollständig vermieden. Das ist kein kleiner Vorzug.

Das Buch ist nun dadurch vorzüglich, daß es die großen Linien von Karls politischem Leben wiedergibt, und doch auch die kleinen Züge des menschlichen Lebens. Was die großen Züge betrifft: der Kaiser hat erstens die Christenheit gegen die zwei Ungläubigen zu verteidigen — die Türken und die neugläubigen Christen; zweitens will er das Erbe des Hauses Burgund wahren und wiederherstellen. In allen seinen Kämpfen ist Frankreich der Feind. In Tylers Buch kommt Frankreich nicht gut weg: der König von Frankreich, der doch auch ein geweihter katholischer' Monarch, auch ein Erbe von Karls des Großen Frankenreich war. fördert bewußt und folgerichtig so Türken als Lutheraner; und bekommt von letzteren die lothringischen Bistümer. (Um eine Anerkennung sprachlicher Grenzen, wie T y 1 e r zu glauben scheint, handelt es sich natürlich noch lange nicht. Erstens wird der König von Frankreich zunächst in Metz nur — illegitimer — Vikar des Reichest Zweitens wird noch bis 1803 um die Marken von Ost- und Westfranzien gekämpft, ohne daß jemand sich um die Sprachgrenze gekümmert hätte — oder sie hätte ändern wollen.) — Was Karls persönliches Leben betrifft, scheint uns die Schilderung Tylers tadellos. Wir sehen, wie in der ritterlichen Kultur von Burgund — das heißt von Belgien — „der größte Edelmann, der je war oder je sein wird“, heranwächst. Und wir sehen auch, wie er zuerst zum römischen Kaiser wird: zum Kaiser im Sinn Friedrichs IL, zum Einiger Italiens! — dann aber zum Spanier ... Und zwar ist er nicht nur Kastilier, nur Madrilene, wie seine schwachen Nachkommen, sondern auch Katalane; jawohl, eben doch Graf von Flandern und Barcelona! — Kein Zweifel: Karl V. ist eine große abendländische Gestalt. Aber vergleichen wir die authentische Geisteswelt Karls — wie sie T y 1 e r beschreibt — mit dem Weltbild, welches manche für abendländisch halten: ein Bretterzaun bei Engerau, und dahinter Wilde. Karls Lieblingsschriftsteller, Olivier de la Marche, Autor von Rittergeschichten, nennt als den vornehmsten Mann der Welt — den Kaiser von Konstantinopel. Der war längst vor dem Fall von Byzanz ein almosenheischender armer Teufel: aber ritterliche Sicht mißt nach geldlichen Maßstäben nicht ! Und man wußte: das Ostreich war das ältere Kaisertum. Und daher war die Hauptaufgabe christlicher Ritterschaft die Befreiung von Konstantinopel — dies der Inhalt der Symbolik des Goldenen VliesesI —, und vor dieser Gefahr bewahrte Frankreich den Islam ...

Wenn aber das Reich auch nicht zwischen den Türken und den Franzosen erdrückt wurde, so war das die Wirkung der anderen islamischen Großmacht. T y 1 e r weist darauf hin, welche Bedeutung das schiitische Persien, restauriert durch die geheiligte Safawiden-Dynastie, für das Reich hatte — obwohl erst Rudolf II. mit dem Großkönig in diplomatischem Verkehr stand. — Es ist überhaupt ein Vorzug Tylers, erklärlich durch seine Karriere, daß er die diplomatischen Verhältnisse in richtigem Maßstab sieht. — Nichts ist leichter, als auch vergangene Dinge in der eigenen Perspektive zu sehen. Da wird denn ein englischer Autor alle Schattierungen der religiösen Politik Heinrichs VIII. wiedergeben, und die innerdeutschen Konflikte des 16. Jahrhunderts mit vagen, allgemeinen Sätzen erledigen; ein deutscher Autor wird auf alles eingehen, was zwischen Eisleben und Wittenberg, zwischen Halle und Eisenach los war — und wird sich verwundern, was denn der Kaiser in England eigentlich zu suchen hatte. T y 1 e r versteht es, das alles zu erzählen, ohne doch ermüdend oder konfus zu wirken. Er bringt auch weniger bekannte Episoden: so den Plan, nach Kaiser Maximilians Tod den König von Böhmen zum Kaiser zu machen. („Die römische Krone gehört auf die böhmische!“) — Für die verschiedensten Zweige der Geschichtsschreibung ist sein Buch interessant.

Es ist dankenswert, daß neben genealogischer Uebersicht auch Karten beigegeben sind; aber die Karten selbst begeistern uns nicht. Auf der größeren vermissen wir die Andeutung, daß die Balearen und Malta zum Reich Karls V. gehörten. Auf der kleineren, welche die Niederlande zeigt, wird zwischen den Niederlanden und dem Reich eine Grenze eingezeichnet: das ist, glauben wir, falsch — und schon gar für Karls Zeit. Wohl, der Kaiser und seine Nachfolger, Könige von Spanien, haben in Belgien souveräne Rechte ausgeübt (sie haben zum Beispiel belgische Fürsten kreiert); aber wenn sich sogar die abgefallenen Niederlande bis 1648 zum Reich rechneten, um wieviel mehr gehört der burgundische Reichskreis zum Reich! Da ist also — wieder einmal — ein späterer Zustand vorweggenommen worden. In diesen weitverbreiteten Fehler verfällt Tyler sonst nicht oft; nur etwa dann, wenn er das katholische Gefühl englischer Massen doch wohl unterschätzt — die „pilgrimage of grace“, den katholischen Volksaufstand, kurz abtut. Aber, und das ist ja das Fesselnde: auch Karl V. scheint das so gesehen zu haben: er sah die mächtigen protestantischen Lords — Besitzer von Kirchengut! — und nicht die erbitterten Katholiken im Volk, welchen keine wohltätige Klosterpforte mehr offen stand. Aber „das ist eine alte Geschichte — doch ist sie immer neu“, daß eine unpopuläre Diktatur von außen sehr viel fester, sehr viel endgültiger aussieht als von innen.

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