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Der „Job des neuen Testaments

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Verhältnismäßig spät in der Geschichte des Abendlandes dringt der Gedanke in das allgemeine Bewußtsein, daß Kultur nicht nur eine Sache privilegierter Kreise, sondern auch des einfachen Volkes ist. Erst im Zeitalter der Französischen Revolution bricht sich allmählich die Idee Bahn, daß auch das gewöhnliche Volk ein Anrecht auf alle Sparten der Kultur hat, eine Idee, die durch die Ausdrücke „Volksschule“, „Volksgärten“, „Volkstheater“, „Volksbildungshäuser“, ja sogar in der überspitzten Form von „Volksdemokratien“ bis in die heutige Zeit gekennzeichnet ist.

Angesichts dieser Tatsache ziemt es sich um so mehr, jenes Mannes zu gedenken, der, seiner Zeit weit vorauseilend, bereits an der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts auf dem so wichtigen Gebiet der Schule eine soziale Reform ersten Ranges durchführte, indem er den Elementarunterricht auch den einfachen Schichten des Volkes ermöglichte, lange bevor das Institut der staatlichen Volksschulen entstand, jenes Mannes, der daher mit vollem Recht als Begründer des Volksschulwesens angesprochen werden darf: des heiligen Josef Calasanz.

Am 11. September 1556 zu Peraka in Ara-gonien geboren, sollte der Sproß aus edlem Hause sich dem Soldatenberuf widmen. Mit Macht aber zog es ihn zur Hochschule und bereits mit 20 Jahren erlangte er den Doktorhut beider Rechte und der Theologie. Erst nach langer, gefährlicher Krankheit erhielt er das väterliche Einverständnis zur Ergreifung des geistlichen Berufes und war nach seiner Priesterweihe im Jahre 1583 neun Jahre als bischöflicher Sekretär, Visitator und Generalvikar in verschiedenen Teilen Spaniens tätig, überall eine energische Reformtätigkeit entfaltend. Einer inneren Eingebung folgend, begab sich der spanische Priester unter Hintansetzung aller angebotenen kirchlichen Würden nach Rom, wo er als Berater des Kardinals Colonna, als Prirjzenerzieher, als Beichtvater und unermüdlicher Mitarbeiter bei jedweder karitativen Tätigkeit bald stadtbekannt wurde.

Mit tiefblickender Intuition erkannte er hierbei als eine Hauptquelle allen sozialen Elends,

das ihm in den Armenvierteln Roms begegnete, die totale Vernachlässigung der Jugend, die vollkommen sich selbst überlassen war und nichts lernte als Betteln. Anfänglich glaubte er, durch den Appell an die Stadtbehörden, an die Privatlehrer, an verschiedene Ordensgenossenschaften, erreichen zu können, daß die Jugend der Gasse durch einen geregelten Schulunterricht zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werde. Aber der Gedanke war viel zu neu und ungewohnt, als daß er ein günstiges Echo gefunden hätte. Es gab ja die unentgeltlichen Sonntagsschulen für den Katechismusunterricht. Eine richtige Schulbildung aber, wie sie im Privatunterricht oder in den Schulen der Jesuiten oder Barnabiten zu erwerben war, mußte bezahlt werden und war daher nur Vorrecht höherer sozialer Schichten.

So schritt nun der 41jährige mit der ihm eigenen Entschlossenheit zur Selbsthilfe. In zwei armseligen Zimmern neben der Sakristei der Kirche von Santa Dorothea in Trastevere begann er im Herbst 1597 erstmalig den unentgeltlichen Elementarunterricht für etwa hundert Kinder des einfachen Volkes. Die erste Volksschule im neuzeitlichen Sinn des Wortes war entstanden, in der ihr Gründer zugleich Erhalter, Direktor, Lehrer und Schuldiener sein mußte. Von da an opferte Josef Calasanz dieser neuen Aufgabe alle seine Kräfte und wurde buchstäblich zum Bettler, um sein Werk erhalten und fördern zu können. Die neue Pflanzstätte der „Frommen Schulen“, wie er sie nannte, begann auch bald Jcräftig zu blühen, da sich mit der rasch ansteigenden Zahl von Schülern auch zahlreiche Mitarbeiter fanden, die, begeistert von der Neuartigkeit der Idee, ihre Hilfe antrugen. 1604 waren es bereits zwölf Priester, die im Geiste des Heiligen arbeiteten und 900 Schüler betreuten. Da an eine staatliche Organisation des neugeschaffenen Schulwesens noch nicht zu denken war, mußte sich Josef Calasanz selbst die Organisationsform für sein Werk ersinnen, und er fand sie in weitschauender Weise in der Bildung eines eigenen Schulordens, der im Jahre 1621 von Gregor XV. seine Bestätigung erhielt.

Im Laufe der Zeit verbreitete sich die Ordensgenossenschaft der Frommen Schulen (in deutschen Landen nach dem lateinischen Namen „Scholarum Piarum“ Piaristen genannt) über ganz Italien, Oesterreich, Polen, Ungarn, Spanien, Uebersee, ja momentan sogar in Japan. Die bahnbrechende Arbeit der Piaristen hat den Grundstein gelegt zum Aufblühen des katholischen Schulwesens, wie es durch Johann Baptist de la Salle, durch Don Bosco und die verschiedenen männlichen und weiblichen Schulorden weitergeführt wurde, hat maßgebend mitgewirkt zur Bildung des Volksschulwesens auf staatlicher Basis, wie es heute allgemein üblich ist, und ist damit zu einem Kulturfaktor von ausschlaggebender Bedeutung geworden. Im Mittelpunkt ihrer Erziehungstätigkeit stand immer das Bestreben, die Jugend nach dem Motto ihres Gründers „Pietas et litterae“ zu erziehen. Ehrfurcht vor Gottes Ordnung, sittlich charaktervolle Haltung, echte Frömmigkeit — also Seelsorge —, war die Zentralkraft dieser Schultätigkeit. Daß der wissensmäßigen Bildung dabei der zweite Platz eingeräumt war, gereichte ihr, wie die praktische Erfahrung zeigte, keineswegs zum Nachteil, denn die Piaristenschulen standen immer auf der Höhe des Fortschrittes, angefangen von der Zeit des heiligen Josef Calasanz, der selbst seine besten Lehrer zum greisen Galilei schickte, damit sie seine neuen Erkenntnisse sich aneignen, bis auf unsere Tage, wo etwa die neuerbaute Schule in Neapel als modernstes Institut Italiens angesehen wird. •

Bis zum Auftreten der staatlichen Konkurrenz war es unveränderlich festgehaltener Grundsatz der Frommen Schulen, allen Kindern ohne Unterschied den Unterricht unentgeltlich zu ermöglichen sowie jedem Schüler die Bücher und Lehrmittel bereitzustellen. Der Schultyp der allgemeinen, unentgeltlichen Grundschule mit normierten Lehrmitteln und Büchern, später als Volksschule bezeichnet, ist also ohne Zweifel eine Schöpfung des heiligen Josef Calasanz, deren Verbreitung um so größere Bedeutung zukommt, als sie ja nicht mit Schulzwang arbeiten konnte, vielmehr der Zug zur Schule durch besondere Tüchtigkeit und durch Anwendung erfolgreicher Methoden belebt werden mußte.

Hätte schon dieses eminent wichtige Werk praktischer christlicher Nächstenliebe, unter einer Unsumme von persönlichen Opfern ins Leben gerufen, dem Gründer der Frommen Schulen das Prädikat der Heiligkeit eingetragen, so war es noch besonders verdient durch die heroisch ertragenen Leiden seines Lebensabends, die nicht so sehr körperlicher als seelischer Natur waren. Neid und Mißgunst verschonten auch das Werk und die Person des großen Schulreformators nicht. Feindseligkeiten von Seiten der Privatlehrer, die um ihren Unterhalt bangten, und Rivalität in den eig'enen Reihen brachten es zuwege, den Heiligen als Ordensoberen abzusetzen, ja ihn in den Kerker der Inquisition zu bringen. Der Geist des Gottvertrauens, in dem er diese Demütigung ertrug, hat ihm. den Namen eines „Job des Neuen Testamentes“ verschafft. Immerhin durfte er seine Rechtfertigung und die Erneuerung seines fast zerstörten Werkes noch erleben. Als er im hohen Alter von 92 Jahren am 25. August 1648 verschied, umdrängten den Toten die Römer so sehr, daß die Schweizergarde den Sarg beschützen mußte.

Es konnte nicht ausbleiben, daß eine spätere Zeit die Verdienste des großen Volksbildners erst vollkommen würdigte. Hundert Jahre nach seinem Tode wurde Josef Calasanz von Benedikt XIV. in das Verzeichnis der Seligen aufgenommen und 1767 von Clemens XIII. heiliggesprochen. Benedikt XV bestätigte ausdrücklich, daß der Stifter der Frommen Schulen den Vorrang in der Einführung der kostenlosen Erziehung armer Kinder besitze. Die schönste Anerkennung der Bedeutung des heiligen Josef Calasanz ist aber wohl das Breve Pius' XII. vom 13. August 1948, wodurch der Pionier des Volksschulwesens zum „Patron aller christlichen Volksschulen auf dem ganzen Erdkreis“ ernannt wird mit der ehrenden Feststellung, daß er den „größten Vätern und liebenswürdigsten Lehrern der Jugend“ beizuzählen sei.

Wenn in Mitteleuropa infolge der radikalen Verstaatlichung des Schulwesens auch das ehemals blühende Werk der Piaristen schwer erschüttert wurde und dadurch auch die Gestalt ihres Gründers etwas in den Hintergrund getreten ist, so soll sein 400. Geburtstag, der nächstes Jahr begangen wird, doch sein Bild wieder in das richtige Licht rücken: als heiliges Vorbild in der auch heute noch so aufreibenden, zermürbenden und ermüdenden Arbeit im Kampf gegen die sittliche und religiöse Verwahrlosung der Jugend, als verdienstvollen Initiator der allgemeinen Schulbildung, die ihn in gleicher Weise in die Reihe der großen Sozialreformer wie der großen Pädagogen stellt, als Ahnherrn einer jener geistigen Dynastien, die als Orden in der Lage sind, die große Idee ihres Gründers über die Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weiterzutragen.

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