6729865-1965_46_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Marsch ins Nichts

Werbung
Werbung
Werbung

Wohl das traurigste Jubiläum des heurigen an Gedenktagen nicht gerade armen Jahres ist die 50. Wiederkehr der Armeniermassaker in Ana-tolien. Uberall dort, wo es heute Armeniergemeinden gibt — und die Diaspora der Armenier ist über die ganze Welt verstreut —, werden in diesen Tagen Trauergottesdienste, Gedenkfeiern und Schweigemärsche veranstaltet, um der Million Toten des Jahres 1915 zu gedenken.

Die Weltöffentlichkeit hat In den seither vergangenen fünfzig Jahren so viele Greueltaten erlebt, daß sie scheinbar abgestumpft ist und ang-sichts der fünf Millionen umgekommener Juden und der zwanzig Millionen Toten des zweiten Weltkrieges die gemordeten Armenier als „quan-tite negligeable“ betrachten könnte. Und dennoch sollte man sich ihres tragischen Schicksals besonders erinnern, war es doch das erste Mal in der neueren Geschichte, daß die Ausrottung eines ganzen Volkes zur offiziellen Maxime erhoben wurde. Zum erstenmal wurde die Doktrin des Gfh&iäs mit einer Präzision formuliert und ihre praktische Anwendung mit einer Gründlichkeit und Systematik organisiert, die einem Eichmann zur Ehre gereicht hätten. Vom Todesmarsch der deportierten Armenier durch die Syrische Wüste führt ein direkter Weg zu den Gaskammern von Auschwitz, zum Mord von Katyn und zur Vertreibung der Sudetendeutschen: die Wahnidee eines aufgestachelten, haßerfüllten Nationalismus, verbrecherischer Überlegenheitsdünkel aus völkischen, rassischen oder religiösen Gründen. Die Peiniger, Mörder und KZ-Schergen aller Völker sind alle Kinder einen Ungeistes!

Schon während der jahrzehntelangen Regentschaft des Sultan Abdül-hamid II. kam es zu gelegentlichen Armeniermassakern, so 1896 und 1909, denen jeweils eine große Auswanderungswelle folgte. Die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründete armenische Volkspartei „Daschanakzagan“ suchte und fand in dem revolutionären, jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“, welches für eine liberale Verfassung kämpfte, einen Gesinnungsgenossen gegen Absolutismus und Unterdrückung. Als die jungtürkische Bewegung 1909 die Abdankung des greisen Sultans erzwang und die Macht ergriff, erhofften einige der Armenierführer als Belohnung für ihre Gefolgschaft eine Neuordnung der Minoritätenpolitik. Ihre Hoffnungen sollten bitter enttäuscht werden! Den Kriegseintritt der Türkei benützten die Jungtürken, um im Frühjahr 1915 unter dem Vorwand kriegsnotwendiger Vorbeugungsmaßnahmen die Deportation aller Armenier nach Mesopotamien anzuordnen. Die armenischen Untertanen wurden pauschaliert zu Hochverrätern und subversiven Elementen erklärt. Offizielles Ziel der Fußmärsche war die Wüstenstadt Deir es Zor, in Wirklichkeit war es „das Nichts“, wie es in einem Telegramm des Innenministers Talaat an die Präfektur von Aleppo wörtlich heißt. Die mächtigsten Männer des „Komitees“, die Minister Enver-Pascha und Talaat-Pascha, waren die Initiatoren der Deportationen und Massaker, in deren Verlauf etwa eine Million Armenier verhungerte bzw. ermordet wurde. Der Tod der armenischen Minderheit war eine amtlich beschlossene Sache, die mit geradezu unorientalischer Exaktheit ausgeführt wurde. Die Schikanen der mit der gebietsweisen „Säuberung von Armeniern“ betrauten Zivilbehörden und die unvorstellbaren Grausamkeiten einer entmenschten Soldateska, die die endlosen Marschkolonnen zu bewachen hatte, sind in Augenzeugenberichten zahlreicher neutraler Beobachter und ausländischer Diplomaten festgehalten. Auch der zynische Ausspruch Talaats „La question armenienne n'existe plus“ ist historisch nachweisbar.

Das Weltgewissen vergißt rasch und leicht, und das von den Jungtürken geschaffene „fait accompli“ wurde von den meisten Großmächten bald akzeptiert. Im Interesse historischer Objektivität muß festgehalten werden, daß sich die mit der Türkei verbündeten Mittelmächte wiederholt und in schärfster Weise an die damalige türkische Regierung wandten und die Einstellung der Armenierverfolgungen forderten. Aber weder die Interventionen der strategisch auf sie angewiesenen Bundesgenossen noch die geharnischten Proteste der damals noch neutralen Vereinigten Staaten konnten die herrschende Schicht in der Türkei von ihrer Genocidpolitik abbringen. Lord Balfour, der Schöpfer der Doktrin einer „Nationalen Heimstätte“ für die Juden in Palästina, Briand, Clemenceau, Lenin, Lloyd George, Poincare und Wilson gaben feierliche Erklärungen zugunsten der Schaffung eines selbständigen armenischen Staates ab. In Wirklichkeit wichen die Siegermächte von 1918 in der armenischen Frage Schritt für Schritt zurück und rückten immer mehr von ihren Versprechen ab. War im Friedensvertrag von Sevres, 1920, mit der attomanischen Türkei noch die Schaffung eines „unabhängigen Armeniens vorgesehen“, dessen Grenzen unter der Patronanz des Präsidenten Wilson bestimmt werden und auf alle Fälle einen Zugang zum Meer (den Hafen von Trabzon) mit-sinschließen sollten, so war bei den Nahostkonferenzen von London, 1921, und Paris, 1922, bereits nur noch von einem „national home“ für die Armenier im Osten der Türkei die Rede, und zwar innerhalb von Grenzen, die durch eine Völkerbundskommission festgelegt werden sollten. Der Friedensvertrag von Lausanne, 1923, mit der kemalistischen Türkei erwähnt schließlich die Garantien für die wenigen noch verbliebenen Armenier mit keinem Wort: die „armenische Frage“ existierte nicht mehr!

Es mutet wie ein Hintertreppenwitz der Weltgeschichte an, daß die Armenier in der neueren Geschichte als staatsbildendes Volk nur im Rahmen jenes Staatenbundes auftreten konnten, in dem ganze Völkerschaften liquidiert wurden, in der Sowjetunion. Die Sowjetrepublik Armenien ist trotz ihrer Scheinsouveränität eine nationale Heimstätte der armenischen Kultur und Sprache geworden. Universität und Akademie der Wissenschaften der Hauptstadt Erevan halten jedem Vergleich mit westlichen Anstalten stand. Die armenischen Dörfer sind auch für europäische Begriffe Mustersiedlungen und die Tüchtigkeit des armenischen Bauern läßt selbst unter einem kommunistischen Zwangsregime „Wasser aus den Wüstenfelsen hervorquellen“, wie ein altes armenisches Sprichwort sagt. Deswegen blicken die in allen Teilen der Welt seßhaft gewordenen Armenier voll Stolz und wohl auch mit ein bißchen Wehmut auf das kleine Land am Fuße des Kaukasus, das heute noch ihren Namen trägt. Nichts wäre jedoch falscher als zu glauben, daß die Exilarmenier eine Art „Fünfte Kolonne“ der kommunistischen Sowjetrepublik seien. Wer könnte Tyrannei und Diktatur mehr verabscheuen als das armenische Volk?! Das kaukasische Armenien ist für den in Beirut, Paris oder New York lebenden Armenierabkömmling das „Land seiner Väter“, „Haik“, die alte Heimat, auch wenn er selbst nie dort gewesen ist. Es sind religiös-traditionelle Motive, die sentimentale Bindungen zu dem Land schaffen, in dem der Patriarch aller gregorianischen Armenier seinen Sitz im berühmten Heiligtum Edschmiadsin, westlich von Erevan, hat, und nicht politisch-nationale. Der politische Traum eines völlig selbständigen Armeniens ist bei den realistisch denkenden Armeniern ausgeträumt.

Wo immer heute auf der Welt Armenier in größeren Gruppen leben, sind sie integriert in Land und Volk. Sie sind loyale Bürger ihrer neuen Heimat, und die Tatsache, daß sie sich in den verschiedensten Ländern der Welt so gut eingelebt und es dank ihrer Begabung und Ausdauer „wieder zu etwas gebracht haben“, mag ein zwar geringer, aber doch heilsamer Trost für das ihnen zugefügte Leid sein. Die gewaltigen Erfolge auf allen Gebieten, die der Selbsterhaltungswille eines alten Kulturvolkes auch in der modernen Industriegesellschaft erzielt hat, haben die Weltöffentlichkeit das Bild vom „gerissenen armenischen Teppichhändler“ längst revidieren lassen. Daß mit der zweifellos vorhandenen natürlichen Assimilierungstendenz die Armenier viel von ihrer völkischen Eigenart und ihren Gebräuchen einbüßen, ist zwar bedauerlich, aber unaufhaltsam!

Die in der Türkei, vornehmlich in Istanbul ansässigen Armenier leben heute in Ruhe, Frieden und Wohlstand als gleichberechtigte türkische Staatsbürger. Sie haben wie in England, Frankreich, in den USA und im Libanon ihre eigenen Kirchen, Schulen, Spitäler und Zeitungen. Mit aller Deutlichkeit sei hier festgestellt, daß die demokratische Türkei mehrmals und mit Nachdruck die fatale Politik der autoritären Komitees der Jungtürken verurteilt hat. Die Armeniermassaker in Anatolien gehören endgültig der Geschichte an, und niemand hält es für angebracht, die Schatten der Vergangenheit heraufzubeschwören. Wenn die Armenier heuer in Ehrfurcht ihrer Toten des Jahres 1915 gedenken, so tun sie dies ohne Haß und Feindschaft. Sie wollen lediglich das Gewissen der Völker einer in feindliche Blöcke gespaltenen Welt aufrütteln, damit die Menschheit endlich einmal aus der Geschichte lerne und nie wieder einem mörderischen Nationalismus oder Rassenwahn erliege. Dann wären die Opfer des armenischen Volkes nicht vergeblich gewesen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung