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Der Pilger und die Nonne

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Istanbul, Anfang August 1957

Anno Domini 1774 wurde dem Bauern Bernhard Emmerich zu Flamske bei Koesfeld in Westfalen als fünftes Kind eine Tochter geboren, der man bei der Taufe den Namen Anna Katharina gab.

Heute ist dieser Name wohl jedem der zahlreichen Pilger bekannt, die den Tag der Himmelfahrt Mariä gleichsam an Ort und Stelle mitfeiern wollen und deshalb den beschwerlichen und heißen Weg nach Ephesus angetreten haben. Denn bald schon erlebte das unscheinbare und auch nicht sonderlich gebildete Mädchen aus Westfalen Bilder, Visionen, die ihr ganzes Leben erfüllen sollten. Darin sah sie und erlebte sie die ganze Heilsgeschichte vom Beginn der Schöpfung, begleitete sie Christus und die Apostel auf all ihren Wegen und wußte auch über Maria eine Menge zu berichten, was zunächst unkontrolliert bleiben mußte, zumal außer dem Beichtvater Katharinas kaum jemand Kenntnis davon hatte.

Wie dies in solchen Fällen üblich ist, verhielten sich die kirchlichen Behörden zunächst abwartend; dann überprüfte man Person und Worte. Das Ergebnis war in beiden Fällen keineswegs negativ.

Allgemein oder doch weiter bekannt aber wurden die Visionen Katharinas, die inzwischen Klosterfrau geworden war, durch eine — fast möchte man sagen — historische Begegnung. 1818 kam jemand nach Dülmen, wo Katharina krank darniederlag, den sie stets nur den „Pilger” nannte. Der „Pilger” begleitete sie durch ihr ganzes ferneres Leben und nahm darin solch eine wichtige Rolle ein, daß Katharina von ihm sagte: „Ich weiß, daß ich längst schon gestorben Wäre, wenn nicht durch den Pilger alles bekannt werden müßte. Er mußte alles aufschreiben, denn die Prophezeiung ist meine Bestimmung.”

Dieser Pilger aber war Clemens Brentano.

Aus seiner Feder, welche die Worte Katharinas treulich wiedergab, stammt jenes Buch von weit über tausend Seiten, das den Titel führt: „Das arme Leben und bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi und seiner heiligsten Mutter Maria nebst den Geheimnissen des alten Bundes nach den Geschichten der gottseligen Anna Katharina Emmerich.” Fast würde man meinen, in einer altertümlichen Reisebeschreibung zu blättern, wenn man über das Problem des Aufenthaltes der Gottesmutter in Ephesus die bildhaften Worte liest:

„Die Wohnung der heiligsten Jungfrau lag nicht in Ephesus selbst, sondern drei bis vier Stunden davon entfernt an einer Höhe, wo schon mehrere Christen aus Judäa und darunter ihnen verwandte heilige Frauen sich angesiedelt hätten. Zwischen dieser Höhe und Ephesus schlängelt sich in vielen Krümmungen ein Flüßchen. Die Höhe fällt schief gegen Ephesus ab, welches man von Südost. kommend an einem Berge wie dicht vor sich liegen sieht, das sich aber ganz herumzieht, wenn man weitergeht.. . Die Gegend war sehr einsam und von niemand sonst besucht; auch führte keine Landstraße durch. Die Leute in Ephesus kümmerten sich nicht um die Ansiedler und sie waren wie vergessen. Der Boden war fruchtbar. Die Ansiedler hatten .einige Gärten und Obstbau. Von Tieren sah ich in der Gegend nur wilde Ziegen.

Ehe Johannes die heiligste Jungfrau nach dieser Ansiedlung geleitete, hatte er für sich ein dem Hause zu Nazareth sehr ähnliches Wohnhaus aus Stein bauen lassen. Es lag zwischen Bäumen und war durch den in der Mitte angelegten Feuerherd in zwei Räume abgeteilt. .. An den beiden Seiten der Feuerstelle war dieser vordere Raum des Hauses durch Wände von Flechtwerk von dem dahinterliegenden Raume abgeschlossen; und außerdem waren in seiner ganzen Länge nach rechts und links an den Wänden Schirme von Flechtwerk aufgestellt, welche kleine Zellen bilden und leicht wieder entfernt werden konnten, wenn der ganze Raum frei werden sollte. In diesen Zellen schliefen die Magd Maria und die in der Ansiedlung lebenden heiligen Frauen, wenn sie zu längerem Besuche kamen.”

Es folgt eine detaillierte Beschreibung des Hauses und des Lebens Mariä. Fromme Seelen lasen diese Berichte und erbauten sich daran, sonst aber trugen diese Privatoffenbarungen Katharinas rein privaten, um nicht zu sagen lokalen Charakter. Sechsundsechzig Jahre nach dem Tod der Ordensfrau, die in ihrem ganzen Leben nicht aus Deutschland hinausgekommen war, im Novr,rnh’ r des Jahres 1890, gelangte der französische Text des „Lebens der allerseligsten Jungfrau Maria” zu den Lazaristen nach Smyrna.

Pater Jung, ein kritiscjj denkender Lazarist, der den Dingen auf den Grund gehen wollte, stellte eine Forschungsgruppe aus namhaften Gelehrten zusammen und machte sich bald auf den Weg nach Ephesus. Dies um so mehr, als die Worte der Visionärin aus Westfalen mit der lokalen Tradition übereinzustimmen schienen. Die letzten Nachkommen der christlichen Ephesier, Kirkinjoten genannt, welche zur Zeit der Seltschukeninvasion im 11. Jahrhundert in die Berge geflüchtet waren, feierten trotz der gegenteiligen Ansicht der orthodoxen Kirche alljährlich am 15. August auf dem Bülbüldag (Nachtigallenberg) das Entschlafen Mariä.

Dazu kam die Johannesüberlieferung, die — nach dem Schweigen der Apostelgeschichte über die Jahre 37 bis 48 — Kleinasien einstimmig zum Missionsgebiet des genannten Apostels erklärt, ferner das Zeugnis Tertullians, demzufolge Johannes schon sehr früh nach Kleinasien gekommen ist.

Daß ferner in Ephesus selbst seit dem dritten Jahrhundert eine große Marienkirche existierte, in welcher 431 das Konzil stattfand, legt ebenfalls den Schluß nahe, daß Maria in Ephesus gelebt hat — und vielleicht auch dort gestorben ist. Auch den Hirtenbrief der Konzilsväter an den Klerus von Konstantinopel (Istanbul), der die allerseligste Jungfrau und den Apostel Johannes, den Theologen, erwähnt, kann man ebenfalls in die Reihe der positiven Zeugnisse einreihen.

Und auch die nestorianische Kirche (syrisch- jakobitische Kirche) ist seit dem 8. Jahrhundert stets der ephesischen Tradition gefolgt, eine Tatsache, die außer von verschiedenen Forschern auch von Papst Benedikt XIV. als ausschlaggebend angesehen wurde.

Auch der (erst kürzlich geänderte) türkische Name des kleinen Dorfes bei Ephesus, Ayasoluk, kann unter Umständen herangezogen werden, stellt er doch den letzten Rest des stark verstümmelten griechischen Wortes „Aios = Hagios, Theologus” dar.

Einige Tage suchte die Forschungsgruppe Pater Jungs vergeblich, aber am 29. Juli 1891 fand sie Oertlichkeiten und Ruinen, die mit den • Visionen Katharina Emmerichs in verblüffender Weise übereinstimmten. Die Privatoffenbarungen der unscheinbaren westfälischen Nonne, verkündet durch den „Pilger” Brentano, ließen die katholische, aber auch die wissenschaftliche Welt aufhorchen.

Seither ist viel geschehen. Aus dem provisorischen Schutzdach, welches man 1892 errichtete, um die Reste zu erhalten, wurde eine totale Restaurierung, die eine vom Erzbischof von Smyrna ins Leben gerufene Vereinigung durchführen ließ.

Selbstverständlich ist auch heute das Problem, ob Maria in Jerusalem oder in Ephesus starb, noch nicht endgültig gelöst. Es ist wohl auch unmöglich, darüber ein apodiktisches Urteil zu fällen. Die Archäologie hüllt sich verständlicherweise in ein zum Teil hilfloses Schweigen. Prof. Miltner, der gegenwärtige Ausgräber von Ephesus, zuckte, darüber befragt, bloß nichtssagend mit den Schultern und meinte dazu: „Vielleicht…”

Immerhin besagt auch dies schon viel. Denn daß die Ruinen aus dem ersten Jahrhundert stammen, dürfte kaum noch jemand ernstlich in Frage stellen wollen. Viel mehr aber kann ein wissenschaftlicher Sachverständiger kaum darüber sagen.

Trotzdem ist das letzte Wort über Ephesus noch nicht gesprochen. Noch hat man. beispielweise den Kreuzweg, welchen Maria nach Aussage Katharina Emmerichs zum Gedenken an den letzten Gang Christi anlegte, noch hat man ihn nicht aufgefunden. Noch sind manche Teilfragen nicht befriedigend gelöst, welche die Wahrscheinlichkeit fast zur Gewißheit werden lassen könnten.

Für den rein religiösen Sektor haben sie vielleicht nur wenig Belang, da den gläubigen Katholiken nicht der geographische Ort der Himmelfahrt, sondern allein die Tatsache selbst interessiert. Trotzdem sollte man die Frage in ihrer Bedeutung für den einzelnen Gläubigen nicht unterschätzen, der bescheiden vor dem Haus der Mutter Gottes steht, der erkennt, daß von der sogenannten „Wissenschaft” wenn schon keine Zustimmung, so doch auch kein Einwand geltend gemacht werden kann.

Endlich sei noch einer Tatsache gedacht. Des Einflusses nämlich, den ein jährlich zunehmender Pilgerstrom auf das mohammedanische Land ausüben könnte. Und wenn man ihn gewiß nicht zu hoch ansetzen darf, so ist er doch sicherlich auch nicht zu unterschätzen.

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