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Der spielende Mensch

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Der holländische Kulturphilosoph Jan Huizinga, einer der geistvollsten Männer der letzten Jahrzehnte, brachte im Jahre 1939 ein. Werk heraus, dem er den Titel „Homo ludens“ (Der spielende Mensch) gab. In diesem außergewöhnlichen Buche erbringt der Gelehrte den Beweis, daß ein Aufsteigen in höhere Formen der Kultur mit dem allen Menschen und Tieren innewohnenden Spieltrieb verbunden ist. Man hat dem Menschen des 18. Jahrhunderts den Beinamen „Homo sapiens“ (Verstandesmensch) gegeben. Mit dem Aufkommen vieler Fabriken fand man die Bezeichnung „Homo faber“ (Arbeitsmensch) am Platz. In vielen Lebenslagen verblieb der Mensch jedoch ein spielender. Der Verstandesmensch und der Arbeitsmensch vermögen auf die Dauer, wenn sie nicht an sich und an ihrer Gemeinschaft Schaden nehmen wallen, auf den spielenden Menschen nicht zu verzichten, Oder abstrakt gesagt: dem modernen Kul.urzerfal! müssen wir diejenigen Kräfte entgegenstellen, die das seelische, gfmütsm"ßige und geistige Leben erhalten. Unter diesen Kräften stellt Huizinga das Spiel im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes heraus und kommt damit den österreichischen und alpenländischen Anlagen im besonderen entgegen.

Huizinga wurde als eine der hervorragendsten geistigen Persönlichkeiten Hollands im Jahne 1942 von der Besatzung als Geisel tn Haft gesetzt und dann fern seiner Universität und Wirkungsstätte verbannt. Im selben Jahre erschien der erste Band der Bozner Bürgerspiele. Huizinga ließ mich daraufhin wissen — ein persönlicher Briefwechsel war uns beiden verwehrt —, er bedaure, meine Charakteristik des Volksschauspiels und des volksmäßigen Pranggefühls ' nicht vorher kennengelernt und auch ui den Reichtum, die Vielfalt und die Zusammenhänge des alpenländischen Volksschauspielwesens nicht früher genügenden Einblick gewonnen zu haben, sonst hätte er diese Erkenntnisse in seinem Buche stärker berücksichtigt. Aber vielleicht könne er doch das noch bei einer Neuauflage nachholen. Huizinga starb knapp vor Beendigung des Krieges. Mit ihm wurde seine beste Absicht und eine frohe Hoffnung zu Grabe getragen.

Huizinga betrachtete unser Volksschauspielleben wohl vornehml’ch vom nieder- ländisdi-burgundischen Großraum aus, jenem Reiche, das Karl der Kühne seiner Tochter, der Braut Kaiser Maximilians I. hinterlassen hatte. Es reichte von der Kanalküste bis nach Vorderösterreich, und dieses Vorderösterreich war damals schon mitsamt Tirol Maximilian zu eigen geworden. Die alpenländische Handelsstadt Bozen stand damals in derselben Geltung wie die großen Plätze der Niederlande. In Brauch und Spiel, berührten sie sich eigentümlich. Die alte Kulturstraße vom Brenner übers Schwäbische den Rhein hinab schien damals große Tore für Tirol zu öffnen. Die auftrittsreichsten Bozner Umgangsspiele fanden bei den Freiburgern im Breisgau eine Nachbildung, die jahrhundertelang in Ehren bestand. In der Spielgeschichte der Ostalpenländer stellt dieser einen Bozner Gipfelpunkt, jedoch nur einen neben manchen anderen aus der Zeit der Spätgotik und des Barocks dar.

Das Spiel ist aus Urtrieben, menschlichen Lebensverhältnissen und Erkenntnissen entstanden. Der Spieltrieb fand im kultischen Rahmen seinen tiefsten Gehalt und seine gemessenste Gestalt. Wir sehen den Spieltrieb von Anfang an rieh mit dem Streben nach Form, nach Kunst verbinden, den Lebenswillen mit Geisteskraft. In vielen noch heute bestehenden Bräuchen bestehen die besten Ansätze zum Schauspiel, so, wenn der Kampf zwischen Düsterheit und Licht dargestellt wird oder ein junges Ortsereignis in Form einer Gerichtsverhandlung zur Belustigung dienen muß. Unsere besten

Vertreter des realistischen und naturalistischen Schauspiels, Franz Kranewitter und Karl Schönherr, sind von diesen Ansätzen ausgegangen und haben das österreichische Volksstück zu großen Erfolgen geführt. Am Anfang des Spiels stehen aber auch die religiösen Handlungen. Wenn die Geistlichen mit ihren Singknaben ihre Verehrung des neugeborenen Christkinds veranschaulichen wollten, zogen sie vor eine Statue, die Mutter und Kind darstellte, sangen abwechselnd Lieuer und brachten ihre Opfer dar, bis sie an Stelle der Statue einen Kleriker in Gewändern, wie man sich 'Maria vor- stellte, setzten und dieser auf Rezitation und Gesang antwortete Allmählich wurden in diese Andacht Laien hereingezogen, der Nährvater dargestellt, die Wechselreden erweitert und stückweise in der Muttersprache vorgebracht, bis im Rahmen des Gottesdienstes ein Spiel bestand. Der Spielbetrieb, der auf der Gasse nicht gehemmt war, brachte manche weltliche Art in die geistlichen Feiern. Er sprengte den liturgischen Rahmen, er vermenschlichte die Erlösungsgeschichte. Um das Jahr 1330 mögen solche Feiern zu Ostern und Weihnachten die Klosterkirchen von Innichen und Neustift bei Brixen erfüllt haben. Um 1400 gingen sie mit dem aufstrebenden Bürgertum in die Hände der Patrizier über, zunächst in Hall und Sterzing, vielleicht erst später in Bozen, Klausen, Bruneck, Schwaz, Rattenberg, Kitzbühel und vereinzelt auch in Meran und Lienz, wahrscheinlich noch in anderen Städten und Märkten entlang der großen Verkehrsrichtungen.

Während diese Bürgerspiele ihre größte Entfaltung um 1500 erreichten, drängte sich der vierte Stand, der kleine Handwerker, der Bergknappe und sonstige „Bergverwandte" vor. An Stelle der tagefüllenden Gemeinschaftsaufführungen in nnd vor der Kirche während deren Hauptfesttage, veranstalteten diese Leute vornehmlich in der Fasnacht kleine Spiele, biblische Exempelstücke und Moralitäten, aber auch derbsaftige Schwänke in Stuben und auf freien Plätzen und trugen damit ihre Ideen ins Volk. Schulmeister, Chordirigenten, Kunsthandwerker führten sie gerne an. Schon 1521 lesen wir von einer fahrenden Spielgesellschaft aus Meran, die in Bozen auftrat, bald darauf meldeten sich die Gossensaßer Bergknappen in Sterzing, die

Jochberger und Kirchberger Bergknappen der Nachbarschaft von Kitzbühel und vor allem solche von Schwaz. Großen Eifer entfaltete der Sterzinger Faßmaler Vigil Raber als Veranstalter von Fasnachts- und Handwerkerspielen, wie er auch noch als Kunsthandwerker, Spielbearbeiter und Spielanführer an den großen Bürgerspielen von Sterzing, Klausen, Bozen, Cavallese und Trient hervorragend beteiligt war. Er brachte das erste Spielarchiv zusammen, das bis in die letzten Jahre in Sterzing behütet werden konnte, und mag auch als der erste Spielverleger gelten.

Der Gruppe von Bergknappen müssen wir noch besonders gedenken, weil sie in regem Austausch mit ihren Berufskameraden in den Sudeten und Karpathen stand und, als die Wiedertäuferbewegung viele kleine Leute im Lande erfaßte, mit diesen in Zehntausenden unter Führung Jakob Hüters nach Mähren und Deutsdi- ungarn auswanderten. Etliche ihrer Spiele aus der Alpenheimat hielten diese Auswanderer bis in das Jahr 1938 in Preßburg, Oberufeeu. und anderen Volksinseln des Ostens in Ehren derart fest, daß wir darin deren Gestalt aus der Zeit vor 1600 wiedererkennen.

Mitte des 16 Jahrhunderts hören wir von den ersten ländlichen Spielen zunächst in Wattens, bald darauf in Fließ, in Riffian und anderen, im heutigen Spielleben selten genannten Dörfern Es sind zufällige Erwähnungen, die nur mehr ein Mosaikbild zulassen. Den neuen Auftrieb des Volksschauspiellebens verdankt Tirol der kirchlichen Restauration und den Reformorden, der barocken Kulturbewegung und der Fernhaltung des Dreißigjährigen Krieges. Was im Barock an künstlerischer Begabung sieb durchsetzt, in Spiel und Plastik, in Bild und Architektur, überbietet weit die spätgotischen Spit zenleistungen. Zwischen 1650 und 1750 gab es kaum eine Gemeinde im bajuwarischen Tirol, die nicht von Zeit mit einer solchen Feier hervo/zrat-. Was die Jesuiten in Schulkomödien und Hofspielen, in Szenerien und Ausstattungen hervorbrachten, wußten die Wiltener Prämonstratenser in ihren Seelsorgegemeinden rund um Innsbruck zu ver- volkstümlichen. Ähnliche Mittelpunkte bildeten Stams, Neustift bei Brixen und endlich Marienberg im Vintschgau. So heimatbewußt die Religiosität ausgestattet wurde, so inernational war ihre Stoffwelt und ihr Stileinfluß. In den ersten Jahrzehfiten des 17. Jahrhunderts werden Erl, Silz und Landeck-Zams, Mitte desselben Jahrhunderts Patsch, Axams und viele andere Orte als herkömmliche Spielgemeinden genannt, von denen noch heute manche einen rühmlichen Namen führt.

Wie ein Sturm fegte der aufgeklärte Abso. lutismus die überreichen und verwelkenden Blüten dieser Spielkultur hinweg. Die Unterdrückung galt nach dem Gesetz bis ins Jahr 1848; aber schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Ausnahmen gemacht und die Vorschriften immer mehr umgangen. Aus den Spielgemeinden wurden Theatergesellschaften, wie solche zum Beispiel noch heute in Axams, Erl und anderen Orten bestehen. An Stelle der Passionsspiele traten solche von der Dulderin Genoveva, von der Griseldis und Itha von Toggenburg, Ritter- und Räubergeschichten, Stücke von Iffland, Kotzebue und ähnlichen Berufsschreibern. Nur einzelne Orte nahmen ihre alten Überlieferungen wieder auf. In Erl, Thiersee, Sarnthein lebte das alte Tiroler Passionsspiel nochmals fort. In Bauerndramatikern, wie Josef Sdimalzl aus Brixlegg, Vitus Augetti aus Fulpmes in Sdawaz, Peter Raß aus Laas, im Vintsdigau, entstanden fruchtbare Bauerndramen. Die harten Wintermonate drängen manchen Maurer aus dem Vintsdigau dazu, sich zu einer Spielgesellschaft zusammen- zutum. Prettauer bespielen mit ihrem Knappenerbe das Ahmtal und dessen Nadibar- schaft. Auch Puppenspieler halten sich noch.

Das Jahr 1848 brachte dem Volksschauspiel neue Beweglichkeit. Aber zugleich setzt das Vereinswesen ein, so daß die alte Gemeinschaft nur selten mehr zustande kommt. An Stelle des Spiels tritt vielfach das Dilettantentheater. Bahnbau und Fremdenverkehr begünstigen im Zeitalter Defreggers das Salon- tiroJertutn der Nationalsänger und Bauerntheater. Die städtische Teilnahme wendet sich dem „Urwüchsigen" und „Kraftvollen“ zu. 1903 entsteht Exls Tiroler Bühne. Ein Jahr darauf schickt sich der Fulpmer Tischler Ludwig Hupfauf mit Schmieden, anderen Handwerkern und Bauernburschen an, das „Stubaier Bauerntheater" aufzuriditen. Gelehrte vom Rufe eines Minor, Brandi, Kutscher und Reich anerkennen seine Leistung.

Nach Beendigung des ersten Weltkriegs schien die Zeit für das Laienspiel der Jugend angebrochen zu sein. Mysterienspiele tauchten da und dort auf. Die alten Passionsspielge mein Jen Erl und Thiersee nehmen unerhörten Aufschwung. Erl hatte 1902 rund 14.000 Besucher, 1912: 35.000 und 1922: 70.000. Der Rückschlag bleibt mit der Wirtschaftskrise und der politischen Grenzsperre nicht aus. Im Jahre 1933, als man das Kreuzjubi- läum in der Christenheit beging, fiel das Erler Passionsspielhaus den Flammen zum Opfer. Und nun folgte Sdilag auf Schlag gegen die überlieferungstarken Spielbräuche des Landes .

Der zweite Weltkrieg liegt hinter uns. Eine neue Welle der Spielifreudigkeit geht durch alle Täler und Dörfer unseres und der nachbarlichen Länder. Tirol als das althergebrachte Land der Volksschauspiele hat ein gewisses Anrecht und eine Verpflichtung, vorbildlich voranzugehen.

Die Tiroler Spielkukur war für viele Auswärtige vorbildlich und bahnbrechend. Sie haben daraus Großes und Überragendes gemacht. Es wurde Einsiedeln und Oberammergau erwähnt. Wieder scheinen wir vor einem solchen Ereignis zu stehen. Möge das Land sich der Bedeutung dieser Spielkultur bewußt sein. Und noch ein anderes: ein Schönherr, ein Wenter sind nicht in Tirol groß und angesehen worden. Sie mußten hinaus in die Großstadt und sich ihren Aufstieg schwer erringen. Schaffen wir durch ein gesundes, frisches und starkes Volksschauspielleben die Voraussetzungen dafür, daß aus solchem Mutterboden viele Talente aufwachsen, zunächst für die eigenen Notwendigkeiten, dann aber auch für die hohe und große Kunst, um derentwillen Österreich angesehen war und bleiben soll.

1 Die folgenden Ausführungen lind einem Vortrag des Verfassers auf der Tiroler Spielleitertagung in Innsbruck, Februar 1948, entnommen.

1 Der Verfasser, selbst Leiter der erfolgreichen Tiroler Passionsspiele, gibt soeben eine Schrift „Der Judas von Erl“ bei Fel. Rauch in Innsbruck heraus.

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