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Der Tod kam nach Castelgandolfo

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SONNTAG, DEN 5. OKTOBER

Die ersten beunruhigenden Gerüchte über den schlechten Gesundheitszustand Pius' XII. durchschwirren Rom. Wie man später erfahren wird, hat der Kliniker Professor Ferdinando Corelli bereits seit dem 30. September die Behandlung gegen die lästigen und auch gefährlichen Symptome der alten Zwerchfellhernie, den Singultus vor allem, wieder aufgenommen. Mit der Schwächung des Körpers, durch den gesteigerten Arbeitsrhythmus hervorgerufen, ist das Leiden wieder zum Vorschein gekommen. Aber Eugenio Pacelli will nichts von Schonung hören. Am Freitagmorgen hatte er eine amerikanische Pilgergruppe mit dem Erzbischof von New York, Kardinal Francis Spellman. an der Spitze, in Castelgandolfo empfangen und eine kurze Ansprache an sie gerichtet. Die Rede war von längeren Pausen unterbrochen gewesen. „Es war, als ob er Mühe gehabt habe, Atem zu holen“, erklärte dann einer der Pilger. Die gleiche Beobachtung machten am Samstag die Teilnehmer am 10. Kongreß für plastische Chirurgie. Obwohl Pius XII. nur den letzten Teil der vorbereiteten Ansprache, jenen über die ethischen und religiösen Aspekte der plastischen Chirurgie, selbst las, mußte er sich immer wieder unterbrechen. Er war vom Aufschlucken gequält. Den Professoren Rosselli, Präsident der Gesellschaft für plastische Chirurgie, und Serafini. Primararzt im Krankenhaus Sant'Eugenio, fielen die Anzeichen der Uebermüdung auf.

Am Sonntagvormittag gelingt es Pius XII., zwanzig Minuten lang mit klarer und kräftiger Stimme zu den Teilnehmern am Internationalen Kongreß für das lateinische Notariat zu sprechen. Um die Mittagstunde zeigt er sich einer Pilgergruppe. Auf Anraten des Arztes verzichtet er auf den gewohnten Nachmittagsspaziergang. In der Privatkapelle betet er gemeinsam mit den anwesenden Mitgliedern der „Päpstlichen Familie“ den Rosenkranz zu Ehren der Lieben Frau von Lourdes. Um 16 30 Uhr erscheint er neuerlich-'attf Wenige Augenblicke auf: dem Bai-kon, um eine größere Gruppe von Pilgern zu begrüßen. Es war das letzte Mal. daß Pius XII. in der Oeffentlichkeit erschienen ist.

Am Abend weilt Professor Corelli bei ihm; Eugenio Pacelli fühlt sich durchaus wohl, er plaudert und scherzt mit dem Arzt. Als dieser ihm rät, nun zu Bett zu gehen, antwortet er: „Ich habe noch so viele Dinge zu tun.“

Niemand, auch der Arzt nicht, ahnt die Nähe des Todes.

MONTAG, DEN 6. OKTOBER

Für den Montagmorgen haben die behandelnden Aerzte, Professor Antonio Gasbarrini und Professor Ferdinando Corelli, eine gemeinsame Untersuchung des kranken Papstes vereinbart. Dem Konsult sollte auch der Okulist Professor Riccardo Galeazzi-Lisi beigezogen werden. Obwohl dieser seit einer Reihe von Jahren kaum mehr Gelegenheit fand, ihn zu besuchen, war ihm der Titel des Archiatra Seiner Heiligkeit geblieben. Als Zeit ist 6.15 Uhr festgelegt worden. Corelli und Galeazzi-Lisi sind um diese Stunde bereits in Castelgandolfo, aber die Haushälterin des Papstes, „Madre“ Pasqualina Lehnert, bittet die Aerzte, noch zuzuwarten, da der Heilige Vater noch ruhe. Als Eugenio Pacelli kurz darauf erwacht, nimmt Professor Corelli eine Magenspülung vor, die den intakten Verdauungszustand des Erkrankten erweist.

Und da geschieht es: Pius XII. sitzt in einem Lehnstuhl und unterhält sich in scherzender Weise mit den Aerzten, als er sich plötzlich zurücklehnt, die Augen schließt, den Mund verzerrt und ausruft: „Oh, mein Gott, ich sehe nichts mehr!“ Darauf neigt er den Kopf und verliert das Bewußtsein. Die beiden Aerzte betten ihn auf einen Diwan; für Professor Corelli sind die Symptome klar genug: ein Gefäßkrampf der Basilararterie, ein äußerst ernster Fall, aber noch nicht hoffnungslos, wenn die Gegenaktion innerhalb einer halben Stunde erfolgt. Zufällig hat sich der Anfall im Beisein des Arztes abgespielt und zufällig hat Professor Corelli das geeignete krampflösende und die Blutgerinnung verhindernde Mittel in seiner Aerztctasche. Die Gefahr der Bildung eines Blutgerinnsels kann gebannt werden. Als kurz darauf Professor Gasbarrini eintrifft, findet er den Kranken noch ohne Bewußtsein und Sprache. Lähmungserscheinungen sind niemals vorgelegen; unendlich langsam kehrt eine gewisse Reaktionsfähigkeit der Pupillen zurück, und kleine Zuckungen des Mundes verraten die Wiederkehr des Bewußtsems; einzelne gemurmelte Worte können jedoch nicht verstanden werden.

Die nachfolgenden sechs, sieben Stunden sind voll erregender Dramatik; Verwandte und Prälaten eilen herbei; die Verwirrung ist unsagbar. In den ersten Nachmittagsstunden zeichnet sich jedoch die Gefahr eines Blocks der Harnwege ab, hervorgerufen durch den halbkomatösen Zustand des Kranken. Der Ordinarius für Urologie an der Universität Rom, Professor Ermanno Mingazzini, wird herbeigerufen ' und langt, von einer Motorstafette geleitet, nach 16 Uhr in Castelgandolfo ein. Er erschrickt über das kyanotische, verzerrte und fast unkenntliche Antlitz Eugenio Pacellis. Eine Katheteri-sierung bringt dem Patienten fühlbare Erleichterung. Seine kräftige Konstitution hilft der Therapie der Aerzte. Der Papst erwacht zu vollem Bewußtsein, ohne Erinnerung an das Vorgefallene, erkennt die Aerzte und dankt ihnen mit leisem Lächeln. Mit der Hand deutet er eine leise Segensgebärde an Er kann nun in das einfache Messingbett zur genaueren Untersuchung gelegt werden. Coreliis Diagnose erweist sich als exakt, die Therapie als die richtige. Man kann mit ihr fortfahren:

Die Angst und Bewegung in Rom sind, nach dem ersten Bulletin der Aerzte, um 10 Uhr vormittags, groß. Das zweite Bulletin, um 17.30 Uhr ausgegeben, öffnete eine leise Hoffnung.

DIENSTAG, DEN 7. OKTOBER -

Die Nacht zum Dienstag ist ruhig verlaufen. Der Papst wird von Schwester Pasqualina Lehnert und einer anderen deutschen Nonne betreut; die Anzeichen einer Besserung mehren sich. Pius XII. hat einige Stunden schlafen können und am frühen Morgen etwas Kamillentee zu sich genommen. Professor Mingazzini hat die Gefahr eine Block.der .Niere und der ii.un-wege endgültig beseitigt, die Organe haben ihre normale Funktion wieder aufgenommen. Auch Corellis Therapie wird fortgesetzt, da sie sich als so erfolgreich erwiesen hat. Noch einmal scheint die starke Natur des Papstes über die Krankheit triumphieren zu wollen.

Pius XII. unterhält sich lange mit den Aerzten, erzählt heitere Episoden aus seiner Erinnerung. Den Professor Mingazzini bittet er, Kardinal Costantini seine Grüße und Segenswünsche zu überbringen; Costantini liegt in einer römischen Klinik nach einer von Mingazzini durchgeführten schweren Operation. Eugenio Pacelli fühlt sich außerordentlich wohl; er verlangt sogar nach Nahrung, was selbst in normalen Zeiten niemals der Fall war. „Ich fühle beinahe so etwas wie Appetit“, sagt er. Man reicht ihm eine konzentrierte Fleischsuppe, einen Grießbrei und einige Löffel Bordeauxwein. Dann verlangt er nach seiner Aktenmappe; den erstaunten und fast entsetzten Aerzten erklärt er, die Arbeit wieder aufnehmen zu wollen. Mit Mühe gelingt es, ihn davon abzuhalten. Er empfängt jedoch den Substituten im Staatssekretariat, Monsignore Dell'Acqua, und bestellt für den folgenden Mittwoch im üblichen Turnus den Pro-

• sekretär Monsignore Tardini. Am Nachmittag schläft er wieder einige Stunden. Abends taucht der Singultus wieder auf, aber nicht mehr so krampfhaft und quälend wie zuvor. Um 20 Uhr haben die Professoren Corelli und Mingazzini

,denjj:ajiken wieder besucht und ein stationäres, aber nicht zu Besorgnissen Anlaß gebendes Befinden festgestellt. Das Herz zeigt eine vorübergehende Depression und etwas Unregelmäßigkeit, die Harnwege funktionieren völlig normal. Pius XII. ist wach und lebhaft. Er scherzt mit Professor Corelli über sein eigenes Interesse für die Medizin; dann kommt das Gespräch auf die Musik, auf seine Vorliebe für Wagner, Beethoven, Bach. Pius XII. bittet Schwester Pasqualina, mit der er immer nur deutsch redet, Beethovens Erste Symphonie auf den Plattenspieler aufzulegen. Er hört die Musik gemeinsam mit den Aerzten, manchmal klopft er den Takt mit der Hand mit. Beim Abschied bemerkt Mingazzini, seine Intervention sei von nun ab nicht mehr notwendig. Auch Corelli verläßt den Kranken spät; im Nebenzimmer wacht diesmal Professor Galeazzi-Lisi. Am Krankenbett bleiben Schwester Pasqualina und ein Krankenwärter.

MITTWOCH, DEN 8. OKTOBER

Die Ewige Stadt lauscht dem ersten Nachrichtendienst des italienischen Rundfunks um 7 Uhr mit angstvoller Spannung. Aber die Meldungen sind durchaus beruhigend. Die Nacht auf Mittwoch hat keine Störungen gebracht. Der Heilige Vater hat keinen Singultus aufgewiesen und ruhen können. Auch der Nachrichtendienst von 8 Uhr bringt keine Neuigkeiten, die Ber völkerung begibt sich ohne neue Besorgnisse zur. ÄfUeit. 'Aber“\&H“aiiäe 2eiTsTnd diFFforessWe'n1 Gasbarrini, Corelli, Mingazzini und Galeazzi-Lisi bereits am Bett Pius' XII. bemüht, ihn dem Tod zu entreißen. Um 9.30 Uhr wird ein neues Bulletin verbreitet, dessen lakonische Kürze den ganzen Umfang der Katastrophe ahnen ließ: „Der Heilige Vater hat nach einer ruhig verbrachten Nacht ohne Aufschlucken um 7.30 Uhr eine neue Störung des Gehirnkreislaufes aufgewiesen, analog jener am vergangenen Montag aufgetretenen. Es sind unverzüglich die Behandlungen aufgenommen worden, welche die ernste Situation erfordert. Um 9.30 Uhr zeigt das Krankheitsbild eine leichte Besserung. Die Prognose ist unsicher.“

Doch die Aerzte haben diesmal, im Gegensatz zur Situation nach der ersten Attacke, keine Hoffnung mehr. Der zweite Anfall hat doch ein wesentlich anderes, gefährliches Bild. Die Thrombose ist sofort eingetreten, die Arterie verschloß s:ch und öffnete sich auch nach der sofort einsetzenden medikamentösen Behandlung nicht wieder. Von diesem Augenblick an hat Pius XII. das Bewußtsein nicht wieder erlangt. Alle anderslautenden Meldungen und Erklärungen treffen nicht zu.' Der Todeskampf hat begonnen.

Um die Mittagszeit laufen Zeitungsausträger durch die Straßen Roms und rufen die Schlagzeile ihrer Blätter aus: „II Papa e morto!“ Vier römische Blätter sind mit der falschen Meldung in Sonderausgaben erschienen.

Aber das Ringen des Papstes mit dem Tod dauert fort. Stunde um Stunde vergeht. Die Kommentare des Paters Pellegrino werden immer unheilvoller. Sätze wie „Er atmet noch“ oder „Sein Atemholen ist bis ins Vorzimmer zu vernehmen“ lassen die Schwere und Länge der Agonie ahnen. Die Nacht sinkt ein.

DONNERSTAG, DEN 9. OKTOBER

Der Papst verbrennt in einer Lungenentzün dung. Um 0.00 Uhr beträgt die Temperatur 41,2 Grad, um 2.45 Uhr hat sie 42 Grad erreicht. Der Zusammenbruch des inneren Kreislaufsystens bahnt sich an, der Puls verschwindet nahezu, der Blutdruck sinkt rapid. Um 3.56 Uhr meldet Radio Vaticana: „Papst Pius XII. ist tot. Er verschied heute, den 9. Oktober, um 3.52 Uhr.“ Ein Oesterreicher erinnert sich, daß am gleichen Tag und fast zur gleichen Stunde vor drei Jahren Kardinal Innitzer entschlafen ist.

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