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Der verwaltete Held

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Der frühe Tod des französischen Schauspielers Gérard Philipe ließ den Pariser Nekrologschreiber ausrufen: Der Schauspieler ist der Held unserer steril gewordenen Zeit, die es zwar versteht, Sputniks hervorzubringen, aber am Menschen versagt. Heiligkeit, das Schöpferische, geschichtliche Größe werden seit Marx und Freud zerredet. Seither bringt die Geschichte keine Helden, Heiligen und Genies mehr hervor. Was übrig blieb, ist bloß die Bühne, auf welcher der Schauspieler den Helden mimt,..

Der „Prinz von Homburg“, der „Ruy Blas“ der französischen Bühne, Gérard Philipe, war als Privatmensch durchaus kein „Held“. Er war der Standardtyp des modernen Schauspielers: still, unpathetisch, zäher Arbeiter, Familienvater. Auf der Bühne verkörperte er die großen Figuren der Geschichte und der Literatur. Nach der Vorstellung verwandelte er sich in einen Menschen von heute zurück: Er war dann einem Studenten, einem Beamten oder einem jungen Arbeiter ähnlich.

Wer ist heute ein Held? Wer ein Genie? Wer ein Heiliger? Der Fragende muß damit rechnen, daß er nur selten eine klare Antwort bekommen wird. Die meisten Studenten, Beamten oder jungen Arbeiter würden nur mit skeptischem Lächeln, mit einem Achselzucken antworten oder einfach sagen, daß die heutige Zeit keine Individuen dieser Art mehr hervorbringe.

Die heutige Zeit: Das ist das Zeitalter der Bürger, der vor hundertfünfzig und mehr Jahren aus seiner jahrhundertelangen Isolierung hervortrat und den bisherigen Schauplatz „großer Geschichte“ in eine Welt der Arbeit, des Handels, des alles beherrschenden Geldes umwandelte. Der Bürger stand seit alters her im Gegensatz zu den tragenden Schichten der Geschichte, die ihrerseits die eigentlichen Akteure, eben jene „Helden" stellten. Sein Verhältnis zur Geschichte selbst erwies sich, nachdem er selbst zum geschichtsbildenden Faktor wurde, als problematisch, ja verhängnisvoll. Von der Heldenverehrung der Romantik führt ein ziemlich gerader Weg zum Führerkult der Diktatur, in dem sich bürgerliche, kleinbürgerliche Schichten in nicht geringem Maße verfingen.

Das bürgerliche Zeitalter ist, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, noch lange nicht zu Ende. Die Ergebnisse der von verschiedenen Instanzen durchgeführten Untersuchungen beweisen es: Im Zeichen der zweiten industriellen Revolution findet heute ein gigantischer Einschmelzungsprozeß statt, der überall, wohin die europäisch-amerikanische Zivilisation der hochentwickelten Technik und des dadurch bedingten höheren Lebensstandards reicht, den Arbeiter in einen „Angestellten" verwandelt, der sich von ersterem bisher nicht zuletzt dadurch unterschied, daß er sich nach den alten bürgerlichen Leitbildern orientierte. Dieser Vor-

gang der Angleichung, des Einebnens der bisherigen Klassengegensätze, der in en Ländern mit den höchstentwickelten Industrien wie die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien begann, erstreckt sich heute über immer größere Gebiete der Erde. Auch in der Sowjetunion spricht man heute nicht mehr bloß von Erfolgen des Kollektivs, sondern daneben auch immer betonter von den individuellen Aufstiegsmöglichkeiten, die den Einsichtigen und Strebsamen vor allem durch die Schulbildung offen stehen.

Diese bürgerliche Industriewelt bewältigt die’ größten naturwissenschaftlichen Entdeckungen und stellt alle Neuerungen der Technik unbeirrt und unverzüglich in ihren Dienst. Woher kommt es, daß sie ihren Platz in der Kontinuität der Geschichte nicht mit ebensolcher Selbstverständlichkeit zu deuten weiß? Ein als zeitgemäß empfundenes Geschichtsbewußtsein blieb nicht bloß in Oesterreich, dessen jüngste Geschichte eine solche Bewußtseinsstörung noch einigermaßen erklärt, für breite Kreise eine vorerst noch unbewältigte Aufgabe.

Christopher Dawson, der große englisch-amerikanische Historiker, spricht von der „grund legenden Disharmonie“, die zwischen der Gesinnung des Bürgers und der Lehre Christi besteht. Der Bürger, den er als den Kaufmann, den Mittler zwischen Erzeuger und Verbraucher bezeichnet, stehe außerdem im Gegensatz zum Künstler und dem eigentlichen Handwerker, deren Hauptmerkmale er in ihrer organischen Beziehung zur eigenen Arbeit sieht. Die beiden Gegenpole des menschlichen Charakters seien — nach Bergson, deren Klassifizierung Dawson hier übernimmt — das „verschlossene“ Temperament des Bürgers und der „offene“ Typus, der sich nicht nach der Wirtschaft, sondern nach der Liebe richtet, der, im Geiste des Evangeliums, gibt, statt zu nehmen. Laut Dawson ist also der wahre Gegensatz zum Bürger nicht der Proletarier — er nennt Marx einen „enttäuschten Bourgeois“ —, sondern der religiöse Mensch, „der Mensch der Sehnsucht“. Die Christen verbinden sich zeitweilig mit dem Bürgertum, aber die Zeit einer eingeschränkten, auf ihren Selbst schutz bedachten bürgerlichen Religion sei vorüber. Es hänge von den Christen als Individuen ab, ob sie „den schweren und zufallsreichen Weg des schöpferischen, geistigen Handelns gehen, den die Heiligen gegangen sind“, oder nicht.'Soweit Christopher Dawson . '

Vor allem ist heute die „Jugend" Gegenstand der vielfältigsten Untersuchungen. Soziologen und Pädagogen beschäftigen sich mit den Lebensäußerungen, den geheimen Wünschen, mit Skepsis und Befangenheit einer Jugend, die — im Gegensatz zu gestern und vorgestern — heute freier ist und sich auch freier fühlen könnte als jemals eine Jugend in der Geschichte. Ist sie heute schlechter — oder bloß kritischer veranlagt — als die Jugend früherer Zeiten? Da die zuverlässigen Erhebungsmethoden der Sozialwissenschaften erst jüngsten Datums sind, fehlen zur Entscheidung dieser Frage die Ver gleichsmöglichkeiten. Man weiß allerdings atu Dokumenten der Vergangenheit, aus Tagebüchern und Briefen, daß die von Memoiren- schreibern und Haushistorikern gern zitierte Begeisterung der jungen Menschen für ihre militärischen und politischen Führer oft ziemlich eng begrenzt war, und daß der Ruhm eines „Helden“ auch in früheren Zeiten immer auch ein Werk der zielbewußten Propaganda sein konnte. Durch die Freizügigkeit der Ideen und Informationen, durch das Fallen mancher gesellschaftlichen Schranken, erfährt der Mensch heute mehr und wird hellhöriger. Seine Skepsis wächst — und man nimmt sogleich auch Notiz davon. Aber er war auch früher nicht immer „begeistert“.

Mit dem Märchen, Hitler habe die Herzen der deutschen Jugend besessen, rechnen jüngste Forschungen in Deutschland mit aller Entschiedenheit ab. In Wirklichkeit waltete hier eine „total“ gewordene Propaganda, die es fertig brachte, Begeisterung und Heldentum je nach Bedarf zu dosieren. Es entstand der neue Typ des Helden ohne Eigenschaften, der verwaltete Held, eine Kümmerform des alten „Jugendidols“, angepaßt den Erfordernissen der modernen Technik der Macht. Die „Staatsjugend“ selbst jedoch verfiel einer Art politischer Schizophrenie: das Mitmachen war bei den Denkenden fast immer von oppositioneller Haltung im Geist durchzogen. Die frühere Unbefangenheit geschichtlichen Phänomenen gegenüber war für immer dahin. Für diese Menschen sind die nationalen Leitbilder nunmehr ganz bewußt bloß „Mittel zum Zweck".

Kann der Mensch ohne Leitbilder leben? Eine Rundfrage von privater Seite in Kreisen österreichischer Mittelschulprofessoren ergab kürzlich folgendes: Mehrere Lehrer bestätigten übereinstimmend, daß sie die Kinder von Rechtsextremisten oder Kommunisten am häufigsten als „Ordnungsfaktoren" in der Klasse einsetzen können. Sie seien strebsam, verantwortungsbewußt, sie bemühen sich um den Kontakt zwischen Lehrer und Schüler, mit einem Wort, sie seien „Idealisten".

Die Sache gibt zu denken. Es ist meistens nicht schwer, Idealist zu sein oder zu scheinen, wenn die anderen im Besitz der Macht sind, allein über die nötigen Verbindungen und Beziehungen verfügen und sie auch ausnützen. Man weiß, daß in Kreisen besonders der studierenden Jugend auch in Oesterreich Parteipolitik des öfteren mit Interessenschacher gleichgesetzt wird. Auch wissen mehr Menschen, als es oft scheint, um die vielen Unzulänglichkeiten in der Praxis der Parlamente und der Parteien. Die landesüblichen Formen der Demokratie, wie sie innerhalb der Parteien geübt werden, die Art, wie man etwa die „freie und geheime Wahl“ der Funktionäre üblicherweise abwickelt, sprechen sich herum.

Es sollte keine Demokratie ohne ein bestimmtes, latentes Schuldgefühl der Staatsbürger, besonders der Politiker, geben: auch jener, die den Versuchungen der Macht widerstehen, aber vor allem jener, die ihnen erliegen. Noch wichtiger wäre es, wenn in ihnen ein neues, von romantischen Stilisierungen und der Enge der bürgerlichen Weltbetrachtung gleicherweise befreites Geschichtsbild wirksam werden würde: das neue Selbstverständnis des Bürgers als Mensch in der Geschichte, der mutig und nüchtern seine Aufgabe wahrnimmt, für Freiheit und Recht seiner Mitmenschen einzustehen.

Vgl. Chr. Dawson: „Gestaltungskraft der Weltgeschichte.“ Verlag für Geschichte und Politik, Wien, 1959.

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