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Der Wiener Kongreß und der Frieden

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Der Wiener Kongreß, der vom September 1814 bis zum Juni 1815 die Kaiserstadt Wien zum Mittelpunkt der Welt werden ließ, und die Staatsmänner, die auf ihm in langwierigen Verhandlungen Europa eine dauernde Form zu geben versuchten, haben oft ein schlechtes Zeugnis erhalten. Besonders von deutscher Seite ist das Werk des Wiener Kongresses im Laufe der Zeiten immer wieder angegriffen worden, da es dem deutschen Volke nicht die politische Einheit gebracht hatte. Es sei nur an das harte Urteil Treitschkes erinnert, dem besonders Metternich als ein Dämon der Leichtfertigkeit erschien. Daß Bismarck, Ranke und Wilhelm von Humboldt sich den Aburteilungen des Wiener Kongresses nicht anschlössen, daß diese Staatsmänner und Historiker die großen positiven Leistungen, die in Wien an der Jahreswende 1814/1815 vollbracht wurden, würdigten, darüber sahen die nationalistischen Kritiker des Kongresses und Metternichs, die naivdogmatischen Anhänger eines preußischdeutschen Einheitsstaates gerne hinweg. Gewohnt, politisch in einem luftleeren Räume sich zu bewegen oder höchst primitiv einem Kult der großen Männer anzuhängen, gewohnt, die Bismarcksche Formel von Blut und Eisen geistlos zu verallgemeinern, hat der deutsche Vulgärnationalismus lange ein verzerrtes Bild des Wiener Kongresses hingestellt und selbst auch an diese Verzerrung oft ehrlich geglaubt. Erst die furchtbaren Stürme der letzten Zeit haben weiten Kreisen, nationalistischen, aber auch solchen, denen vor allem der monarchisch-konservative Charakter des Wiener Kongresses ein Anstoß für ihr republikanisches Denken und Fühlen war, die Augen geöffnet für die großartige, bei aller Gebrechlichkeit und Brüchigkeit im einzelnen segensreiche übernationale Friedensarbeit, die auf diesem Kongresse, von dem man lange nur das Tanzen hatte sehen wollen, geleistet worden ist.

Der Kongreß, der am 2. November 1814 eröffnet wurde, dessen Vorsitzender der Leiter der österreichischen Außenpolitik Metternich und dessen Protokollführer der bedeutende Publizist und Wahlösterreicher Gentz waren, hatte von Anfang an mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, die durch die schweren Gegensätze gegeben waren, die zwischen den großen Mächten herrschten und die nur durch die lebenbedrohende napoleonische Gefahr in den letzten Jahren vor dem Kongreß zurückgedrängt worden waren. Diese großen Gegensätze, die um die Jahreswende 1814/1815 sogar die Gefahr eines neuen Krieg“es heraufbeschworen, in dem auf der einen Seite Rußland und Preußen, auf der anderen Österreich, England und Frankreich gestanden hätten, wurden vor allem bei der Diskussion des polnisch-sächsischen Fragenkomplexes sichtbar, bei dem es sich um die elementare Frage des europäischen Gleichgewichtes handelte. Die Forderungen Rußlands in der polnischen Frage und Preußens in der sächsischen führten nicht nur zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Metternich und dem Vertreter Englands auf dem Kongreß, Castlereagh, die polnisch-sächsische Frage gab auch dem großen französischen Diplomaten Talleyrand die erwünschte Gelegenheit, das eben erst besiegte Frankreich als gleichberechtigte Großmacht in den Areopag der europäischen Mächte einzuführen. Und es bleibt ein Verdienst aller Großmächte von 1814, vor allem aber Österreichs und Englands und ihrer Vertreter Metternich und Castlereagh, daß sie vom Beginn an eine Politik äußerster Mäßigung gegenüber der besiegten Nation führten,' nach dem Grundsatz, daß sie den Krieg nicht gegen Frankreich, sondern gegen den Diktator Napoleon geführt hatten, und für Metternich, aber auch für Castlereagh, die Wiedergeburt Frankreichs eine selbstverständliche und unentbehrliche Voraussetzung für die organische Wiederherstellung des Gleichgewichtes der Kräfte, ohne die Europa noch niemals hat gedeihen können. Es ist der besondere Ruhm Österreichs, daß damals ein Staatsmann seine Interessen vertrat, der vielleicht mehr noch Europäer als Österreicher war, eben Fürst Metternich. Für ihn war primär das europäische Interesse, dem sich alles unterzuordnen hatte, und der Fürst fand bei diesen seinen Bemühungen um eine europäische Neuordnung, um einen schöpferischen Solidarismus der europäischen Staaten durchaus die Unterstützung seines Kaisers, des nüchternen, friedensliebenden Franz I. Mit einer unendlichen Geduld und Mäßigung, mit einer oft sehr weitgehenden Bereitschaft zu Opfern haben Metternich und Kaiser Franz in dem zermürbenden diplomatischen Kleinkrieg der Kongreßverhandlungen ausgeharrt bis zum glücklichen Abschluß am 9. Juni 1815, an dem die Wiener Schlußakte als die Magna Charta des Europas der Restaurationsepoche eine Zeit des langen Friedens einleitete.

In die Wiener Schlußakte vom 9. Juni war auch der allgemeine Teil der deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 aufgenommen worden, jenes Grundsatzes des deutschen Daseins, das für ein halbes Jahrhundert Deutschland als einen föderativen Körper, einen Staatenbund organisierte, der, von

Europa garantiert, Deutschland zwar keine staatliche Einheit gab, aber der deutschen Nation doch die äußere und innere Sicherheit wahrte, den deutschen Einzelstaaten ihre Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit sicherte und die deutschen Länder einen völkerrechtlichen Verein bilden ließ, der durchaus entwicklungsfähig war, vorausgesetzt, daß die Deutschen und auch Europa diesen Aufbau eines föderativen Deutschen Bundes als des Herzstückes eines föderativen Europas bejahten. Die nationalstaatliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts, so elementar sie immer gewesen sein mag, hat doch, dies dürfen wir heute aussprechen, viele wertvolle Ansätze eines Europas, in dem die Kulturentwicklung der Nationen infolge der politischen Neutralisierung der nationalen Leidenschaften gesichert gewesen wäre, vernichtet oder zumindest verkümmern lassen. Daß übrigens während des Wiener Kongresses und. in den ihm folgenden Jahrzehnten die Besten der Nation, die Repräsentanten des deutschen Geistes im Deutschen Bund das natürlich Gegebene erblickten, wird am deutlichsten darin sichtbar, daß Leopold von Ranke und Wilhelm von Humboldt eine Föderativverfassung, wie sie die deutsche Bundesakte darstellte, für den Schutz der deutschen Kultur und die Eigenart der deutschen Nation allein für geeignet hielten und einen machtvollen deutschen Einheitsstaat als unnatürlich ansahen.

Der Wiener Kongreß war tatsächlich ein Sieg des Europäismus über den Egoismus der Einzelmächte, und der beste Garant dieses Europäismus war Österreich, das nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien als die erhaltende Vormacht eine europäische Aufgabe erfüllte. Castlereagh, dieser zu den ganz Großen in der Geschichte der englischen Außenpolitik zu zählende Staatsmann sah ebenso wie Wellington in der Vorherrschaft Österreichs in Oberitalien eine notwendige Schutzmaßnahme für den europäischen Frieden. Die österreichische Herrschaft in Oberitalien und mittelbar in ganz Italien wurde sdann im 19. Jahrhundert für den italienischen Nationalismus eine Ärgernis erregende Tatsache, ein Stein des ständigen Anstoßes, bis schließlich 1859 und 1866 Österreich als italienische Macht und 1918 als Adriamacht abdanken mußte — diese Entwicklung des letzten Jahrhunderts kann nichts daran ändern, daß 1815 allein Österreichs Herrschaft in Italien den europäischen Interessen entsprach.

Der Wiener Kongreß erfüllte nicht alle Wünsche und Pläne einer europäischen Friedensordnung. Aber auf einen Plan sei noch hingewiesen, den Castlereagh hegte und Metternich unterstützte: die Dauer des Kongreßwerkes durch eine feierliche Erklärung der Großmächte an Europa zu garantieren, den Frieden unverletzt erhalten zu wollen und durch ihren Einfluß, unter Umständen durch gemeinsame Waffen, die neue europäische Ordnung vor jedem Frieden-störer zu schützen. Der Wille der Staatsmänner des Wiener Kongresses, den Kriegszustand der Völker durch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung zu ersetzen und durch eine Verbindung der großen Staaten

Die größte Zeit, die Österreich je gehabt hat, war die zwischen dem Wiener Kongreß und dem Jahre 1866, nicht nur, weil es damals als die führende Großmacht dastand, sondern auch durch den Reichtum und Wert seiner Ideen. Es war in jener Zeit nahe daran, das Nationalitätenproblem zu lösen und damit möglicherweise der Menschheit zugleich den Weg zu einer vollkommenen Organisation zu zeigen, die vielleicht wirklich den ewigen Weltfrieden hätte verbürgen können.

Dr. Ignaz Seipel in „Nation und Staat“ der Menschheit den Frieden zu garantieren, muß jedenfalls anerkannt werden; und über alle Kleinlichkeiten und Machtwünsche triumphierte schließlich doch der Geist der Mäßigung.

Der bekannte Historiker der französischen Revolution, Albert Sorel, hat einmal ausgesprochen, daß, so unvollkommen die Abfassung der Wiener Verträge zu sein scheint, so empirisch, willkürlich, sogar widerrechtlich ihre Durchführung in manchen Fällen war, das Werk des Wiener Kongresses nichtsdestoweniger Europa zur segensreichsten Friedensperiode, die es je genossen, verholfen hat. Der Deutsche Pertz, der Biograph des Freiherrn vom Stein, sonst ein scharfer Kritiker des Kongresses und seiner Staatsmänner, hat doch 1856, als Europa schon mitten im Prozeß der nationalstaatlichen Entwicklung stand, abschließend urteilen müssen, daß der Wiener Kongreß an die Stelle der niedergeworfenen napoleonischen Tyrannei und Alleinherrschaft den Verein der freien, gleichberechtigten Staaten in Europa wiederhergestellt hat. Dieses Werk einer weisen und großen Politik, unvollkommen wie es im einzelnen ausgeführt ist, bleibe doch die einzige, gesunde und dauernde Grundlage des europäischen Lebens; und sei dieses später verkümmert und geknickt worden, so habe man nicht den Kongreß, sondern spätere, schlechtere Zeiten und geringere Männer deshalb anzuklagen.

Gibt es eine bessere Rechtfertigung für das Wollen der führenden Staatsmänner des Wiener Kongresses als diese Urteile ganz entgegengesetzter Herkunft? Daß aber dieser Kongreß in Wien tagte, dieser uralten Zitadelle eines geistigen Europäismus, und daß der österreichische Außenminister Metternich es war, dem damals vor allem der glückliche Abschluß der oft so schwierigen Verhandlungen zu danken war, darin sehen wir keinen Zufall, sondern eine Bestätigung des europäischen Berufes Österreichs durch die Geschichte. Vielleicht spricht dabei der Stolz eines österreichischen Patriotismus mit, vielleicht wird ein Brite Castlereagh, ein Franzose Talleyrand die größten Verdienste zuerkennen wollen. Aber wir brauchen nicht zu ängstlich zu sein. Es ist auf jedem Fall der Stolz auf ein großes Werk schöpferischer Friedenspolitik im Segen der Völkergemeinschaft, wenn der Österreicher für sein Vaterland den Ruhm beansprucht, auf dem Wiener Kongreß entscheidend mitgewirkt zu haben beim Wiederaufbau der europäischen Kultur nach den Schrecken einer fünfundzwanzigjährigen Kriegsepoche.

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