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Deus mare fecit, Batavi litora

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Ich grüße dich, Holland! Insel entschwundenen Glücks! Du Land der freien, gläubigen und edlen Menschen. Ich grüße euch, Götter der Küste! Nach der Heimsuchung durch den grausamen, schuldlos über das kleine glückliche Land hereingebrochenen Krieg ist das Königreich der Niederlande nun wieder auf dem Wege, im Zeichen des Glaubens und der Arbeit den Segen aus Meer und Küste zu schöpfen.

Vom Anbeginn der Geschichte bis etwa zum Ende des 9. Jahrhunderts sind die Niederlande ein typisches Rand- und Durchgangsgebiet Europas, besonders von England nach dem nordwestlichen Mitteleuropa, nach dem Süden und umgekehrt. Holland, im engeren Sinne die beiden Provinzen Nordholland und Südholland, sind das Königreich der Niederlande, die die alte Grafschaft Holland bildeten. Nach dem Aussterben der Grafen von Holland 1299 kam Holland an Johann II. von Avesnes und Hennegau, nach Graf Wilhelm IV. Tod 1345 an Margarete, Gattin Kaiser Ludwigs, 1433 verlor es die Gräfin Jakobäa an Burgund. Im Laufe des Entdeckungszeitalters führte die verkehrgeographische Gunst das Land zur Weltbedeutung, die durch Gründung einer stattlichen Anzahl von Kolonien sichtbar in Erscheinung trat. Die europäische Randlage und die Durchdringung von Wasser und Land bestimmten hauptsächlichst die Bedeutung und Geschichte dieses kleinen, aber wichtigen Staates, der allein über 2000 Quadratkilometer Inselreich verfügte und das Mündungsgebiet einiger großer Flüsse, wie Rhein, Maas und Scheide ist. Fast 5500 Quadratkilometer beträgt der holländische Anteil am Wattenmeer, Jysselmeer und Dollart. 18.000 Quadratkilometer Fluß- und Seemarschen und beinahe 5000 Kilometer Kanäle haben ferner viel zu seinem inneren Reichtum beigetragen. Inzwischen aber war längst der zweite Entwicklungsabschnitt angebrochen; jene Zeit, in der der Mensch intensiv und zielbewußt begann, die Naturlandschaft in Kulturlandschaft umzugestalten. Und jetzt kommen wir in Hollands große Zeit. Deiche wurden angelegt, um zusammen mit einem häufig unterbrochenen Dünenwall das vielfadi unter dem Meeresspiegel liegende Land vor Überflutungen zu schützen; Kanäle wurden gezogen, die zum Verkehr und, wie die charakteristischen Windmühlen, zur Entwässerung oder Regulierung der zahlreichen Sümpfe, Seen und Flußarme dienen. Die geschichtlich denkwürdige Tat des Abschlusses der Zuidersee vom Meere liegt in der Linie dieser Kulturarbeit.

Einstmals ein Teil des mittelalterlichen Deutschen Reiches, von Friesen. Sachsen und Franken besiedelt, fielen die protestantischen Niederlande vom katholisch-spanischen Hause Habsburg ab, erhielten 1648 ihre anerkannte Selbständigkeit und erwarben ein riesiges Kolonialreich in Ost- und Westindien mit 2,03 Millionen Quadratkilometer und 61 Millionen Einwohner. Von dieser Zeit an be-gann sich des Landes Wohlstand ständig ru mehren. Im Jahre 1806 wurde es durch Napoleon zum Königreich Holland erhoben. Der Verlust der selbständig gewordenen Teile Belgien und Luxemburg (1830) konnte seinem Aufstieg und zunehmenden Reichtum keinen Abbruch mehr tun. Kluge Friedenspolitik bewog das kleine Land, sich dem ersten Weltkrieg fernzuhalten, was seine handels- und landwirtschaftliche Bedeutung noch steigerte. Den Kern seiner Volkswirtschaft bildeten die sehr intensive Landwirtschaft und die bedeutende Handels- und Schiffahrt. Die Niederlande waren agrarisch geradezu die Versorgungskammer Englands und Westdeutschlands. Die Ausfuhr von Gemüse, Kartoffeln und Hülsenfrüchten wurde noch weit überflügelt von dem Ertrag der Rindviehzucht in den Marschen, von Milch, Butter, Käse. Fleisch und Häuten. Beachtliche Werte ergeben neben Schweine-, Schaf- und Geflügelzucht die berühmte Sonderkultur von Blumen der Haarlemer Gegend (Ausfuhr von Blumenzwiebeln) und die künstliche Treibhauspflege von Tomaten, Gurken usw., die in dem feuchten, verhältnismäßig rauhen Klima nicht reifen würden; eine ganze Landschaft von Glasdächern ist in den Haag und Hoek van Holland entstanden. So hat der unermüdliche Fleiß des Holländers im Verein mit dem gesegneten Klima, einem frühen, kühlen Sommer und einem milden Winter, das Land zu dem gemacht, was es ist, dem Garten

Europas. Ein Land, das doppelten Segen genießt: den Segen des Meeres und den Segen der Küste. Daher sagt das uralte holländische Sprichwort nicht zu Unrecht: Deus mare fecit, batavi litora = Gott schuf das Meer, die Niederländer die Küste.

Weit mehr als 10 Jahre ist es her, da brachte eine unscheinbare Zeitungsnotiz die Meldung vom Plan der Trockenlegung der Zuidersee. Welch selige Erinnerungen wecken diese Worte in mir: Zuidersee, Volendam, geblähte Segel, kernige Fischer in ihren malerischen, farbenfrohen Trachten. Wasser, Windmühlen und viele schöne, ja vielleicht die glücklichsten Stunden, die ich dort verlebte.

Das sollte nun anders werden? Einfach unvorstellbar. Die Zuidersee soll Land werden. Trockenes, einfaches Land, wo die Tulpen blühen, Tomaten und Blumenkohl reifen und die Kinder in fröhlichem Spiel sich tummeln werden. Statt über schwan-kende, glitschige Planken werden die Männer später nur mehr auf festen Wegen und glatten, asphaltierten Straßen gehen. Und das Steuerrad in den Fäusten wetterharter Männer, das bisher hier regierte, wird seine Herrschaft an Pflug und Egge abtreten müssen.

Noch entsinne ich mich deutlich an den alten Fischer Reyekart von der Insel Marken. Reyekart galt als ein Weiser. Sein Wort hatte auf der ganzen Zuidersee, auf all ihren Gestaden und Küsten Geltung. Er wurde überall, besonders von den Fischern, geachtet. Als ich im Jahre 1925 mit ihm sprach, war er sehr traurig. Auf meine Frage nach seiner Betrübnis erzählte er mir: „Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater und so fort, zehn Ahnengeschlechter waren hier auf der Zuidersee Fischer. Mein Großvater sagte einmal, es sei prophezeit worden, elf Menschengeschlechtern werde die Zuidersee Brot und Leben durch die Fischerei geben, dem zwölften Geschlecht jedoch wird dieser Beruf nicht mehr als Broterwerb dienen können, weil — die See nicht mehr bestehen wird. Und ich bin der elfte Sproß, seit die See existiert. Im Jahre 1287 entstand die Zuidersee nach einer verheerenden Sturmflut. Zwei Jahre später siedelte sich mein erster Ahne hier an. Nach weiteren sechs Jahren wurde sein erster Stammhalter da geboren. Ein kerniges Fischergeschlecht war im Erblühen. Trotz dem Aufruhr der Elemente. Das Vierteljahrhundert von 1275 bis 1300 war nämlich eine der schrecklichsten Perioden katastrophaler Naturereignisse in der Geschichte Hollands. Orkan um Orkan fegte über das Land, vernichtete Mensch und Tier samt ihren Behausungen. Wochen-, ja monatelang war die Nordsee eine gischtende, tobende, alles mordende Hölle. Kein Fahrzeug, auch nicht das größte und seetüchtigste, durfte sich hinauswagen. Eine verheerende Sturmflut löste die andere ab, schluckte ganze Landstriche und hinterließ unvorstellbare Verwüstungen. Die erste der zwei Katastrophen war die gigantische Springflut im Jahre 1277, durch die der heutige Dollart (Nordseebusen) an der holländischen Grenze entstand. Zehn Jahre später wurde die Zuidersee geboren, auch sie verdankt einer verheerenden Sturmflut ihr Entstehen. Ta. aller Anfang ist schwer“, sagte der alte Reye-kart. | „Meine Ahnen hatten es nicht leicht. Und je zahlreicher die Geschlechter wurden, desto banger wurde manchem Vater ums Herz. Was sollte aus seinem Sohne werden, wenn die Prophezeiung wahr wird, daß die See in 700 Jahren verschwinden würde? Gut, man hat ja noch Zeit, sagte man sich von einer i Generation zur anderen. Aber, wenn die Prophezeiung früher in Erfüllung ginge? Manche wieder setzten sich mit einem Lächeln darüber hinweg. Eine See, die verschwinden sollte? Undenkbar. Und dann kam plötzlich der Entschluß der Regierung: die Zuidersee wird trockengelegt. Die jahrhundertealte Prophezeihung fand plötzlich ihre Erfüllung, wurde grausame, bittere Wahrheit.“

Noch ist die Zuidersee ein offenes Becken, bis zu deren innersten Gestaden die Nordsee mit ihren Gezeiten deutlich zu spüren ist. Noch spielt die weite, über 5000 Quadratkilometer große Wasserfläche ihre Rolle als der Paarungsort der Heringe und als zeitweiser Aufenthalt der Anschovisscharen.

Noch kreuzen tausend und aber tausend Fischer Tag und Nacht in ihren Fluten. Aber unaufhörlich schiebt sich im Norden von Friesland her über Kornwerderzand und Bre-zand und von der Seite der Provinz Nordholland her üb er die Insel Wieringen der Abschlußteich zusammen. Und wenn erst die Generation herangewachsen ist, die heute am Teich von Volendam auf Mutters Schoß sitzt und blanke blaue Augen von der den Himmel und die Insel Marken widerspiegelnden See erhält, dann wogen ringsum die Weizenfelder des Südwestpolders im Winde, Tomaten und Blumenkohl reifen in den Treibhäusern, aber kein heimkehrendes Fischerboot wird mehr, sehnsüchtig erwartet,am fernen Horizont auftauchen. Und die Fischer von Volendam werden sich dank der als Entschädigung für das Trockenlegen der Zuidersee von der Regierung gezahlten Abfindungssumme anderswo angesiedelt und ihren Beruf gewechselt haben.

Und wenn im Jahre 1987 die neue Generation mündig geworden ist, werden die jungen Männer des zwölften Geschlechts am 700. Geburtstag der Zuidersee schon lange das Steuerrad mit dem Pflug vertauscht haben. Die Zuidersee mit ihrem Fischreichtum wird verschwunden sein, an ihrer Stelle aber werden die Niederlande 224.000 Hektar Neuland für 300.000 Menschen besitzen.

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