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Die Bruder des Fapstes

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Särte Giuseppe,

Sohn des Giovanni Battista und der Margherita, geboren am 2. Juni 1835, ist — von zittriger Hand in italienischer Sprache geschrieben — im Gemeinderegister zu Riese im Venezianischen zu lesen. Es ist der amtliche Vermerk über die Geburt des späteren Papstes Pius X. *

Sarfo Angelo Paolo,

Sohn des Giovanni Battista und der Margherita, geboren am 26. März 1837, ist — von der gleichen zittrigen Hand in italienischer Sprache geschrieben — im selben Gemeinderegister zu lesen. Es ist der amtliche Vermerk über die Geburt des jüngeren — und einzigen — Bruders des späteren Papstes. Während das Leben des zehnten Pius, nach allen Seiten von der Forschung durchleuchtet, offen daliegt, ist über das Leben seines einzigen Bruders nur wenig bekannt. Es wäre auch — vom irdischen Standpunkt — ganz uninteressant, würde es sich nicht eben um den Bruder des heiligen Papstes handeln.

Dieser um drei Jahre jüngere Bruder erlernte das Tischlerhandwerk. Im Jahre 18 58, im gleichen Jahr, da Giuseppe Sarto zum Priester geweiht wird und seine unvergleichliche Laufbahn beginnt, wird der junge Tischler in Tre-viso zur Gendarmerie assentiert. Venetien bildete damals zusammen mit der Lombardei das sogenannte lombardisch-venetianische Königreich innerhalb der Donaumonarchie, aus welchem Bereich sich das 14. k. k. Gendarmerieregiment — eine Elitetruppe — seine Leute holte. Minutiös genau verzeichnet das Kriegsarchiv in Wien seine militärische Laufbahn, ahnungslos, welche Berühmtheit einst der Familienname Sarto erlangen werde.

Nach diesen Aufzeichnungen des Kriegsarchivs wurde der Bruder des späteren Papstes am 3. März 1858 assentiert, rückte am 24. Juni 18 5 8 als Prüfling zur Probedienstleistung beim Depotflügel in Mailand ein und wurde am 1. Juli 18 5 8 als Gendarm zu Fuß definitiv übernommen. Sarto Angelo Paolo wurde dann mit 30. September 1859 zum 15. k. k. Gendarmerieregiment, mit 1. Juli 1861 zum Kriegsflügel der k. k. Südarmee transferiert, am 11. März 1862 zum Gendarm zu Pferd übersetzt, am 1. Juli 1863 zum Postenführer minderer Gebühren zu Pferd befördert, mit 1. Oktober 1863 zur k. k. Botenjägerabteilung der Armee in Italien transferiert, am 21. April 1864 zum Postenführer zu Fuß übersetzt und zum k. k. 3. Gendarmerieregiment transferiert, mit 16. Mai 1866 zum Kriegsflügel der Südarmee und mit 30. September 1866 zur Botenjägerabteilung abkommandiert. Damit brechen die Aufzeichnungen im Wiener Kriegsarchiv ab. Mit der Uebergabe Venetiens an Italien schied Sarto Angelo aus dem österreichischen Militärdienst aus. Er tat noch einige Zeit Dienst als italienischer Karabiniere, wurde dann „Posthalter“ in einem kleinen Dorf in der Nähe von Mantua, heiratete, hatte ein paar Töchter und lebte bis 1916. In seinem Testament von 1911 vermachte ihm der päpstliche Bruder eine jährliche Rente von 1000 Lire.

Aus der Zeit, da Sarto Angelo Paolo bei der k. k. Gendarmerie Dienst tat, existiert ein kleines Photo. Es zeigt ihn in der doppelreihigen, enggeschnittenen Uniform aus dunkelgrüner Farbe mit den typischen Sternen am Kragen, mit schweren Stiefeln an den Füßen und dem nicht minder schweren Säbel zur Seite. Aef dem Sessel, den der Photograph — wie es üblicherweise damals immer geschah — zur Seite des Aufzunehmenden gestellt hatte, liegen das österreichische Käppi und die weißen Handschuhe.

Jeder Oesterreicher müßte eigentlich eine große Freude darüber empfinden, daß Papst Pius X. ein geborener Oesterreicher ist (ebenso wie Papst Pius XL, der 1867 in der Lombardei geboren wurde). Jeder Oesterreicher müßte aber auch Freude über dieses kleine Photo haben, das den Bruder des künftigen Papstes als österreichischen Gendarmen zeigt und das indirekt eine Widerlegung der so oft aufgestellten Behauptung ist, Oesterreich habe seine italienischen

Gebiete „maßlos“ unterdrückt.

La polizia dell'Austria

„Die österreichische Polizei“, schreibt Benito Mussolini in seinem Buch „Das Trentino, gesehen von einem Sozialisten“, welches 1911 in Florenz erscheint, „ist weniger brutal und blutdürstig als die italienische. In den Versammlungen könnt ihr sagen, was man vielleicht in Italien nicht dulden würde. Die Polizei setzt sich aus Trientinern zusammen, sie stammen alle aus den dortigen Tälern ... Die Polizeiagenten haben fast alle Familie und sind nicht wie in Italien vom Rest der Bevölkerung ungern gesehen und gehaßt. Die österreichisch-tridentinische Polizei ist nicht wild, wie es jene vermuten, die im Jahre 1848 steckengeblieben sind. Die von österreichischen Polizisten verübten Gewalttaten erreichen sicher nicht die Zahl der von italienischen Polizisten verübten. Die Handschellen sind abgeschafft, wie in den Gerichtssälen von Trient die Käfige fehlen. Die Herrschaft in den Kerkern von Trient und Rovereto ist unendlich besser als die italienische. Die Zellen sind bequem, der Ausblick nicht nur gegen den Himmel gerichtet wie in den italienischen, die Disziplin nicht sehr hart.“

Es. sei besonders darauf hingewiesen, daß Mussolini die Verhältnisse im italienischen Oesterreich vor Augen hat, in jenem Teil der Monarchie, der von Italien aus gesehen als der „unerlöste“ galt.

Noi Veneziani

„Wir. Venetianer“, so sagte einmal Papst Pius X., der geborene Oesterreicher, zum k. u. k. Botschafter beim Vatikan, „haben eine gute Erinnerung an die österreichische Verwaltung in Venetien.“

Wer glaubt, daß dieses Wort von Papst Pius X. nur gesprochen worden wäre, um dem Botschafter eines katholischen Staates eine freundliche Geste zu erweisen, der irrt. Papst Pius X. war nicht der Mann, der eine Freundlichkeit sagen konnte, ohne auch innerlich hinter ihr zu stehen. Sein Wort von der guten Verwaltung Oesterreichs in seinen italienischen Ländern wird vielfach von Italienern bestätigt. So schreibt Mario Alberti in seinem Buch „Irredentismus ohne Romanti k“, das 1936 erschien, daß „das alte Oesterreich der Habsburger ein ausnehmend gesetzmäßiger Staat war, einer der gesetzmäßigsten, die bestanden haben. Man ging dort nur durch die Kraft der Gesetze vor, und diese Gesetze wurden nicht nur dem Geiste nach, sondern nach dem Buchstaben angewandt.“ Und Roberto Farinacci, faschistischer Politiker und Verfasser der offiziellen „Istoria delle revoluzione fascista“, schreibt über diese gleiche Verwaltung: „Verstand man unter der italienischen Unabhängigkeit nur ein besseres Regierungssystem, so mußte man sich die Frage vorlegen, ob denn eine bessere Regierung denkbar wäre als die österreichische, die eine der gerechtesten war, die Italien je gekannt hat.“

Vewgono i nostri

„Es kommen die Unsrigen“, ist ein überlieferter Ausspruch der venezianischen Bevölkerung aus dem Jahre 1849, mit dem sie das Wiedereinrücken des österreichischen Militärs begrüßte. Mit „Die Unsrigen“ begrüßt man keine Feinde, sondern nur Freunde, zu denen man ein tiefes inneres Verhältnis besitzt. Und tatsächlich hatte jene Verwaltung, die „eine der gerechtesten war, die Italien je gekannt“, und die besonders dem kleinen Mann zugute kam, Oesterreich einen guten Ruf verschafft.

„Früher, in der Republik von Venedig“, so klagte einst ein Venetianer, „konnte man seinen Gegner ruhig umbringen. Dann versteckte man sich einige Zeit und dann konnte man sich die Sache .richten'. Jetzt, unter Oesterreich, wird man ohne Nachsicht bestraft.“ So etwas merkt das Volk. Knapp nach den napoleonischen Wirren schaffte Oesterreich die Strafe der Galeere und ebenso den Pranger ab und schränkte die Prügelstrafe weitgehend ein, während zum Beispiel in Piemont die Strafe des Prangers in alter Schärfe gehandhabt wurde und Lucca sogar für gewisse Vergehen die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen einführte. Auch diese Dinge merkt sich ein Volk.

„Es kommen die Unsrigen.“ Der Ruf ist begreiflich. Während zum Beispiel Piemont seinen Beamten einmal in einem Jahr durch sieben Monate die Gehälter schuldig blieb, gab Oesterreich Millionen aus, um durch Notstandsarbeiten die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Während man in Piemont nach den Napoleonischen Kriegen alles abschaffte, was mit dem bonapartistischen Italien zusammenhing, sogar so vernünftige Dinge wie die Straßenbeleuchtung und die Kuhpockenimpfung, zahlte Oesterreich die Zinsen der napoleonischen Schuldverschreibungen, übernahm großteils die Beamten, sogar die Polizisten, anerkannte den neuen Adel und war sogar bereit, den manchmal nur persönlich verliehenen in einen erblichen umzuwandeln. Wie beliebt die österreichische Verwaltung in Oberitalien war, zeigt auch die Tatsache, daß nach den Napoleonischen Kriegen die lombardische Bevölkerung stürmisch die Wiedereinführung des maria-theresianischen Katasters und der maria-theresianischen Ge-meindeordriung verlangte.

„Es kommen die Unsrigen.“ Oesterreich hatte beim kleinen Mann einen guten Klang. Sonst wäre es nicht verständlich, daß die Neapolitaner im Jahre 1817, als die k. k. Truppen das Königreich verließen, diesen meilenweit das Geleft mit Tränen in den Augen gaben. Oder daß die Bewohner des Kirchenstaates und des kleinen Fürstentums Piacenza, die an Oesterreich grenzten, sich sehnlichst wünschten, der Monarchie eines Tages einverleibt zu werden.

Cesare Battisti,

der bekannte Tridentiner Irredentist, sagte im Jahre 1915 in einer Versammlung in Mailand, daß das Trentino, einmal dem Königreich einverleibt, jene Provinz Italiens bilden würde, die die wenigsten Analphabeten besitze. Er sagte dies zu einer Zeit, da laut einer amtlichen Statistik das königliche Italien 43 Prozent Analphabeten besaß. Die gute Verwaltung zeigte sich auch auf dem Gebiet der Schule. Von nationaler Unterdrückung war in den italienischen Gebieten Oesterreichs nirgends auch nur die Spur. In den Volksschulen, den Gymnasien, wurde natürlich nur Italienisch unterrichtet. Sogar auf der Akademie der Kriegsmarine in Venedig wurde bis 1 848 der Unterricht ausschließlich italienisch erteilt. Und ebenso natürlich auf den Universitäten des lombardisch-venezianischen Königreiches. Verständlich, daß mzn kurz nach 1870, nach dem Zusammenschluß Italiens, in Rom sagte, daß die besten Italiener aus der Lombardei kämen, denn dort wären sie durch Oesterreich erzogen worden.

Dr. Friedrich Vunder gibt in seinem großen Memoirenwerk „Vom Gestern ins Heute“ ein Gespräch wieder, das er 1915, knapp vor Ausbruch des österreichischitalienischen Krieges, mit einem österreichischen Italiener führte: „95 Prozent der italienischen Bevölkerung Südtirols“, heißt es dort, „neigen zufolge ihrer natürlichen Interessen zu Oesterreich, zu dem sie durch Jahrhunderte gehört haben. Sehen Sie doch: unsere Lehrer, die unserem Volke ja doch viel zu sagen haben, sie, die aus österreichischen Schulen kommen, wissen, sie werden an ihren Schulen nicht bleiben, wenn Italien Südtirol erhält, sondern werden durch Reichsitaliener ersetzt werden. Unsere Bürgermeister haben keine Lust, die Gemeindeautonomie, die sie in Oesterreich besitzen, gegen die Rolle zu vertauschen, die ein Gemeindeoberhaupt in Italien hat. Und von unseren Pfarrern werden Sie nicht annehmen wollen, daß sie bisher nach Italien strebende Irredentisten waren, nach Italien, das immer noch im Konflikt mit dem Vatikan ist. Und die große Masse unseres Volkes, unsere Obst- und Weinbauern, die in Italien für ihren Markt wenig Hoffnung haben und mit allen ihren wirtschaftlichen Interessen an Oesterreich gebunden sind?“

Das klingt wenig nach „unerlöst“.

Evviva il Vimperatore!

„Es lebe der Kaiser!“ rief in der Seeschlacht bei Helgoland ein zu Tode getroffener Kadett, der österreichischen Marine aus. Er rief es italienisch. Bis zum Ende der Monarchie dienten viele ihrer italienischen Untertanen in der Marine. Als Tegetthoff die Schlacht bei Lissa gewann, waren unter seinen Offizieren und Matrosen 800 Venezianer. Tausende und aber Tausende von Italienern haben im Laufe der Jahrhunderte des „Kaisers Rock“ in allen Ehren getragen. Drei der größten Feldherrn der kaiserlichen Armee waren Italiener: Prinz Eugen von Savoyen, Raimondo Montecuccoli und Ottavio Piccolomini. In der Schlacht bei Königgrätz erhielt ein österreichischer Offizier, ein Italiener aus Pavia, den Maria-Theresien-Orden. 12.000 Italiener fielen noch im ersten Weltkrieg auf Seite Oesterreichs. Mehr Tote, als der Polenfeldzug der deutschen Wehrmacht kostete.

Noh abbiamo paura della veritä

„Wir haben keine Angst vor der Wahrheit.“ Dieses berühmte Wort Papst Leos XIII., das er anläßlich der Oeffnung der vatikanischen Archive sprach, kann Oesterreich auch über seine Geschichte sagen. Je mehr die Wahrheit über seine Vergangenheit ans Tageslicht kommt, desto besser für Oesterreich.

Eines Tages wird dann die Welt wissen, daß das alte Oesterreich, jenes als so rückschrittlich verschriene Oesterreich, daran zerbrach, daß es — zu fortschrittlich war. Denn es verteidigte eine Idee, der Europa erst heute langsam und mit Schmerzen entgegenreift. Es verteidigte die Idee der Vereinigung aller Völker, es verteidigte sogar die Idee der Einheit von West und Ost. Es verteidigte die Gerechtigkeit. Es verteidigte die Ordnung. Es verteidigte eine im wahren Sinn „römische“ Idee. Es scheiterte.

Die Welt kann nicht umhin, als mit Schmerzen zu konstatieren, daß das Aufbrechen des „Völkerkerkers“ viele Nationen des alten Reiches auf eine Straße führte, die in wirkliche und grauenhafte Kerker führte, denen gegenüber das alte Oesterreich mit seinen Fehlern geradezu als ein Paradies erscheint.

Das alte Oesterreich verteidigte eine römische Idee, eine Idee, der sich Europa erst langsam wieder zuzuwenden beginnt. Dieses neue Europa wird für das alte Oesterreich eine große Bewunderung besitzen. Es wird aber auch aller jener aus seinen Nationen gedenken, die diese „römische“ Idee Oesterreichs verteidigten. Es waren viele. Aus allen Nationen. Denn der kleine Bruder des großen Papstes hatte in Wahrheit viele Brüder.

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