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Die Entthronung der Stephanskrone

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Zum drittenmal in seiner tausendjährigen Geschichte und innerhalb der letzten hundert Jahre haben es Kräfte übernommen, die überlieferte Herrschaftsform in Ungarn, die Monarchie, zu beseitigen und durch eine republikanische Verfassung zu ersetzen.

1848 war es Läjos Kossuth, 1918 Mihail Graf Karolyi, die den Träger der Königskrone verdrängten und die Würde des Staatsoberhauptes für sich in Anspruch nahmen. Der Beweggrund 1848 war der Kampf gegen die Dynastie, hinter dem ein zum Äußersten gesteigerter rassischer Chauvinismus drängte, 1918 war es der nicht leicht zu bändigende Unabhängigkeitsdrang — das Streben „Los von Österreich“, das mit Deutschland verbündet war — Batthyani prägte damals das Schlagwort „für Ungarn gegen Hohenzollern“.

Beide Bewegungen erwiesen sich als zu schwach. In beiden Fällen führte die Kraft der Idee, die in der alten heiligen Krone ruht, nach verhältnismäßig kurzer Zeit und geringen äußeren Anstrengungen zur Wiederherstellung der ererbten Staatsform. Die monarchistische Verfassung bedeutete im ungarischen Staatsrecht unvergleichlich mehr, als in jeder anderen Monarchie. Nicht das königliche Haus ist es, in der sich die Staatsform verankert findet, nicht die Einrichtungen der Gesetzgebung und Verwaltung sind es, sondern der nur dem Ungarn verständliche, ihm aber selbstverständliche Mythos, der der heiligen Krone innewohnt.

Die Stephanskrone ist nicht bloß ein durch ihr Alter ehrwürdig gewordenes Reichskleinod. Sie ist nicht bloß das ehrfurchtgebietende Diadem des Staatsoberhauptes, sondern sie ist der Träger der Staatsgewalt selbst. Der klassische Kenner des ungarischen Staatsrechts, der königliche Personal, Josef von U e r m e n y i, dessen Werk unter dem Namen Rosemanns Staatsrecht allgemein bekannt ist, sagt von der ungarischen Monarchie ausdrücklich, sie bestehe, „seitdem die oberste Gewalt auf die eine heilige Krone übertragen wurde“. Dabei unterscheiden Urkunden und Schriftsteller sorgfältig, wenn sie von der Krone schlechthin sprechen und diese nur als Reichskleinod bezeichnen wollen, und der „Heiligen Krone“, wenn sie die oberste Staatsgewalt zu bezeichnen wünschen. Schon in dem Dekret Matthias I. von 1462 wird die Auflehnung gegen die heilige Krone als Felonie bestraft. Es war schon eine Scheidung zwischen der Gewalt des Königs und der Krone als solcher eingetreten, die am deutlichsten ward während der Herrschaft König Sigismunds. Die Adelsparteien verbündeten sich gegen den König, kündigten ihm seine Gefangenschaft an, die vier Monate währte. In-dieser Zeit regieren, geführt von Paladin und Primas, die Stände das Reich. Der Primas nennt, sich Kanzler der Heiligen Krone, der Rat der Stände verfügt „durch die Autorität der Heiligen Krone“. Aber auch der König beruft sich bei seinen Verfügungen nicht nur auf den Rat seiner Prälaten, Barone und Edelleute, sondern vor allem auf die Kraft der Autorität der Heiligen Krone. Die Verwaltung seiner deutschen Länder und das Konzil in Konstanz halten Sigismund viel vom ungarischen Boden fern. Unterdessen verwaltet der ständische Rat mit Paladin und Primas an der Spitze das Reich, und der ungarische Staat, die Heilige Krone* wird als mystischer Körper immer mehr selbständig, die Person des Königs geradezu entbehrlich.

Eine besondere Rolle spielen im Wirkbereich der Heiligen Krone der grundbesitzende Adel und die königlichen Städte als Grundbesitzer. Sie sind, man könnte sagen, Mitglieder der Heiligen Krone und genießen kraft dieser Anteilschaft eine Reihe von Vorrechten, so auch das der Steuerfreiheit. Nicht der Adelige ist steuerfrei, sondern der adelige Grundbesitz. Der Adel, der seinen Grundbesitz verloren, verliert auch sein Anrecht auf Steuerfreiheit. Die königlichen Städte werden als Rechtspersonen wie ein Adelsmann gehalten. Aus dieser Anteilschaft an der Heiligen Krone erklärt es sich auch, daß nur der gekrönte Fürst Herrschaft über Land und Leute, die der Heiligen Krone zugehören, auszuüben vermag. Der ungekrönte König hat keine Herrscherbefugnis. Aus dieser besonderen Stellung erklärt es sich aber auch, daß der König außer Land zwar an der Ausübung der Herrschaft verhindert ist, nicht aber der Thron ledig erscheint. Die Fortführung der Staatsgeschäfte wird davon nicht beeinflußt. Die Heilige. Krone herrscht weiter. Aber der Reichsverweser übt sein Recht nicht im Namen des verhinderten Königs, sondern kraft der Autorität der Heiligen Krone. Seit 1918 gab es keinen König mehr \n Ungarn. Seit 1919 aber bezeichnete sich dieser Staat wiederum überall als „Königreich“. Der Gedanke der Herrschaft der Heiligen Krone, der sich im Frühmittelalter entwickelt hat, bleibt eben bis in unsere Tage lebendig und wirksam. Das besagt nicht, daß die Entwicklung nicht Zwischenfälle kennt, in denen man sich gegen diese Staatsrechtsauffassung'wehrt. Schon 1440 versucht man das Reich und die Reichsgewalt nicht nur von der Person des Königs,.sondern von der Stephanskrone selbst zu emanzipieren. Hochmütig erklärt der Reichstag: „Nicht die Heilige Krone krönt, sondern der Wille der Stände“. Aber das sind vorübergehende Erscheinungen. Gleichmäßig und beharrlich setzt sich immer wieder der Gedanke durch, daß der ungarische Staat eine arteigene, an das Symbol der Krone König Stephans gebundene, schon seit Bela IV. als sacra oder auch saneta Corona bezeichnete Monarchie darstellt, bis Stefan Werböczy in seinem Werke „Tripar-titum“ eine Aufzeichnung des Rechtes Und der Gewohnheiten des ungarischen Reiches gibt, die 1514 vom Reichstag und König, zwar nicht formell als Gesetz, aber als die autoritäre Grundlage des ungarischen Staatsrechts anerkannt und 1517 zu Wien veröffentlicht worden war. Auch Werböczy stellt das ungarische Reich als ein corpus, als eine Gemeinschaft von König und Adel dar, die zusammengefaßt wird zu einem höheren Ganzen, das sich im Symbol der Stephanskrone kundgibt. Von Werböczys Werk leiten sich alle Lehren von der Souveränität der Heiligen Krone, von der Teilung der Gewalt zwischen Krone und Volk,' von der Einheit des Reiches und der adeligen Freiheit, bis in die jüngste Zeit her. Das Wesen des Staates, der sacrae coronae, ist die adelige Freiheit, die in der Heiligen Krone einen mystischen Abschluß, einen vom jeweiligen König unabhängigen Hort erhält. Auch andere Schriftsteller von hervorragendem Ruf, wie Cziraky, bezeichnen als Territorium Ungarns alle Gebiete, die „der Heiligen Krone und d tur c h s 1 e dem gesetzlichen Fürsten untertänig sind“. Also auch hier erscheint die Heilige Krone über dem Fürsten und als Trägerin der obersten Lehensgewalt. Der König leiht ihr gleichsam nur die Hand. Diese Auffassung wirkt bis in die modernste Zeit herüber. Einer der größten Ungarn, Deak, legt den Gesetzesartikel II. aus 1723 aus und sagt: „Hier ist unter dem Worte ,Corona' nicht das Symbol der königlichen Gewalt, die Krone selbst, sondern der Staat oder Ungarn als Staat zu verstehen.“ Freilich mit dem Wegfall des Lehenswesens verlor das überlieferte ungarische Staatsrecht stark an Realität. Wie tief sie aber in der ungarischen Gedankenwelt verhaftet blieb, zeigt, daß auch neuere Staatsrechtslehrer die Idee der Heiligen Krone auch nach der revolutionären Gesetzgebung von 1848, noch ali zu Recht bestehend erklären. So Graf Albert Apponyi in seinem Werk „Le parlement de la Hohgrie“. Ihrer Theorie nach habe die Gesetzgebung von 1848 das gesamte ungarische Volk in die Schanzen der Verfassung aufgenommen und dadurch zu Mitgliedern der Heiligen Krone erhoben.

Mannigfaltig war das Schicksal der Krone selbst. Mehrmals wurde sie außer Land gebracht. Dabei wurde das Kreuz über dem Stirnbügel verbogen. Ein leichter Eingriff goldschmiedlicher Kunst könnte die Veränderung beheben. Aber niemand in Ungarn dachte daran; an dem Symbol soll so wenig gewillkürte Veränderung stattfinden, wie am überlieferten Reich selbst. So ist das schiefe Kreuz auf der Krone zum Charakteristikum geworden.

Der Rationalist mag über all diese Dinge staunen oder erhaben den Kopf schütteln. Wer es gelernt hat, in die Seelen der Völker hineinzuhorchen, wird das Staunen teilen, die sich überlegen dünkende Vernünftelei aber ablehnen, in der Erkenntnis der großen Kraft quelle, die einem Volk aus geheiligten Uberlieferungen quillt. Ein Jahrtausend haben sie Ungarns Verfassungsleben fruchtbringend gespeist. Die gewaltigen Erschütterungen des zweiten Weltkrieges rufen tiefgehende soziale und rechtliche Änderungen hervor. Ob jetzt die geschichtliche Entwicklung tatsächlich das Ende der Herrschermacht der Heiligen Stephanskrone gebracht hat, wird die Zukunft lehren.

Wie immer es sei, auf die Heilige Krone wird das Dichterwort Geltung finden: „ ... aber ging es leuchtend nieder, ledchtets lange noch zurück“.

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