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Die Etappen des französischen Katholizismus seit 1945

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Nach umwälzenden Ereignissen, wenn sic|i alle Probleme zugleich in äußerst zuęįespitzter, beinahe reiner Form darbieten, scheint es, daß Ideen und Geschichte mit Riesenschritten vorwärts- gehen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebte Frankreich eine solche fieberhafte Epoch.e, und ein guter Beobachter der französischen Jugend, Remy Montagne, der Präsident der Katholischen Vereinigung der französischen Jugend war, zählt zwischen 1945 und 1952 nicht wepiger als drei aufeinanderfolgende Jucjend-„Generationen", die drei große Etappen in dieser raschen Entwicklung darstellen: auf die Begeisterung der B e- freiung und der ersten Wiederaufbauzeit folgte, von 1947 an, das Bemühen um eine weitaus- gręifende intellektuelle Synthese, kräftig markiert als „Progressis- mus". Seit 1950 — und das war die dritte Stufe — wurde dieses Bemühen, manchmal nicht ohne Bedauern, aufgegeben und map ging mutig daran, die Linien einer beschränkten und bescheidenen Aktion zu suchen, indem man sich in erster Linie um deren Tiefe und Wirksamkeit bekümmerte.

Efiese Linien, die sich in der Entwicklung der Jugend deutlich abzeichnen, bilden im allgemeinen ein ziemlich genaues Schema für den Werdegang des französischen Katholizismus seit 1945.

Öie großzügige und von neuen Ideen überquellende „Generation der Befreiung" hielt alles für möglich und erreichbar. Die Vergangenheit schien daher endgültig abgetan, die Aussichten für einen geistigen Wiederaufbau günstig und die Tat war überall die herrschende Kraft.

Die große Realität auf religiösem Ge- bietį war wohl die ungeheure und tiefgehende Entchristlichung des Landes: der allgemeine Durchschnitt der praktizierenden Katholiken beträgt 12 bis 20 Prozent, in den Dörfern 30 Prozent oder vielleicht mehr, in den Großstädten und ihrer Bannmeile 10 Prozent. Diese schon alte Tatsache wurde durch einen jungen, aus denj Volke kommenden Abbe, welcher die Trennung zwischen der Kirche und der modernen „Masse" besonders deutlich1 gefühlt hatte, ans Tageslicht gerückt. Sein 1943 erschienenes Buch „Frankreich, Land der Mission" beschrieb auf realistische, konkrete, aufrichtige, ja beinahe brutale Art die Lage des Christentums in den Großstädten und wies darauf hin, daß die Seelsorgemethoden der christlichen Frühzeit in bestimmten Verhältnissen gegenwärtig nicht mehr anwendbar sind. Eine gleichzeitig angestellte Untersuchung des Abbe Boulard berichtete! über die analoge Lage auf dem Lande. Schließlich begann ein Pariser Pfarrer, Abbė Michonneau, seine Volkspfarre in eine wirkliche „Missionsgemeinde" umzuwandeln und legte die dort! gemachten Erfahrungen in einem Echo erweckenden Buch nieder.

Die von Abbe Godin und diesen ersten Neuerern entfachte Flamme begann bereits das Lager des ganzen bekenntnisfreudigen Frankreich zu erhellen. Vor seipem vorzeitigen Tod im Jänner 1944 hatte Abbe Godin die von Kardinal Suchard ermutigte Schaffung der „Mission de France" angeregt, auf welche bald die besonders für die Arbeitervororte der Hauptstadt bestimmte „Mission de Paris" folgte, welche für die Vorbereitung der neuen Missionare und die Erneuerung der apostolischen Methoden bestimmt war; Als Vorhut erstrebten die Arbeiterpriester, indem sie mit den allzu bürgerlichen Lebensformen brachen, eine totaje Lebensgemeinschaft mit den Fabrikarbeitern und den Familien aus dem Volke, zu denen man sie schickte.

Es war unvermeidlich, daß durch diese umfassenden Erneuerungen die klassische priesterliche Spiritualität und sogar der Aufbau der Seelsorgeorganisationen zum Teil in Frage gestellt wurden. In den neuen apostolischen Mannschaften und im gesamten jungen Klerus entwickelte sich ein Zug zur Selbstkritik, der von der

Hierarchie zwar gebremst, aber nicht mißbilligt wurde, und der Kardinal von Paris nahm diese neuen Vorschläge in einem bedeutsamen und mutigen Hirtenbrief an und verband sie auf glückliche Weise mit dem Sinn der kirchlichen Tradition. Sowohl vom Gesichtspunkt der neuen Geistigkeit des Klerus, als auch im Sinne des seelsorgerischen Aufbaues besteht nunmehr die Tendenz, apostolische, Gemeinschaften bildende Mannschaften aufzustellen: zunächst als lebendige Priesterkommunitäten, dann als Pfarrgemeinschaften, die als solche Zeugnis ablegen sollen.

An diesen tiefschürfenden und notwendigen Umwandlungen waren die Laien in weitem Maße beteiligt gewesen. Die von Priestern und Laien gemeinsam durchgeführten Forschungsmethoden der Katholischen Aktion hatten dazu beigetragen, das Zeitnahe und Wirkliche an den Problemen herauszuarbeiten, und die Lösung der Probleme richtete sich nach den konkreten Erfahrungen der kämpfenden Katholiken. Gleichzeitig werden sich die Laien als immer aktivere Mitglieder der Kirche der sie betreffenden Probleme bewußt. Audi sie sind auf der Suche nach einer neuen, lebendigeren Geistig-

keit, die eher geeignet ist, Anregung in ihr weltliches Dasein zu bringen. Sie fordern ungestüm eine weniger starre, leichter zugängliche Liturgie, bei der das gläubige Volk aktiver beteiligt ist. Durch ihre berechtigten Forderungen werden zahlreiche Arbeiten und Nachforschungen, besonders die des „Zentrums der liturgischen Seelsorge" der Dominikaner, angeregt.

Fest verankert in der Kirche sind sich die Besten der Laienwelt ihrer Verantwortung und ihrer christlichen Verpflichtung in der Profanwelt schon voll bewußt. Die in der Resistance begonnene politische Aktion erlebt einen plötzlichen Aufschwung: zum erstenmal in der Geschichte des französischen Parlaments bemüht sich eine wichtige politische Gruppe, die soziale Lehre des Katholizismus zu verwirklichen. In der breiten Masse verbinden zahlreiche spezialisierte Volksbewegungen der Katholischen Aktion — Erwachsenenbewegungen — voll Begeisterung die geistige Tätigkeit für die Eroberung der Seelen mit der konkreten Tätigkeit für die Reform des Aufbaues der weltlichen Einrichtungen.

Auf der zweiten Stufe

Diese überreiche Tätigkeit wird durch eine intensive Gedankenarbeit unterstützt, die sich zwischen 1947 und 1950 auf allen Gebieten zeigt. Die Geistlichen haben ihre abgeschlossene Welt verlassen und suchen christliche Lösungen für weltliche Probleme, die Laien tragen zur großen Forschungsarbeit der Stunde bei: der Zusammenhang zwischen der Kirche und dem Aufbau sowie den Ideologien der modernen Welt (J. Folliet: „Christen am Scheideweg" „Chretiens au Carrefour" , 1947).

Aber der christliche Gedanke geht über diese sachlichen Nachforschungen weit hinaus. Die Theologie wird durch eine

„Rückkehr zu den Quellen", zur Bibel, zur Liturgie, zu den Lehren der Väter, erneuert und erweitert. Indem es seine marxistische Nachahmung übertrifft, findet das Christentum diesen weiten geschichtlichen Sinn wieder, den es mit den Dogmen von der Schöpfung, der Erbsünde, der Fleischwerdung und der Erlösung mit der Hoffnung auf die Wiederkunft als erstes diese Welt gelehrt hat: es betrachtet die ihrem Ende zugehende Menschheit wie eine nach einem verheißenen Lande wandernde Karawane.

„Indes", schreibt P. Congar, „die Bewegung, die den Klerus und die Gläubigen dazu gebracht hat, mit den Menschen

zusammen an den Nachforschungen und Hoffnungen dieser . Welt teilzunehmen, verhilft ihnen auch zu einer absoluten Redlichkeit weltlichen Dingen gegenüber; zu einem aufrichtigen Interesse an diesen Dingen, das nicht mehr als Vorwand dient, nicht mehr als Gelegenheit, um ein Verdienst zu erlangen, oder gar ein Mittel, um andere Werte zu gewinnen Die Christen nehmen die Ehrung des Profanen in der Welt ernst; sie empfinden das lebhafte Bedürfnis nach einer theologischen Rechtfertigung ihrer ehrlichen Befassung mit dem Weltlichen und sind ergriffen von dem weiten Horizont, der sich ihnen durch die großen intellek

tuellen Synthesen eröffnet. Aus dieser Schau entsteht eine neue Mystik der Arbeit.“

So stießen gewisse Katholiken auf Kosten manchmal gefährlicher Kompromisse auf die großen spirituellen oder intellektuellen Strömungen der Welt — die evolutionistische, existentialistische und die hegelianische beziehungsweise marxistische —, so daß Rom über den „Progressismus", der gewisse dieser Orientierungen kennzeichnet, beunruhigt war. Die Enzyklika „Humani Generis" im Jahre 1951 war durch diese Tatsache begründet.

Unsere dritte katholische „Generation", die, enttäuscht, ihren intellektuellen Hunger und ihre ungelösten Probleme nicht los wird, läßt die großen geistigen Konstruktionen vorläufig beiseite, begnügt sich freiwillig mit bescheidenen, begrenzten Aufgaben und widmet sich vor allem einer wirksamen Tätigkeit.

Die katholische öffentliche Meinung verfolgt die apostolischen Bemühungen der „Mission de Paris" und der „Mission de France" voll Sympathie und lebhaftem Interesse: einer der größten literarischen Erfolge des Jahres 1952 ist die als Roman gebrachte Erzählung über das Leben eines Arbeiterpriesters in einem elenden Pariser Vorort („Die Heiligen gehen in die Hölle" — „Les Saints vont en enfer" — von Gilbert Cesbron).

Die Katholische Aktion, die wir auch in der weltlichen Tätigkeit ebenso eifrig gesehen haben wie in der geistigen Eroberung, ist eben dadurch auf schwierige Probleme gestoßen. Sie als kirchliche Einrichtung — kann sie die Kirche in ein reformatorisches Vorgehen einspannen, das die Verwendung politischer, wirtschaftlicher, psychologischer und sozialer Methoden voraussetzt, die nicht mehr zum Wirkungsbereich der Kirche gehören? Sicherlich nicht. Aber andererseits, wenn man es sich versagte, auf die geistigen Strukturen der Gesellschaft einzuwirken, begäbe man sich auch jeder Möglichkeit, die hostile geistige Einstellung des Proletariats umzuwandeln, die ganz und gar von jenen Strukturen beherrscht wird; die Eroberung des Geistigen selbst schiene im besten Sinne des Wortes an eine wahrlich revolutionäre weltliche Tätigkeit gebunden zu sein, welche die elementarste menschliche Gerechtigkeit erfordern würde.

Die „Krise" löste sich in den letzten Jahren durch eine Verdopplung der Bewegungen, die sich in zwei Richtungen wandten: einerseits eine mit sozial-weltlicher Zielstellung — andererseits eine apostolische, gerichtet auf die geistige Formung der Menschen. Ein enges Band verknüpft die beiden Tätigkeiten, da es die Aufgabe der Katholischen Aktion war, die in den selbständigen Gruppen für weltliche Tätigkeit eingesetzten Christen anzuregen und dieser profanen Tätigkeit eine dogmatische Basis und eine übernatürliche Orientierung zu geben. So hat sich außerhalb des ursprünglichen M. P. F. (Mouvement Populaire des Families — Familienvolksbewegung), die sich völlig profanen Zielen verschrieben und jetzt schon den Namen Arbeiterbefreiungsbewegung (Mouvement de Liberation Ouvriere) angenommen hat, eine neue „Katholische Arbeiteraktion" gebildet, die offiziell von der Kirche anerkannt wird und für welche die Hierarchie verantwortlich ist. Dieselben Bestrebungen findet man im M. F. R. (Ländliche Familienbewegung, Mouvement Familial Rural) und bei zahlreichen spezialisierten Gruppen der Katholischen Aktion.

In der christlichen Laienwelt ist das gegenwärtige Aufblühen der Vereinigung „Heiligung der Familie" („Sain- tetė familiale") den im Lauf der letzten zwanzig Jahre wunderbar wiederentdeckten geistigen Reichtümern des Sakraments der Ehe zu verdanken. Die zahlreichen jungen, christlichen Ehe

paare, die heute die Kirche mit ihrer Lebenskraft und ihrem Einfluß bereichern, finden in den Gruppen „L'Anneau d'Or" („Der goldene Ring“), „Foyers" („Junge Ehepaare") und „Vie nouvelle“ („Neues Leben") Stätten der gegenseitigen Hilfe, an denen die großen Themen der Eucharistie, der Ehe und der Sakramente des Familienlebens ihre geistige Vertiefung erfahren.

Letzthin wurde die Taufe des fünften Kindes eines der Leiter der intellektuellen, sozial-christlichen Bewegung, J. Dubois-Dumėe, des gewesenen Chefredakteurs des Wochenblattes „Temoign- age Chretien" („Christliches Bekenntnis"), als ein großes christliches Fest mit voller Entfaltung liturgischer Schönheit und dem Bekenntnis zur Katholizität gefeiert: ein spanischer Pate und eine deutsche Patin antworteten an Stelle des jungen Täuflings.

Diese Einzelheit erläutert eine neue Tatsache: die französischen Katholiken haben nach den sozialen Problemen die christlichen Erfordernisse auf internationalem Gebiet entdeckt. Der gegenwärtige Aufschwung der Bewegung „Pax Christi“, der durch die Enzykliken und die eindringlichen Botschaften des Oberhauptes der Christenheit gefördert wurde, beweist, daß die Christen endlich verstanden haben, daß internationaler Friede und soziale Gerechtigkeit nicht nur ein frommer Wunsch sind, sondern eine Pflicht: wie anderwärts versuchen die Pfarren auch auf diesem Gebiet in bescheidenem Umfang, aber wirksam, zu handeln, sie kämpfen gegen Vorurteile und trachten, den Sinn für Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Nichtfranzosen zu entwickeln, so daß das Wort „Etranger“ („der Fremde“) schließlich seinen Sinn verliert.

Dies sind, kurz skizziert und ein wenig schematisiert, die Etappen des französischen Katholizismus seit 1945. Man kann nicht leugnen, daß auf den geistigen Aufschwung der Befreiungsjahre und der raschen intellektuellen Entwicklung der Jahre 1947 bis 1950 ein gewisses Nachlassen folgte. Es traten zu viele, schwer zu lösende Probleme auf. Deshalb will die neue Generation nichts mehr von Theorien hören. Sie gibt sich zufrieden, wenn sie ihre Aufgabe nicht allzu schlecht erfüllt.

Darin liegt eine Gefahr. Die Tat bedarf eines Ideals, von dem sie angeregt, belebt und gestärkt wird. Die „Vertreter der bescheidenen, konkreten, wirksamen Tat“ sind geneigt, Bemühungen, die zum Beispiel dahin gehen, Klassen und Völker trotz aller Hindernisse zu versöhnen, wenig ernst zu nehmen. Das katholische Leben in Frankreich erscheint heute charakterisiert durch eine Pause, hervorgerufen durch eine gewisse Müdigkeit. Es wäre nicht zutreffend, von einer Rücknahme der geistigen Front, von einer Wiederherstellung früherer Zustände, wie sie auf politischem Gebiete zu verzeichnen ist, zu sprechen. Aber es ist eine Zeit des Innehaltens. Die Jugend ist irregemacht: zwei kürzlich angestellte Untersuchungen der Revue „Hommes et Mondes" („Menschen und Welten"): „Wenn man 1951 zwanzig Jahre ist“ und „Will die europäische Jugend Europa?", haben ihren Skeptismus gezeigt. Nur die Bewegungen der Erwachsenen, der „Foyers", und der anderen Vereinigungen zur Erneuerung der christlichen Ehe haben ihren vollen Schwung behalten. Unter ihnen befinden sich augenblicklich die lebendigsten Elemente des französischen Katholizismus.

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