6617841-1955_43_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Flamme von Vieux-Marche

Werbung
Werbung
Werbung

Yvonne Chauffin, deren Name bei den Kennern der französischen Literatur bereits einen guten Klang hat. wird in diesem Herbst den deutschsprachigen Lesern mit ihrem großen Familienroman „Die Rambourt“ (Verlag Herold) vorgestellt.

An der Nordküste der Bretagne, in Vieux-Marche, unweit von Plouaret, steht ein Heiligtum, dessen Krypta ein alter Dolmen bildet und wo die Sieben Schlafenden von Ephesus verehrt werden.

Diese Sieben Schlafenden waren junge Ephe-ser, die sich unter der Herrschaft des Kaisers Decius weigerten, den Götzen zu opfern. Sie wurden lebend in einer Höhle eingemauert, die Maria Magdalena als Grabstätte diente und zehn Kilometer von dem Ort der Himmelfahrt der heiligen Jungfrau lag. Die Einmauerung erfolgte im Jahre 250 und die Märtyrer schliefen ein, um erst im Jahre 448 zu erwachen, erschüttert von einem Erdbeben, das die Mauer vor ihrer Höhle zerstörte. Einer der Sieben Schlafenden ging fort, um Nahrungsmittel einzukaufen. Seine Kleider waren nicht wie die der anderen und seine Münze trug noch das Bild des Kaisers Decius. Er selbst wunderte sich, das Kruzifix in jedem Hause verehrt zu sehen. So wurde das Wunder erkannt und von Kaiser Theodosius, seiner Gemahlin und dem Bischof von Ephesus unter großem Pomp gefeiert. Doch die Sieben Schlafenden aus der Höhle schlössen ihre Augen von neuem und sollten sie nicht mehr öffnen.

Es wurde ihnen ein allgemeiner Kult geweiht. Die lateinische, russische, griechische und abes-sinische Kirche verehren sie und ein chinesisches Monument stellt ihre Grabstätte dar. In besonders hohen Ehren stehen sie bei den Mohammedanern. Jeden Freitag ertönt in allen Moscheen der Welt jene Sure des Korans, die dem Andenken der „Höhlenleute“ gewidmet ist.

Die bretonische Wallfahrt vom 24. Juli nach Vieux-Marche erhielt in diesem Jahre durch die Einladung mohammedanischer Persönlichkeiten eine weittragend ökumenische Note, was verdient, besonders hervorgehoben zu werden. Zahlreiche Mohammedaner, die nicht anwesend sein konnten, vereinigten sich durch Telegramme und Briefe in dem gleichen Gebet um die Wiederherstellung des Weltfriedens.

Gebet um den Frieden! Kann es ein ergreifenderes und wirksameres geben als das gemeinsame Gebet des Christentums und des Islams, das aus diesen den Sieben Schlafenden gewidmeten bretonischen Heiligtum emporsteigt?

Die Kapelle wurde Anfang des 18. Jahrhunderts über dem Dolmen neu aufgebaut. In die Krypta steigt man durch eine Art von Aushöhlung hinab. Sie trägt die Widmung:

„Dieser Ort wurde von Gott erschaffen. Für die Kapelle genügen sechs Steine. Vier bilden die Mauern und zwei das Dach. Wer zweifelt, dies sei das Werk des Allmächtigen?“

Das Christentum übernahm diese riesigen Steine — ein Beweis, daß sie als heilig betrachtet wurden, als man sie in die Mauern einbaute. Zweifellos war dieser Dolmen der Grabstein von Menschen, die wegen ihrer Tugend verehrt wurden. Man hat es für richtig gefunden, an ihre Stelle die Sieben Schlafenden zu setzen, deren Verdienste sie dazu bestimmten, das zu ergänzen, was diesen gerechten Heiden gefehlt hat. Eine Lampenreihe, wie im Theater zur Zeit unserer Väter, erleuchtet mit acht Kerzen die Terracottastatuetten, die in längstvergangenen Zeiten in den Lehm versenkt wurden. Ihre blauen und ockerfarbenen Schattierungen haben die Weichheit einer Gouachemalerei.

lieber den Ursprung des Kultes der Sieben Schlafenden ist schon viel Tinte geflossen und es ist ziemlich schwierig, zu sagen, wann er in der Bretagne seinen Anfang genommen hat.

Alles was von Trevedy, Luzel, Renan, von den Bollandisten, von Jacques de Voragines oder Gregoire de Tours oder von gewissen fanatischen bretonischen Gelehrten über die Sieben Schlafenden geschrieben wurde — was kann es für eine Wichtigkeit haben? Wichtig ist allein, daß die Sieben Schlafenden im römischen Martyrologium am 27. Juli, im byzantinischen am 4. August und 22. Oktober gefeiert werden und daß sie bei den Mohammedanern den Gegenstand eines besonderen Kultes bilden.

Der unbeugsamen Achtung des Islams für einen Gott allein geweihten Kult widerstrebt es, über der Hülle des Leichentuches eine prächtige Kuppel zu errichten. Die Gebete des Korans werden nicht an Gräbern verrichtet. Nur für die Märtyrer aus Ephesus macht der Koran eine Ausnahme und et wurde gestattet, über ihrer Grabstätte einen Gebetsort zu bauen. Diese Heiligen genießen die einzigartige Glorie, in allen Moscheen jeden Freitag durch die Lesung der 18. Sure geehrt zu werden, die dem Andenken jener geweiht ist, die ihr Leben in der Verfolgung um des Glaubens willen hingegeben haben. Sie sind keine Toten mehr, sondern schon Lebende vor Gott und sie sind für die Mohammedaner Herolde der Auferstehung des Fleisches.

Was bedeutet es schon, wenn die Legenden um die Sieben Schlafenden mit bizarren Details ausgeschmückt wurden? Wesentlich ist, daß sie Verteidiger des Glaubens waren. Sie gehören zu jenen, die vor Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit sterben und die nur Fleisch und Blut des Lammes sättigen kann. Sie haben es zurückgewiesen, das Fleisch des Götzenopfers zu essen. Die Zurückweisung geht ihrem Wunsch voraus, unberührt zu bleiben für die Kommunion mit dem Fleisch und Blut Christi, dem Unterpfand der Auferstehung. Sie haben sich in die Höhle gerettet, an deren Schwelle das Grab Maria Magdalenas lag, der Christus das vorzeitige Auferstehen ihres Bruders Lazarus gewährt hatte. Ihr, die in ihrer Ungeduld die erste war, den Auferstandenen zu sehen, ehe er zum Vater aufstieg. Ihre Grabstätte ist in Ephesus, dort, wo im Jahre 431 das Dogma der Gottesmutterschaft Mariens verkündet wurde.

Am 8. Juni 1954 schrieb der Erzbischof von Smyrna: „Die Grotte der Sieben Schlafenden, das Haus der Jungfrau und die Basilika des Konzils müssen eine untrennbare Dreieinigkeit bleiben, über die jeder Besucher von Ephesus nachdenken sollte. Die Betrachtung des Pilgers von Ephesus und jene des Pilgers von Vieux-Marchi in der Bretagne sind einander heute sehr nahe.“ Durch das Gebet des IslaVns hat die traditionelle Wallfahrt im Marianischen Jahr eine unerhörte Ausbreitung erfahren. Diese. Einheit im Gebet setzt sich an jedem ersten Freitag des Monats fort, wenn Christen und Mohammedaner sich in dem gleichen Geist der Brüderlichkeit und in der gleichen Hoffnung auf den Weltfrieden finden.

Die kleine Kapelle füllt sich. Die Frauen unter vierzig und die Männer tragen nicht mehr die traditionelle Tracht der Vorfahren. Nur die grauen Köpfe der Großmütter schmückt noch die Haube von Paimpol, eine Art Mitra aus gestärktem Musselin. Die Menge drängt sich, die Männer vorne, die Frauen in dem schmalen Kirchenschiff. Der Pfarrer macht den jungen Burschen ein Zeichen, vorzugehen: „He, Jobic, da ist noch Platz! Pierre, bleib nicht dort hinten stehen!“ Neben den Einheimischen sieht man Touristen, Orientalen und einige unserer Brüder aus Nordafrika. Die Gesänge des alten Gwerz tönen ohne Ende zu dem wurmstichigen Holzgewölbe empor.

Ein sanftes Licht badet an diesem Abend die bretonische Heide, die nicht mehr der „Tempel erloschener Kerzen“ ist, sondern glühender Boden, von dem das Gebet der getrennten Brüder aufsteigt.

Das Gebet überflutet die Granitmauern, rieselt über die Wände, tränkt den Staub ... Den Staub unserer Kapellen, den die Frauen an gewittrigen Abenden sammeln, um ihn in den Seesturm zu streuen. Die Luft in der Kapelle wird schwer und die Strophen des Gwerz schweben wie ein Klagelied sanft und traurig dahin. Habe ich nicht die gleiche sehnsüchtige Trauer in den Gesängen der Fellachen des Niltals gehört? Heute ist der Islam unser Gast. Wir haben nicht nur unseren getrennten Brüdern Aufmerksamkeiten zu erweisen, wir müssen vor allem Gott danken, daß einige von ihnen unter uns sind und ihr Gebet mit dem unseren vereinigen. In diesem Gebet finden sich biblische und evangelische Fragmente wieder, die sie für sich und für uns im Koran aufbewahrt haben.

Die Vesper — jene der Feste mehrerer Märtyrer — geht zu Ende. Die Prozession setzt sich für den Auszug in Bewegung. Rings um die Kapelle stehen kleine, niedrige Häuser und langgestreckte bretonische Bauernhöfe mit wenigen Fenstern; grau ihre Mauern, grau das Schindeldach, altersgrau alles unter dem bleigrauen Abendhimmel. Die Kinder mit den Kirchenfahnen gehen zu zweit, in der Mitte des Zuges die jungen Männer mit den Bannern. Die Männer gehen dem Klerus voran, dahinter drängen sich die Frauen in einer beweglichen Schar. Die Gesänge des Gwerz steigen schwer und sehnsüchtig auf, wie zuvor in der Kapelle. Ein kleiner zwiebeiförmiger Kirchturm spielt Minarett. Die Schieferdächer schimmern in der Dämmerung weißlich wie Knochen. Die blauen, gelben und rosa Vierecke der Kirchenfahnen verblassen. Das Purpurrot eines Samtbanners setzt einen Blutfleck in das sanfte Erlöschen.

Das Violett der Prälaten, das Weiß der „Petits Freres de Foucauld“, der Hermelin der Domherren, die ganze Farbenskala nähert sich der großen Auftürmung von Holz und trockenen Zweigen. Msgr. Herve zündet den Holzstoß an. Dichter Rauch, geschwellt von den Düften des Abends, steigt wie ein riesenhaftes, wildes Gebet zum Nachthimmel empor. Die Scheite fangen Feuer. Nur noch eine riesige, verzehrende Flamme ist da: „Herr verzehre mich mit dem heiligen Feuer Deiner Liebe!“ Es ist die Flamme aus dem Abendmahlsaal am Tage des Pfingst-festes und die Flamme des brennenden Dornbusches, den Jahwe erwählt hatte, um zu Moses zu sprechen. Flamme von Vieux-Marche. Flamme der Sieben Heiligen von Vieux-Marche ... Das Feuer, dessen bretonischer, liturgischer Name Tantad ist, brennt langsam nieder. In dem Rot der Glut werden die Zweige schwarz, verdorren und winden sich wie die Arme angeketteter Gefangener.

Nach dem Abendessen beginnt die Gebetswache. Kleine Gruppen schreiten im Dunkel zur Kapelle. Am Morgen wird die erste Messe um

7 Uhr gelesen.'Die Zahl der Kommunikanten ist groß. Beim Hochamt um 10.30 Uhr wechseln die Strophen des unerschöpflichen alten Gwerz mit den liturgischen Gesängen ab. Deutlich spricht der zelebrierende Priester die Worte der Epistel: „Des Todes Qual berührt sie nicht ... Ihre Hoffnung ist voll der Unsterblichkeit ...“ Und die Worte des Evangeliums: „Es wird euch gegeben sein, Zeugnis abzulegen ... Haltet fest in eurem Herzen, daß ihr nicht zu überlegen braucht, was ihr sagen werdet, denn ich werde es euch in den Mund legen ...“ Durch Zeit und Raum gelangt heute das Zeugnis in seiner ganzen Kraft und Reinheit zu uns.

Am Heimweg sprechen wir mit den „Petits Freres de Foucauld“ wie die Jünger am Oster-abend miteinander sprachen. Und das Herz brannte in uns, denn wir hatten bei der Wallfahrt nach Vieux-Marche die Stunde des Brotbrechens erlebt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung