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Die gelte Totenvorreitersche

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Alte Leule in Reval wissen aus den Erinnerungen ihrer Kindheit noch heute von einer merkwürdigen Frau zu erzählen. Wie jeder Mensch muß sie einen Namen gehabt haben, und er wird in allerlei behördlichen Registern aufbewahrt sein. Doch hat niemand ihm nachgeforscht, weder zu ihren Lebzeiten noch späterhin; denn da sie nicht zu den eingesessenen Familien gehörte, so hätte sich bei ihrem Namen, mochte der nun Schmidt. Pawlowski, Iwanow oder wie Immer lauten, doch niemand etwas denken können; und sie war ja in der ganzen Stadt unter einem Übernamen bekannt, der seinen Sinn hatte; wohingegen Schmidt, Pawlowski oder Iwanow als sinnlose Zufallsbezeichnungen hätten erscheinen müssen. Sie hieß in Reval die gelbe Totenvorreitersche“.

Die gelbe Totenvorreitersche ist jung gewesen und verheiratet. Ihr Mann war ein armer Oberleutnant von der Linieninfanterie und ist im Kaukasus verschollen; andere sagen, in einem der türkischen Feldzüge. Die gelbe Totenvorreitersche weiß es wohl nicht mehr, es liegt ja schon so weit zurück, und als damals die Nachricht kam, da ist in ihrem Kopf eine gewisse Verschiebung vor sich gegangen. Nicht daß sie ähnlich getan hätte wie die Kapitänswitwe Johannson, welche jeden Abend ihres ertrunkenen Mannes Bett abdeckte und seine Pantoffeln bereitstellte; nein, das hatte sie schon aufgenommen, daß der Oberleutnant tot war und sie nie wieder an seinem Arm nach Katharinental promenieren werde; allein, es ist ja das Schicksal vieler Frauen, daß ihre Männer vor ihnen sterben, und in den Jahren findet man sich damit ab. Es mag auch sein, daß die beiden nicht sehr glücklich miteinander gelebt haben oder daß der Oberleutnant ein wenig angenehmer Mensch gewesen ist; das weiß heute niemand mehr, und es ist ohne Belang.

Etwas anderes aber erhielt die Oberleutnantswitwe in gleichmäßig sich fortsetzender Bekümmernis. Es ist ihr nämlich der Gedanke gekommen und wichtig, ja zuletzt allein wichtig geworden, ihr Mann habe vielleicht kein rechtes Begräbnis gehabt, und es sei am Ende niemand nach Schicklichkeit mit seiner Leiche gegangen. Und da hat sich in ihr die Vorstellung befestigt, sie verrichte einen christlichen und ehelichen Dienst an seinem Andenken, wenn sie, so viel an ihr liege, dafür Sorge trage, daß ein jedes Leichenbegängnis eine Steigerung zu inniger Feierlichkeit erfahre. Ja, indem sie den Zeitenablauf gleichsam umkehrte, wollte es ihr scheinen, als könne, wenn sie selber bei fremden Begräbnissen ihre Teilnahme bezeige, ein Fremder zum Vergelt auf den Einfall kommen, der verlassenen und unbegleiteten Leiche ihres Gatten die christlichen Totenehren zu erweisen.

Zugleich aber hatte sie doch auch eine Vorstellung ihrer Wichtigkeit und Bedeutung, ja, einer gewissen militärischen Führerschaft. Hatte denn nicht bloß das geschehene Unglück sie verhindert, Majorin, Oberstin, Generalin zu werden? Darum kam ihr nicht in den Sinn, sich einfach einem Totengefolge anzuschließen, sondern sie hatte sich an seine Spitze zu stellen.

So ist es dahin gekommen, daß in Reval kein Leichenbegängnis ohne die Witwe stattfindet. Sie unterscheidet nicht zwischen Ständen, Glaubensbekenntnissen, Volkszugehörigkeiten und Friedhöfen: Deutschen, Esten, 'Schweden, Russen, Katholiken und Reformierten wendet sich gleichermaßen die wunderliche Tätigkeit zu, mit welcher sie auf ihre Art teilnimmt am „Begraben der Toten“, das ja von der kirchlichen Lehre als letztes und abschließendes unter den sieben leiblichen Werken der Barmherzigkeit genannt und gefordert wird.

Kein Wetter, keine Jahreszeit konnte sie hindern. Formierte sich vor dem Sterbehaus oder der Kirche der Trauerzug, so war sie plötzlich zur Stelle. Oft wollte es rätselhaft erscheinen, wie sie es fertigbrachte, sich durch dichte Menschenstauungen hindurchzuzwängen. Bei feierlichen Staatsbegräbnissen geschah es wohl, daß die Polizei Absperrungen vornahm; allein auch diese wußte sie zu durchbrechen. Plötzlich leuchtete aus allem Schwarz ihr langer, zitronengelber Spenzer vor. An eine besondere Bedeutung dieser auffallenden Farbenwahl muß wohl nicht gedacht werden; vielmehr dürfen wir annehmen, es habe sich ein solches Kleidungsstück von ausnehmend haltbarem Stoff in ihrem Eigentum befunden, und da ihre Einkünfte knapp waren, so trug sie es durch sehr viele Jahre. Als sie später einmal eine Neuanschaffung vornehmen mußte, da wäre ihr und allen Revalensern eine andere Farbe bereits unausdenkbar er-sdiienen.

Die Glocken läuten, der Zug setzt sich in Bewegung, die Führerin auch. Unter der schwarzen Haube quellen im Winde die zotteligen weißen Haare vor. Hochaufgerichtet zieht sie im Marschschritt vor Sarg, Trauerchor und Geistlichen, vor langen Wagenreihen und leidtragenden Fußgängern, vor Schulen und allerlei Vereinen und Körperschaften, zu denen der Verstorbene gehört hat. Alle, alle folgen sie ihr. Und unermüdet führt sie den ihr anvertrauten Zug den langen, langen Weg zum Friedhof von Ziegelskoppel, zum Moikschen Kirchhof auf dem Laksberge oder zu den Begräbnisstätten der Dörptschen Vorstadt, und wie marschierende Soldaten es tun, so wirft die starkknochige Person ihre Arme taktmäßig nach links und nach rechts. Nie verringert, nie vergrößert sich der Abstand zwischen ihr und der eigentlichen Spitze des Leichenzuges, obwohl sie sich nie nach ihm umsieht. Geschieht einmal eine Stockung, etwa durch anjagende Feuerwehr, eine marschierende Truppe oder eine Wagenreihe, die unvermutet aus einer Querstraße kommt, so teilt sich ihr die Störung des Marschrhythmus mit, und sie tritt soldatisch auf der Stelle, bis das Erschwernis behoben und der regelmäßige Weitergang hergestellt ist. Am Friedhofseingang angekommen, verläßt sie ihren Platz an der Tete, tritt zur Seite und läßt nun generalsmäßig den Trauerzug an sich vorbeidefilieren. Hierauf macht sie kehrt und geht nach Hause, wohl ahnend, daß man ihr bei der Feierlichkeit selbst den vordersten Platz nicht einräumen würde und nicht gewillt, mit einem geringen und entfernten vorliebzunehmen.

Jeder kennt sie, niemand hindert sie. Ein frisch nach Reval versetzter Gendarmerieoffizier sah sie mit ärgerlicher Verwunderung, rief: „Was für ein Unfug!“ und wollte einschreiten. Aber da wurde er augenblicks von einigen Respektspersonen beiseitegenommen und mit wenigem Zureden belehrt und besänftigt.

Die Straßenjungen rufen ihr nach: „Gelbe Totenvorreitersche! Gelbe Totenvorreitersche!“ Das hört sie unbewegt oder hört es bereits nicht mehr, denn was macht es schon einem alten Menschen aus, von Gassenkindern bei seinem Namen gerufen zu werden? Im Laufe der Jahrzehnte ist es dahingekommen, daß die gelbe Totenvorreitersche wohl gar kein Wissen mehr davon hat, weshalb sie allen Beerdigungen vorangehen muß. Sie kennt es nicht anders, und gewissermaßen ist der einzige ihr bekannte Grund der, daß sie eben die gelbe Totenvorreitersche ist. Es ist, als überlebe sie ihr eigenes Dasein nur in jener Verrichtung, und. auch in diesem Betracht kann es recht erscheinen, daß ihr Name sich auslöschte, denn in der Tat, sie war die gelbe Totenvorreitersche, sonst nichts.

Es mag auch wohl sein, daß einzig Gewohnheit und Vorstellung der stets von neuem zu erfüllenden Pflicht den Körper der Greisin, dem doch die langen Märsche im Wind, Schnee und Regen zusetzen mußten, noch am Leben erhielten. Sie hatte keinen Stock, auf den sie sich hätte stützen, keinen Schirm, mit dem sie sich hätte trockenhalten können — denn sie bedurfte ja beider Arme zu den ihr vorgeschriebenen militärischen Schlenkerbewegungen. Ihr Gehör, ihr Gesiebt schwächten sich ab; Gedanken und Gliedmaßen wollten sich nicht mehr gänzlich zum Gehorsam bequemen. Was sie trotzdem zu ihrer Verrichtung noch fähig machte, das mag vornehmlich die ihr selber unbewußte Erinnerung ihres Lebens an ungezählte Vorgänge gewesen sein.

Die gelbe Totenvorreitersche hatte den Revalensern eine Bedeutung gewonnen, wie Mondwechsel und Jahreszeit und Obsternte und Ratsherren wählen und alle natürlichen Dinge, die sich zu ihrer Zeit und ihrem Anlaß ereignen und Zeugnis geben von der getreulichen Unveränderbarkeit der Weltordnung. Die alte Landrätin Mohrenfeld, eine Dame von eigenwüchsiger Skepsis, sagte einmal in ihrer offenen und ein wenig derben Art zu Pastor Sturm von der Olai-kirche: „Hand aufs Herz, Herr Pastor: was einem so nach der letzten Bouillon bevorsteht, davon weiß man im Grunde doch sehr wenig. Unbedingt sicher ist einem nur eins: die gelbe Totenvorreitersche.“

Manch einer fragte sich: „Wie soll es einmal mit ihrem eigenen Begräbnis werden?“ Und so sehr war man gewöhnt, ein Leichengefolge ohne ihre Mitwirkung als unvorstellbar anzusehen, daß fast, die Meinung aufzukommen vermochte, sie könne dem Gesetz des Sterbenmüssens nicht unterworfen sein — denn wie hätte ihre eigene Bestattung gedacht werden können, ohne daß sie selber dem Zuge vorangeschritten wäre?

Indessen sollte es sich erweisen, daß man ihrer Teilnahme an den Revaler Leichenzügen den Rang eines Naturgesetzes voreiligerweise zuerkannt hatte.

In einer der Vorstädte starb ein wohlhabender russischer Kaufmann, in dessen Familie dem Vernehmen nach allerlei dunkle Ehe- und Erbschaftszerwürfnisse zu Hause sein sollten. An einem düsteren und wolkigen Vormittag im Spätherbst bewegte sich, von der gelben Toten-vorreiterschen geführt, der Trauerzug zum Alexander-Newski-Friedhof. Unweit des Mühlenteiches ereignete sich etwas Aufregendes. Ein berittener Gendarmerieoffizier holte den Leichenkondukt ein, drängte sein Pferd an den Sarg, der nach russischer Sitte unverschlossen getragen wurde, und salutierte flüchtig vor dem Toten. Dann winkte er, die Träger blieben erschrocken stehen, der Offizier erklärte den Zug für aufgelöst, die Leiche für beschlagnahmt. Weitere Auskünfte verweigerte er; später erst erfuhr man, daß eine eingelaufene Anzeige den Verdacht eines Giftmordes wachgerufen hatte. Nach geschehener ärztlicher Untersuchung — das Ergebnis braucht uns hier nicht zu kümmern— wurde der Tote in nächtiger Heimlichkeit beigesetzt.

Die gelbe Totenvorreitersche hatte auf ihre Weise gespürt, daß dem Leichengefolge irgend ein Hemmnis widerfahren war. Sie machte halt, trat auf der Stelle und setzte sich nach ihrer üblichen Weile wieder in Bewegung. Am Friedholseingang trat sie, die Hacken zusammenschlagend, mit einer exerziermäßigen Wendung auf die Seite, um den Zug defilieren zu lassen.

Sie schaute, sie spähte: die Straße war leer. Ein paar schmutzige Kinder platschteil in den breiten und öden Regenpfützen und schrien lachend: „Gelbe Totenvorreitersche! Gelbe Totenvorreitersche!“

Am nächsten Morgen hatte die Greisin keine rechte Lust, ihr Bett zu verlassen; eine Beerdigung stand für diesen Tag nicht bevor. Stutzig gemacht durch die ungewohnte Stille, trat gegen Abend eine Nachbarsfrau bei ihr ein und fand sie in einem Zustand der äußersten Schwäche. Auf ihre Fragen erhielt sie knappe und verquere Antworten. Sie rückte der Alten die Kissen zurecht, brannte das Nachtlämpchen an und entfernte sich, um Suppe aufzuwärmen und der gelben Totenvorreiterschen davon zu bringen. Als sie mit dem dampfenden Suppentopf wiederkehrte, da saß die Alte sehr aufrecht in ihrem Bett, gegen die hochgeschichteten Kissen zurückgelehnt, und sah, vom flackernden Nachtlämpchen verzerrend beschienen, die Eintretende aus wejtgeöffneten Augen mit glasiger Strenge an. Die rechte Hand hatte sie salutierend an die Haube gelehnt, als nehme sie einen Parademarsch von Totengefolgen ab. Da die Nachbarin sie berührte, fiel der Arm kraftlos herab, er hatte sich in dieser Stellung nur behaupten können, weil er von den Kissen gestützt wurde. Die gelbe Totenvorreitersche war nicht mehr am Leben.

Einige Tage danach wurde sie zu Grabe getragen. Unaufgefordert, unverabredet strömten die Massen durch den Nebel zu ihrem Geleit, vom Dom und von der Unterstadt, von Fischermay und den Vorstädten, Menschen aller Lebensalter und Stände und Nationalitäten, Städter, Bauern, Hafenarbeiter und Fischer. An jeder Straßencke schwoll der Zug, und es war mancher dabei, dem es sonst nie in den Sinn gekommen wäre, sich unter eine Gassenmenge zu begeben. Alle, alle gingen sie mit, deren Toten die Alte in Jahren und Jahrzehnten ihre sonderbare Teilnahme bezeigt hatte.

Schattenhaft und dunkel erschienen sie einander in der früh einfallenden Dämmerung, die unter dem verhängten Himmel Häuser und Menschen in ein ungewohntes und ungewisses rauchiges Licht rückte. Unübersehbar schien die

Zahl, vertrauteste Menschen wurden sich zum Spuk, wer sollte einander erkennen? Ein scheues Raunen erhob sich, ein verwundertes Geflüster und Gefrage: „Wer ist denn das da? Mein Gott, wie ähnlich er dem toten Ritterschaftshauptmann siehtl Und dort, ist das nicht die Ratsherrin Korbmacher — Frau von Schaarmann — der Ältermann Kawel-kamp — Friseur Krausberg .— Doktor Barg — wahrhaftig, der Scheintotendoktor!“

„Gott steh mir bei, meine Großmutter!“ rief ein junges Mädchen.

Dicht hinter dem Sarg aber schritt ein blasser junger Mensch im langen dunklen Offiziersüberrock, mit Backenbart und vorgebürstetem Schläfenhaar, so wie es zu den Zeiten des Kaisers Nikolaus die Sitte der Armee gewesen war.

Eine Frau preßte ängstlich den Arm ihrer Nachbarin und sagte: „Dort vorne! Sehen Sie es denn nicht? Dort vorne!“

Dort vorne, vor der Spitze des Zuges her, dort bewegte sich etwas wie ein zitronengelber Sonnenstrahl, und es blieb schwer zu begreifen, wie er die Nebelschicht der niedriglastenden Wolken durchbrochen haben mochte. Am Friedhof seingang schien er zur Seite zu gleiten, und wenige Augenblicke später war er nicht mehr zu erblicken.

Nicht lange nach dem Hinscheiden der gelben Totenvorreiterschen begann manches sich zu ändern: Die baltische Eisenbahn wurde gebaut, die Herberge für Scheintote geschlossen. Neue Straßen entstanden. Der Herzog von Croy gelangte zu seiner Ruhe. Kaiser Alexander aber stieß die alte, die sechshundertjährige Ratsverfassung der Stadt Reval über den Haufen.

Für die Damaligen hatten diese Vorgänge ihr Gewicht. Uns, den Mitlebenden späterer Jahrzehnte, wollen sie als kleine vorläuferische Hindeutungen auf eine gänzliche Wende erscheinen. Und so mag auch die gelbe Totenvorreitersche uns anmuten als die Grabgeleiterin einer alten und eigenwüchsigen, einer im Äußeren engbegrenzten, aber unendlich geliebten Welt.

Aus dem Buch: „Der Tod in Reval“, mit Bewilligung des Verlages der „Arche“, Zürich.

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