Die Große Pest und ihre Folgen: „Die Macht der Seuche“ von Volker Reinhardt
Der in Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt rekonstruiert in seiner Studie „Die Macht der Seuche“ den Verlauf der spätmittelalterlichen Pestepidemie mit Ausblicken auf die Corona-Pandemie.
Der in Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt rekonstruiert in seiner Studie „Die Macht der Seuche“ den Verlauf der spätmittelalterlichen Pestepidemie mit Ausblicken auf die Corona-Pandemie.
Bis vor einem Jahr betrachtete man die Pest, die sich im 14. Jahrhundert in Europa rasant ausbreitete, als ein rein historisches Ereignis, das sich in der hochentwickelten Zivilisation des 21. Jahrhunderts nicht wiederholen könne. Die Corona-Pandemie hat diese Sichtweise radikal verändert. Die erschütternden Berichte über die Verwüstungen, die die Seuche bewirkte, erlangen angesichts der noch immer präsenten Corona-Pandemie eine bestürzende Aktualität, wie Volker Reinhardt betont.
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Er versteht seine instruktive Studie als umfassendes Projekt, die Ausbreitung und die Symptome der Pest zu beschreiben, den Umgang der Menschen mit dieser Katastrophe zu schildern und ihre verschiedenen Überlebensstrategien darzustellen.
Soziale und kulturelle Folgen
Um das Jahr 1347 kam der Schwarze Tod nach Mitteleuropa – vermutlich mit Schiffen, die im Hafen der sizilianischen Stadt Messina ankerten. Ganze Landstriche wurden innerhalb kurzer Zeit entvölkert. Betroffen waren vor allem die eng bewohnten Dörfer und Städte, in denen die hygienischen Zustände besonders schlecht waren. Die Pest übertraf alle bisher bekannten Leiden wie Hungersnöte oder Kriege; sie zerstörte das gesamte soziale und kulturelle Gefüge der Epoche, wie der arabische Gelehrte und Politiker Ibn Chaldūn berichtete: „Im Osten wie im Westen erfuhr die Zivilisation einen verheerenden Einbruch, nämlich den der Pest, die die Nationen ver wüstete und ganze Bevölkerungen vom Antlitz der Erde tilgte.“
Der Schwarze Tod wurde als ungeheure Katastrophe erlebt. „Weh mir, was soll ich sagen, was tun, wohin mich kehren?“, klagte der humanistische Dichter und Philosoph Francesco Petrarca in einem Brief. „Überall Schmerz, überall Schrecken! Und überall wilde Trauer und überall Angst und das vielfache Abbild des Todes.“
Besonders eindringlich schilderte Giovanni Boccaccio in dem Vorwort seiner Novellensammlung „Dekameron“ in einem Realismus, der kein Detail ausließ, die Symptome der Pest: „Geschwülste, die zum einen Teil in der Größe eines gewöhnlichen Apfels, zum Teil die eines Eies erreichten und vom Volk Pestbeulen genannt wurden. Von diesen genannten Stellen aus begannen die besagten todbringenden Beulen unterschiedslos überall am Körper zu entstehen und zum Vorschein zu kommen. Dann begann sich das Bild der besagten Krankheit in schwarze oder blauschwarze Flecke zu verändern.“ Boccaccio beschrieb auch die katastrophalen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben: „Diese Heimsuchung hatte in den Herzen der Männer einen solchen Schauder erregt, dass ein Bruder den anderen verließ oder die Schwester den Bruder und oft die Frau den Gatten. Was gewichtiger war und schier unglaublich ist, sogar die Väter und Mütter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehen und sie zu pflegen.“
Die Pest als Strafe Gottes
Der Schwarze Tod hinterließ bei zahlreichen Menschen ein Gefühl der Ohnmacht; man fühlte sich der „Fortuna“ – dem Schicksal – hilflos ausgeliefert. Das Entsetzen der Menschen jener Zeit über die unbekannte und zumeist tödlich verlaufende Erkrankung wurde noch dadurch verstärkt, dass es keine Heilmittel gab. Auch für Petrarca war die Ursache des Massensterbens im Wesentlichen ungeklärt: „Befrage die Historiker: Sie schweigen. Konsultiere die Ärzte: Sie erstarren. Forsche bei den Philosophen nach: Sie ziehen die Augenbrauen zusammen, runzeln die Stirn und gebieten Ruhe.“ Die zumeist tödlich verlaufende Krankheit wurde von Theologen als eine Strafe Gottes angesehen oder von Astrologen durch eine ungünstige Konstellation der Gestirne erklärt, die faulige Luftschwaden – die Miasmen – erzeugten, die die tödliche Infektion der Menschen auslösten.
Die Erkrankten reagierten auf unterschiedliche Weise auf die Katastrophe der Pest. Eine nihilistische Reaktion auf die Schrecken des Schwarzen Todes beschrieb Boccaccio ebenfalls im Vorwort des „Decameron“: „Sie behaupteten, die sicherste Arznei bei so einem Übel sei, reichlich zu trinken, sich gute Tage zu machen, mit Gesang und Scherz umherzuziehen, jeglicher Begierde, wo es nur möglich sei, Genüge zu tun und über das, was kommen werde, zu lachen und zu spotten.“ Dieses hemmungslose Ausleben hedonistischer Bedürfnisse, das durchaus mit der zeitgenössischen Sehnsucht, sich in Partys auszuleben, zu vergleichen ist, war nur eine Facette der Reaktionen auf die Pestepidemie. Eine andere Reaktion bestand in Bittgottesdiensten und Massenprozessionen, die zur Verbreitung der Pest beitrugen – ähnlich wie die Demonstrationen, die sich gegen die Einschränkungen der Lockdowns richten. Die kollektive Angst vor der Pest schlug auch in Gewalttätigkeit um, die sich hauptsächlich gegen Juden richtete, wie der Kartäuserprior Jean de Venette, der von 1307 bis 1370 lebte, berichtete: „Man machte die Juden für die verdorbene Luft und das verdorbene Wasser verantwortlich, ebenso für die vielen plötzlichen Todesfälle: Man beschuldigte sie, die Brunnen und Wasserläufe vergiftet und die Luft verpestet zu haben. Daraufhin entfesselte sich die Grausamkeit der Welt gegen sie so sehr, dass die Juden in Deutschland und anderswo von den Christen massakriert und zu Tausenden verbrannt wurden.“ Vor allem in deutschen Städten kam es zu Pogromen. Häufig beging die jüdische Bevölkerung Selbstmord, um der fanatischen, antisemitischen Hetzmeute zuvorzukommen.
Die weltlichen und geistlichen Herrscher der Städte reagierten hilflos auf das chaotische Geschehen, das die Pestepidemie auslöste. Vorerst versuchten die Behörden in verschiedenen spätmittelalterlichen Städten, das Ausmaß der Seuche zu relativieren, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen und die Wirtschaft in Gang zu halten. Die sich ausbreitende Anarchie, die moralische Verkommenheit und die zunehmende Gewalttätigkeit führten zu einem Zusammenbruch des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Ordnung.
Eine singuläre Ausnahme war Mailand. Dort gelang es Luchino Visconti, der als amoralischer, rücksichtsloser Despot die Stadt regierte, durch die militärische Abschottung und durch konsequente Quarantänemaßnahmen, die Pestepidemie fernzuhalten. „Das Wunder von Mailand“, wie es Reinhardt nennt, erfolgte durch eine rigorose Isolierung der an der Seuche Erkrankten, wie sie auch die Machthaber in China angesichts der Ausbreitung der Corona-Pandemie durchführten. Außerhalb der Stadtmauern Mailands wurde ein riesiges Lazarett errichtet, in das man die Pestkranken brachte und sie ihrem Schicksal überließ. Der Erfolg blieb nicht aus: Die Stadt wurde 1348 tatsächlich von der Pest verschont.
Optimistische Einschätzung
Die spätmittelalterliche Große Pest und die aktuelle Corona-Pandemie weisen viele Parallelen auf: Zahlreiche Menschen leiden unter Angstzuständen, Depressionen und Hoffnungslosigkeit; dazu kommt das ökonomische Desaster, das die Existenz vieler Menschen bedroht. Auf der Strecke bleiben die rationale Einschätzung und das vernunftgeleitete Handeln vieler Individuen. Das Fazit von Reinhardts Studie lautet: „Wenn die Jahre 1347 bis 1353 die Menschen des Jahres 2021 etwas lehren können, dann ist es Gelassenheit.“ Dass diese optimistische Einschätzung ein – bereits von stoischen Philosophen wie Marc Aurel propagiertes – Mittel ist, irrationalen Argumenten zu begegnen, ist kaum realistisch.
Die Macht der Seuche
Wie die Große Pest die Welt veränderte 1347–1353
Von Volker Reinhardt
C. H. Beck 2021
256 S., geb., € 24,70
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