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Die „hermetische Bibel”

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Unter den geheimnisvollen Persönlichkeiten ?der Weltgeschichte ist Herraesa .r’is megį-Mos die geheimnisvollste! seht Name selbst ist’Symbol für alles geworden, was der menschlichen Erkenntnis unerreichbar, verborgen und „hermetisch” verschlossen bleibt. Berühmt und unbekannt zugleich ist jener Oberpriester geblieben, der vor 2400 Jahren in Eleusis, dreißig Kilometer von Athen entfernt, gewirkt und gelehrt hat, und dessen philosophisches Werk, obwohl es uns bislang nur bruchstückweise und verstümmelt überliefert war, eine ganze, nachfolgende „hermetische” Literatur befruchtet hat. Ein Privatgelehrter, heute Beamter des vatikanischen Informationsdienstes, hat in dreißig Lebensjahren seine Mühe darauf verwandt, die verstreuten Bruchstücke zu sammeln, und sie uns erstmalig in der ursprünglichen Ordnung zugänglich zu machen. Carlo Croce hat den umfangreichen Band unter dem Titel „Hermes Trismegistos, die Vase der Weisheit” in einem römi-

schen Verlag herausgebracht; er stellt heute neben dėr Awesra der ältirani- schen - Zarathustra-Anhänger, ” neben- dem Tao-te-Ching des Lao-tse und dem Tripitaka der Buddhisten den vierten großen Text der vorchristlichen Religionen dar, die „Summa theolo- gica” des antiken Griechenland.

Hermes Trismegistos ist um 420 v. Chr. in Athen aus priester- lichem Geschlecht geboren, in dem sich die alte Tradition der Gottesdiener von Eleusis, Wallfahrts- und Kurort der attischen Griechen, fortgepflanzt hatte. Sein wahrer Name ist nicht bekannt, aber da er bei den Mysterienspielen den „dreimal größten Hermes” — Gott der Schrift, der Gelehrsamkeit und Weisheit wie der ägyptische Thot — darzustellen hatte, und die Aufnahme in den Priesterstand als „Hierokeryx”, als heiliger Prediger, den wirklichen Namen zu vergessen und einen Ordensnamen anzunehmen gebot, nannte er sich wie der Gott, dem er fortan sein Leben weihte.

Der Gang nach Eleusis

Von Athen führt die heute noch existierende Via sacra nach Eleusis, wohin sich die Männer begaben, um sich in geheimen Riten von Schuld und Sünde zu reinigen. Die Gestalt des Hierokeryx war bisher ganz legendenhaft, nun aber ist es Carlo Groce gelungen, in wahrhaft genialer Weise das Rätsel um ihn zu entschleiern. Hermes Trismegistos, dessen „erhabene Bücher” unter anderem auch die Grundlage für die wissenschaftliche Astrologie bildeten, hat darin die Position hunderter Fixsterne und der Planeten verzeichnet. Da die Gestirne bekanntlich keineswegs fix am Himmel stehen, sondern durch die Jahrhunderte von ihrem Platz leicht abweichen, konnte Croce mit fast mathematischer Genauigkeit den Zeitpunkt feststellen, auf den sich die Angaben des Hermes beziehen, nämlich auf das 4. Jahrhundert vor Christus. Nach einer den Studien und der Meditation gewidmeten Jugend hatte er die Vision eines höchsten Geistes, der ihm die okkulten Wahrheiten enthüllte — so berichtet er — und ihn beauftragte, sie zuerst seinem Sohn Tat (ein Name vorhellenischen Ursprungs) und dann wenigen anderen Schülern im Heiligtum von Eleusis, dem heute noch als Ruine vorhandenen Telesterion, zu vermitteln.

Hermes hat die sechzehn Grade der Priesterschaft durchlaufen, bis er als Hierokeryx die höchste Stufe erreichte und sie durch Jahrzehnte hindurch bekleidete. Über achzig Jahre alt, starb er um 33 5 v. Chr. Er hinterließ dem Heiligtum sein Lebenswerk, die Bücher, in denen er das theologische Wissen des Hellenentums zusammengefaßt und in ein System gebracht hatte. Sie blieben in Eleusis, als kostbarer Schatz gehütet, bis zum Jahr 3 81 nach Christus, als Kaiser Theodosius die Elėusischen Mysterien verbot. Von diesem Augenblick an beginnt die abenteuerliche Reise der Bücher. Wir erkennen auch heute noch nicht den genauen Weg, den sie genommen haben, aber wir wissen, daß sie auf mancherlei Umwegen nach Alexandria gelangten. Dort hat sie ein Gelehrter vor dem Zugriff und der Verfolgung der Kaiser zu retten versucht, indem er sie in ihre einzelnen Blätter zerlegte und diese ohne Zusammenhang in verschiedene andere Texte einfügte, mit denen sie nicht das mindeste zu tun hatten. Mit dem Brand der berühmten alexandrinischen Bibliothek gingen sie alle verloren, aber inzwischen waren Abschriften angefertigt WotjeriFjSb’ dpß sie fni0föiif xlep’z it von •ntiititet - Speziali st’etf”übersf fzt “tind veröffentlicht1 werden jtoittüefc1JeäbA war es bisher niemandem gelungen, das gesamte Werk in seiner vollständigen und richtigen Abfolge der Öffentlichkeit zu übergeben. Carlo Croce hat es zuwege gebracht, und den Schlüssel dazu lieferten ihm die in den Büchern auftretenden Personen.

Acht Personen und ein Thema

Denn Hermes Trismegistos hat die Bücher in Dialogform abgefaßt. Es treten sieben Personen, mit dem Autor acht auf, die heilige Zahl der Eleusi- schen Mysterien. Das Gesprächsthema ist ein einziges: der Schöpfer und die Schöpfung. Wie sich die Dialoge logisch entwickeln, vermochte sie Croce in die richtige Reihenfolge zu bringen. Das hermetische Problem ist somit gelöst, die Prophezeiung des Hermes Trismegistos, daß „die Schriften verborgen und unerreichbar sein werden für alle, die auf diesem Erdenplan wandeln”, hat keine Gültigkeit mehr.

Der Inhalt der „hermetischen Bibel”, wie die Bücher genannt worden waren, ist heute noch von großem Interesse. Auch der Verfasser geht von der Schaffung eines einzigen, ersten Menschen durch den „höchsten Geist” aus, doch stieg er auf die Erde herab, nachdem er die sieben Sphären (das heißt, die sieben Planeten) durchquert hatte: hier ist der Ausgangspunkt für die hermetische Astrologie, die später durch die Araber verderbt und aus Geldgier zur Scharlatanerie entwürdigt worden war. Hermes Trismegistos versicherte, daß er sogar den Todestag und die Todesstunde errechnen könne, doch fügt er, zu seinem Schüler Asklepios gewendet, hinzu: „Wisse jedoch, mein lieber Asklepios, daß den Menschen die Stunde ihres Todes verborgen bleiben soll.” Der Hierokeryx ist zu überraschenden Erkenntnissen gelangt: er wußte um die Kugelgestalt der Erde, kannte die Bewegung der Planeten um die im Mittelpunkt stehende Sonne und sah sogar die ringförmig geschlossene Gestalt des Universums voraus, die 24 Jahrhunderte später Einstein beweisen sollte. Der Einfluß der Gestirne auf die Eigenschaften der Menschen geht auf etwas zurück, das wir in der modernen Sprache als „Strahlung” bezeichnen.

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Josef Toch

Österreich als neutralistische Hoffnung

CHRUSCHTSCHOW UND DER WELTKOMMUNISMUS. Von Richard Löwenthal. W.-Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, 1963. 245 Seiten. Preis 9.80 DM.

Über die ideologische Auflösung des Weltkommunismus ist eine umfangreiche Literatur entstanden, die ständig weiter- wächst. Sie wird — was in sich schon charakteristisch für die Lage des Kommunismus ist — fast ausschließlich von Nicht- kommunisten geschrieben, insbesondere von solchen, die die Analytik mit jenen historisch-materialistischen, Mitteln zu betreiben gelernt haben, von denen siqh die Marxisten-Leninisten infolge der Entwicklung in den kommunistischen Parteien und Staaten ausgeschlossen sehen.

Zu den Autoren, die solches mit Erfolg tun, gehört auch Richard Löwenthal. 1908 in Berlin geboren, gehörte er der kommunistischen Bewegung in seiner lugend an, wurde in den späten zwanziger Jahren wegen „rechter” Abweichungen ausgeschlossen und wurde in den dreißiger Jahren unter dem Pseudonym Paul Sering Führer und Publizist einer unabhängigen sozialistischen Gruppierung „Neu-Begin- nen”. Seither hat er eine Reihe von Büchern und zahlreiche Artikel über die sozialistische und kommunistische Problematik veröffentlicht und ist Ordinarius für Außenpolitik an der Freien Universität Berlin.

Sein neues Buch verdiente eher den Titel „Chruschtschow, Maotsetung und Tito”, da es sich in der Hauptsache mit diesen Dreien und den von ihnen im Weltkommunismus vertretenen ideologischen und politischen Richtungen beschäftigt. Andere kommunistische Strömungen, Parteien und deren Führer — etwa Go- mulka, Togliatti, Kadar, Hodscha, erwähnt Löwenthal in seinem Buch nur im Zusammenhang mit den ersten dreien und den von ihnen repräsentierten Tendenzen.

Nichtsdestoweniger gibt Löwenthal eine umfassende Darstellung der gesamten politisch-ideologischen Entwicklung im Weltkommunismus seit dessen Entstehung während der. ersten Weltkrieges bis zur nun entstandenen Lage — die Studie ist mit dem Jahre 1961 abgeschlossen.

Löwenthal zeichnet vier Hauptetappen in der bisherigen Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung. Die erste umfaßt das Vorspiel, das lose Bündnis heterogener revolutionärer Gruppen, das sich aus der „Zimmerwalder Linken” während des ersten Weltkrieges entwickelte und unter russisch-bolschewistischer Führung 1919 seine äußere Form mit der Gründung der kommunistischen Internationale erhielt. Die zweite, zentralistische Etappe der vollen Herrschaft der Komintern begann ungefähr um 1920, also lange vor Stalins persönlichem Aufstieg zur Macht, und überdauerte die 1943 erfolgte formelle Auflösung der Komintern. Die dritte Etappe begann, als Chruschtschow 1954 anfing, seine neue Art von internationaler Führerrolle vorzubereiten; sie fand 1960 vollauf ihren Abschluß. Diese letzte Etappe stand im Zeichen versuchter Kompromisse zur Aufrechterhaltung der Einheit des Weltkommunismus, die jedoch, wie man heute weiß, nicht einmal äußerlich gelungen sind.

Löwenthal sieht den Anfang vom Zerfall des kommunistischen Zentralismus in den Jahren 1927/28, als die chinesischen Kommunisten nach dem Zusammenbruch des Bündnisses mit der Kuomintang sich von der proletarisch-revolutionären Politik abwandten und sich statt dessen als bäuerliche Partisanen- und Aufstandsbewegung etablierten. Sie gewannen damit nicht nur entscheidende Erfolge in den Kämpfen gegen die japanischen Invasoren und gegen die Kuomintang, sondern auch ihre politische Selbständigkeit gegenüber dem imperial-sowjetischen Apparat Stalins. Die hierbei von den Chinesen entwickelte politische und militärische Taktik wurde von den jugoslawischen Kommunisten im Kampf gegen die deutschen Invasoren und gegen die sowjetische Vormundschaft erfolgreich nachgeahmt. Andere kommunistische Parteien mußten sich in ihren Hoffnungen auf Erringung der Macht im eigenen Land auf die Abhängigkeit von der Roten Armee und der russischen

Außenpolitik stützen, indessen die jugoslawische Partei sehr bald ihre eigene Außenpolitik konzipierte.

Löwenthal zeigt in seinem Buch auch ein Österreich direkt betreffendes Nebenprodukt der jugoslawischen außenpolitischen Konzeption auf. Nach dem Abschluß des österreichischen Staatsvertrages setzte ein Teil der jugoslawischen Führer große Hoffnungen auf die Bildung eine neutralen Ländergürtels, dessen Hauptglieder Jugoslawien, Ungarn und Österreich werden sollten. Leider verweist Löwenthal hierbei in bezug auf Unterlagen nur auf Imre Nagys Veröffentlichung „On Communism: In Defence of the New Course”, London, 1957; in bezug auf jugoslawische Unterlagen beruft er sich nur auf persönliche Gespräche mit führenden jugoslawischen Kommunisten — insbesondere aus Kroatien und Slowenien. Ob und wie weit österreichische Politiker an der geistigen Ausarbeitung des Konzeptes teilgenommen haben, geht aus Löwenthals Darstellung leider nicht hervor.

Interessanterweise war es — außer den Russen — schließlich vor allem Tito, der sich, nach der Schilderung Löwenthals, gegen diese Konzeption wandte und zwar, weil er sich (zu Unrecht) eine stärkere Stellung in einer allslawisch-kommunistisch- „östlichen” Konzeption versprach und dafür sogar über Aufforderung Chruschtschows 1956 Gero gegen Nagy zu stützen versuchte.

Der hier gegebene Hinweis möge jedoch nicht anders als ein illustratives Detail aus Löwenthals Untersuchung verstanden sein, die sich vor allem mit der im Weltkommunismus eingetretenen neuen Lage und ihren Aspekten beschäftigt.

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Friedrich AbendrotU

Wie Marx zum Marxisten wurde

FRÜHE SCHRIFTEN. Von Karl Marx. I. Band. Herausgegeben von Hans Joachim Lieber und Peter Furth. — DAS KAPITAL. Kritik der politischen Ökonomie. Von Karl Marx. Herausgegeben von Hans Joachim Lieber und Benedikt K a u t s k y. 998 und 960 Seiten. Band 1 und Band 4 der Marx-Ausgabe des Cotta- Verlages, Stuttgart. Preis 36 DM.

„Cotta verlegt’s!” Mit diesem Losungswort teilten die klassischen deutschen Dichter einander das jeweils Lobenswerteste über ein im Erscheinen begriffenes Werk mit. Hier war aber auch zum ersten Mal in der deutschen Geistesgeschichte etwas von dem mitausgesprochen, was als das eigentliche „Geschäft” (und dies nicht nur im kommerziellen Sinn verstanden) des Verlegens, des Herausbringens anzusehen ist: die schöpferische Formung eines Textes bei größtmöglicher Treue dem geschriebenen Wort und der Intention des Autors gegenüber Seit einigen Jahren nun müht sich der Cotta-Verlag um eine Marx- Ausgabe, die für den halbwegs gebildeten Laien eben noch lesbar, für den Wissenschaftler jeder Disziplin aber bei der Arbeit und beim Zitieren zu verwenden ist. Wer jemals Marxsche Originalmanuskripte, etwa die heute im „Institut für Sozialgeschichte” zu Amsterdam vorliegenden, auch nur einige Stunden gelesen hat, wird verstehen, wie schwierig das ist. Schon allein das Entziffern der genialischen Handschrift ist eine Schwerarbeit. Dazu kommt bei allen Frühschriften, aber ISP fj}ff ,45g,,;|H Öyerken,’ Exkursen, Exzerpten, Entwürfen der eigentlich „marxistischen” Zeit die Tatsache, daß sich vieles nur sehr bedingt einordnen, in den philologischen Zusammenhang stellen und in der Zeitabfolge richtig bewerten läßt. Der Verlag betraute zwei Männer mit dieser Aufgabe; den inzwischen zu früh verstorbenen österreichischen Nationalökonomen Benedikt Kautsky und den in West-Berlin lehrenden Philosophen Hans Joachim Lieber, der nunmehr bei der Edition der philosophischen Frühschriften Peter Furth hinzugezogen hat. Von den geplanten sieben Bänden (acht Teilbände) liegen nun deren vier vor. (Zwei von ihnen wurden in der „Furche” bereits nach Erscheinen gewürdigt.) Die neuen Bände enthalten den ersten Band der „Frühen Schriften” und den ersten Band des „Kapitals”.

Zunächst zu diesem: Ein abschließendes Urteil über eine Edition des „Kapitals” kann man erst dann fällen, bis der zweite, das Finanzkapital behandelnde Band vor- liegen wird. Von ihm sagte Hilferding, daß ihn außer ihm selbst kaum jemand wirklich ganz gelesen haben dürfte. An der Behandlung eines solchen Manuskripts kann sich die Meisterschaft eines Herausgebers erweisen. Der erste Band enthält die gesamte Mehrwerttheorie sowie die Kapitel über die Akkumulation mit dem berühmten 6. Abschnitt des 24. Kapitels, der in nuce das revolutionäre Programm enthält. Diese Abschnitte muß jeder gelesen haben, der überhaupt den Marxismus beurteilen will, selbst wenn er kein Nationalökonom ist. Denn hier vollzieht sich die Verschränkung von Theorie und Praxis, die das Wesen dessen ausmacht, was man gemeinhin „Marxismus” nennt. Auch die Vorworte von Friedrich Engels zur dritten und vierten Auflage sind in diesen Band aufgenommen. An ihnen kann man, ausgehend von den Jahreszahlen 1883 und 1890, deutlicher als in langen historischen Abhandlungen die entscheidende W’andlung der Marx-Interpretation ablesen, die alles weitere erklärlich macht. Interessant und zeitgeschichtlich überaus bedeutsam die Vorrede Karl Kautskys zur 1914 erschienenen Volksausgabe des „Kapitals”, ln ihrer Art eines der klassischen Dokumente des Austromarxismus, genauer gesagt, der spezifischen Wiener „Orthodoxie”.

Eine ganz ausgezeichnete Leistung der Herausgeber stellt die Auswahl der Frühschriften dar. Lieber bekennt sich bei der Darlegung seiner Prinzipien zu einer „leitmotivischen” Methode. Er hebt die Grundzüge des Marxschen Denkens, die eigentliche Intention, von allem rein Zeitbedingten ab. Seit der Landshut-Ausgabe der frühen dreißiger Jahre, seit den Arbeiten von Dircks und Merleau-Ponty nach dem zweiten Weltkrieg, ist die Tendenz, den „jungen Marx” vom „späten Marx” abzugrenzen, ja sogar beide gegeneinander auszuspielen, fast schon zur Mode geworden. Lieber gehört zu den ganz wenigen Philosophen, die als erklärte Nichtmarxisten imstande sind, das Gedankensystem aus sich selbst heraus zu interpretieren (und ihm nicht dabei zu erliegen). Daher ist für ihn der organische Zusammenhang „beider” Marx keinen Augenblick zweifelhaft. Die zuweilen überaus dramatisierte Kehre des Jahres 1842, da der junge, linkshegelianische Philosophiedozent Politik und Ökonomie entdeckte und zum „Marxisten” wurde, wird bei der Lieber- schen Auswahl nicht als Augenblicksereignis dargestellt, sondern in einen Werdegang hineingestellt, der in sieh logisch geschlossen war. Man lese nur den (wohl noch nie veröffentlichten) Abituraufsatz, zusammen mit der hellsichtigen Beurteilung des Deutschlehrers, den Brief an den Vater von 1837, und man wird mit der Erfindung von „Bekehrungen” in Marxens Leben vorsichtiger sein. Der Kenner vermißt in diesem philosophischen Auswahlband kaum etwas: im Gegenteil, er entdeckt Neues, wie etwa einen Aufsatz (1842) Uber „Luther als Schiedsrichter zwischen Straus9 und Feuerbach”, den zur gleichen Zeit — mit umgekehrten Vorzeichen — Kierkegaard geschrieben haben könnte. Aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern” ist mit Recht der Aufsatz „Zur Judenfrage” aufgenommen, selbstverständlich auch der Schlüsseltext zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Die Auswahl der Aufsätze aus der „Rheinischen Zeitung” ist treffend, besonders wegen der für die Entwicklung des Marxschen Eigentumsbegriffs entscheidenden Debatten über das Holzdiebstahlgesetz. (Das Abschiedsgedicht beim Verbot des Blattes, das in solch hochwissenschaftlicher Umwelt vielleicht nicht ganz bestehen kann, vermißten wir dennoch.)

Wenn diese Marx-Ausgabe abgeschlossen sein wird, kann man in ihr wohl die beste, zur Zeit greifbare Gesamtedition eines Werkes sehen, dessen Eigenart darin besteht, daß man es nicht nach Art eines systematischen Lehrbuchs erfassen kann. Es ist auch nicht möglich, hier zeitlose Hauptwerke von zeitbedingten Nebenwerken säuberlich zu trennen. Der Marxismus ist ein Phänomen lebendiger Entwicklung, er hat den feurig-flüssigen Aggregatzustand eigentlich nie verlassen. Daher kann ihn auch nur der verstehen, der diese Bewegung geistig mitzuvollziehen vermag. Der Redaktor dieser Ausgabe, Hans-Joachim Lieber, ist ihm bei diesem nicht eben einfachen oder in kurzem Schnellsiedekurs zu absolvierenden Geschäft ein vortrefflicher Mentor.

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Anton Burghardt

Politische Soziologie

FÜHRUNG IN DER MODERNEN WELT.

Von Arnold Bergstraesser. Verlag Rombach, Freiburg i. Br. 56 Seiten. Preis 5.80 DM.

Die Führung entstammt der Natur der Gruppe und erst der Gesellschaft. „Kein gesellschaftlicher Verband ist daseinsfähig ohne Führung” (Seite 29). Jede Führung ist jedoch auf ein Ordnungssystem bezogen („Führungssystem”). Mit dem Ablauf der anerkannt und wirksamen Gültigkeit vom Ordnungssystem vollzieht 6ich auch die Liquidation der jeweiligen Führungsgeschichte und der Art ihrer Rekrutierung. So kommt es zu einem Kreislauf der Führung, der Eliten. Die Voraussetzung für einen Führungsanspruch ist das gesellschaftliche Gewicht jener, die ihn erheben. Dementsprechend sind die Eliten einmal dem Bereich des Ökonomischen, ein anderes Mal dem Nur-Politischen entwachsen. Entweder sind sie „Clerici” im weitesten Sinn des Wortes („Intellektuelle”) oder sie entstammen dem Wirkungs- und Denkungs- bereich von Produzenten, wenn sie nicht das Ökonomische (die „Praxis”) mit der Idee identifizieren wollen, also Politökono- men sind oder versuchen, es zu sein.

Im vorliegenden Buch, das den Präsidenten der deutschen UNESCO-Kommission, eine internationale Autorität auf dem Gebiet der Politischen Wissenschaften, zum Autoren hat, wird eine umfassende Kulturkritik versucht, unter Einsatz des Instrumentariums der Wissenschaftlichen Politik. Im Rückblick wird der Wandel der Gesellschaftsordnungen dargestellt und die gegenwärtige Ordnung im Vergleich klassifiziert. Die Funktion, welche heute den führenden Kräften in der Gesellschaft übertragen ist, wird bestimmt durch den von allen Seiten unternommenen Versuch, die Individualität in die Daseinsziele der Gesellschaft einzuschmelzen (Seite 35) und ist gekennzeichnet dadurch, daß die allgemein sichtbare Zuordnung von Amt, Funktion und Einzelpersönlichkeit fehlt.

Trotz seiner Kürze ist das Buch ein Meisterwerk der politischen Soziologie, eine Aufforderung, eine „soziologische Politik” (Seite 23) zu aktivieren, eine Politik, in deren Vollzug auf die soziologischen Erkenntnisse Bedacht genommen wird.

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Fritz Schwarz

Kabinettstücke

SCHICKSAL IM SCHATTEN. Von Ger; hard pirn’s on. BecnscKe Verlägsbueh- handlung München-Berlin. 130 Seiten, vier Abbildungen. Preis 7.80 DM.

Würde ein Quizmaster nach den Söhnen Napoleons fragen, so erhielte er sicher zur Antwort, er habe überhaupt nur einen gehabt, nämlich den Herzog von Reichstadt, der in Schönbrunn gestorben ist und dessen Mutter Marie Louise war. Napoleon hatte aber noch zwei Söhne, die, von adeligen Müttern stammend, über ihre Herkunft wußten und eine sorgfältige Erziehung genossen. Der eine ist Alexander Graf Walewski, der Sohn der polnischen Gräfin Marie Walewska, der andere Charles Graf Leon, welcher der Verbindung zu Eleonore Denuelle de la Plaigne entstammte. Walewski wurde Außenminister unter Napoleon III., Leon ein Hochstapler, der im Elend endete. Simson hat auch das Leben von Napoleons einziger Tochter aufgezeichnet, der 18ll geborenen Emilie de Pellapra, die später Prinzessin Emilie de Caraman- Chimay wurde. Ihr Leben verlief ohne bemerkenswerte äußere Ereignisse, doch betrachtete sie ihre Herkunft als kostbares Geheimnis, das erst ihre Enkel lüfteten.

Im letzten Teil des Büchleins zieht an uns das lange Leben Ulrike von Levetzows vorbei, dessen Höhepunkt bekanntlich die Marienbader Spaziergänge mit dem greisen Goethe waren und ihn in eine schwere Krise stürzten, weil er unsterblich verliebt gewesen war, aber nicht auf Erwiderung hoffen durfte. Ulrike starb 76 Jahre später, an der Schwelle zu unserem Jahrhundert. Simson schuf hier biographische Kabinettstücke.

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Wolfdietrich Schmied

Der gemeinsame Ausgangspunkt

DER KAMPF UM DIE METAPHYSIK. Von der Einheit aller Wissenschaften. Von Johann F i s c h I. Verlag Styria. 43 Seiten. Preis 12.50 S.

In einem nun gedruckt vorliegenden Vortrag betont Johann Fischl (Universität Graz) wie wichtig gerade in unserer Zeit die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft geworden ist. Mit einem Zitat von Karl Marx: „Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben ohne sie zu verwirklichen”, richtet sich Fischl nicht nur gegen jene wissenschaftlichen Kreise, die noch immer glauben, ohne eine die Voraussetzungen klärende Philosophie auszukommen, sondern möchte auch auf die Gefahr aufmerksam machen, die dem Westen aus diesen „positivistischen Dahindämmern” entstehen könnte. Eine Wissenschaft, die allen philosophischen Problemen dadurch zu entgehen versucht, indem sie sie wegleugnet, kann zwar weiterhin eine Reihe von Tatsachen neu erforschen, als Wissenschaft wird sie aber auf die Dauer versagen. Es geht also darum, von beiden Seiten her die Vereinigung zu suchen, um somit auch einen gemeinsamen Ausganspunkt gegenüber dem dialektischen Materialismus zu finden. Wir haben in unserer eigenen Geschichte großartige Beispiele einer solchen Verschmelzung von Philosophie und Wissenschaft in einzelnen Männern: Leibniz, die Brüder Humboldt, Max Planck, Galilei, Leonardo da Vinci, Jakob Burckhardt und andere. Heute ist zwar eine solche Personalunion kaum mehr möglich, allein wegen der ungeheuren Ausweitung der Wissensgebiete aber eine Zusammenarbeit wäre anzustreben.

Ähnlich wie auch Philosophie und Kims oftmals ausgleichend ineinander wirken.

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