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Die hohen Schulen des Volkes

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Die dänischen Volkshochschulen sind ihrer Herkunft, ihrem Wesen und Wirken nach so sehr verschieden von den in Österreich bekannten Einrichtungen, daß eine nähere Bekanntschaft mit ihnen gerade in der gegenwärtigen Situation für Österreich fruchtbar werden kann. Man ist ja eben in Österreich bemüht, die Volksbildung auf neue Grundlagen zu stellen. — Will man ein richtiges Bild von der dänischen Volkshochschulbewegung entwerfen, so ist es zugleich notwendig, den Ursprung und die Geschichte dieser Bewegung aufzuzeigen; denn das, was die dänischen Volkshochschulen heute sind und für das dänische Volk leisten, entstand nicht mit einem Male, war nicht Geburt eines glücklichen Augenblicks, sondern hat — wie alles was dauernd wirken soll — eine lange und mühsame Geschichte hinter sich.

Mit dem Namen der dänischen Volkvhoch-schule innig und für immer verbunden ist die Gestalt des großen Volkserziehers, des Theologen und Dichters N. S. F. Gründl-vig (1783 bis 1872), der wie kein zweiter Großer seines Landes — Kierkegaard vielleicht ausgenommen — das innere Schicksal seines Volkes geformt hat. Die ganze Gestalt dieser mächtigen, prophetischen Persönlichkeit ins Licht zu stellen, würde freilich den Rahmen dieses Berichtes sprengen. Es sollen also nur die Grundzüge seines Schulgedankens (und diese wiederum nur skizzenhaft) angedeutet werden, um das Bewegende der späteren Volkshochschulen immer klar vor Augen zu haben. — Die Zeit, in der Grundtvig, der typische Spätreife, herangewachsen war, war reich an geistigen Strömungen und Ideen. Aufklärung — das Erbe Holbergs, und Romantik — durch die Vermittlung Henrik Steffens, sind die beiden Pole, zwischen denen sich das geistige Leben Grundtvigs bewegt. Fast nicht geformt wurde er von der Klassik, von der Griechenland- und Rombegeisterung des damaligen Deutschland Goethes, eine Tatsache, die später noch vermerkt werden soll. Grundtvigs Schulgedanke wäre ferner ohne Rousseau, Basedow, Salzmann und Pestalozzi undenkbar. Zu diesen indirekten, literarischen Einflüssen kamen aber persönliche Eindrücke, die Grundtvig vor allem auf Reisen gewann. So dürften seine Englandreisen — insgesamt drei Reisen in den Jahren 1829 bis 1831 — für sein Schulkonzept von größter Bedeutung gewesen sein. Veranlaßt waren diese Reisen durch Grundtvigs historische Studien. Um Texte einzusehen kam Grundtvig auch nach Oxford, wo er — es sei hier besonders vermerkt — die Bekanntschaft des jungen John Henry Newman machte. Wie weit und tief diese Begegnung dieser beiden religiösen Genies für den einen wie für den anderen wirksam wurde, läßt sich heute freilich kaum mehr feststellen. Feststeht aber die starke Beeindruckung Grundtvigs durch das studentische Leben in der alten Universitätsstadt. Das ausgeprägte Gemeinschaftsleben der Oxforder Studenten, ihr Ideal der freien Bildung, die Verbundenheit von Adel und Bürgertum, der ununterbrochene Zusammenhang mit der Kultur des Mittelalters gepaart mit einem neuen Freiheitswillen, der auch im Studienbetrieb waltete — das alles war für Grundtvig neu und unerhört. Damals mochte Grundtvig den Plan gefaßt haben, in seiner Heimat eine ähnliche Schule — aber für das ganze Volk, nicht nur für Privilegierte — zu begründen. Für das ganze Volk! Denn fast gleichzeitig hatte Grundtvig die Wirklichkeit des Volkes entdeckt. Er war hier nicht der erste; schon fünfzig Jahre Zuvor hatte in Dänemark eine mächtige Bauernbefreiung eingesetzt. Steen Steensen Blicher — der Dichter Jütlands — hatte im Volk die Nation zum ersten Mal gesehen. Grundtvig, hier ganz Romantiker, entdeckte aber das Volkstum, die kulturelle Einheit des dänischen Volkes. Alle diese Einflüsse und Entdeckungen verwandelte Grundtvig mit der Kraft seiner Geistigkeit zu einer einzigen Idee, von der sein Schulgedanke nur ein kleiner Teil ist.

Wir haben es aber hier mit Grundtvigs' Schulgedanken zu tun. Dieser enthielt vor allem einmal die leidenschaftliche Absage gegen die alte Schule. In ihr sah er nämlich eine Stätte, wo der menschliche Geist verbildet wurde — der Volksgeist aber nie und nimmer seine Auferstehung erleben konnte. Sollte der Geist des Volkes wieder erweckt werden, so mußte man vorerst einmal die Schule verlebendigen. Denn der Geist des Volkes ist selbst Leben und kann nur durch das Leben angesprochen werden. Medium der Erziehung wie Erweckung ist für Grundtvig das Wort, die freie Rede, die Erzählung — und nicht das Buch, schon gar nicht die lateinischen und griechischen Fibeln. Die Schule muß den jungen Menschen mit der Wirklichkeit des Lebens, das in erster Linie immer Leben seines Volkes ist, vertraut machen, sie muß ihm aber zugleich auch die seelischen Kräfte entwickeln, damit er dieser Wirklichkeit standhalten und sie so zugleich auch formen könne. Wie schon gesagt, war Grundtvig alles andere als ein Humanist; ja er stand Zeit seines Lebens den alten, den „toten“ Sprachen feindlich gegenüber; sah er in diesen doch die Rivalen der alten nordischen Sprachen, die ihm ebenso wert dünkten, der Jugend seiner Heimat gelehrt zu werden. In der ausschließlichen Pflege der Alten sah er eine sträfliche Vernachlässigung der eigenen, wie er meinte: reicheren und für Dänemark bedeutsameren Geschichte. — Wir können als Mitteleuropäer und Erben Roms, die wir nun einmal sind, diesen Standpunkt kaum verstehen — noch weniger loben. Aber vielleicht wird uns diese Haltung einleuchtender, wenn wir sie durch die Brille der Romantik sehen und uns zugleich bewußt machen, daß Rom auf Dänemark nie auch nur kurze Zeit gewirkt hat; zudem war der Lateinunterricht, wie er zur Zeit Grundtvigs geübt wurde, ein später und ziemlich blasser Aufguß der späten Renaissance in Dänemark, der sich nicht einmal der Lateiner Holberg eingefügt hatte. Wie dem auch sei — Grundtvig wollte von dieser Art des Unterrichtes los, er wollte vor allem neue Unterrichtsmethoden. In allem aber glaubte er die Stimme des Volkes zu sein, so wenn er sagte, „daß das Volk nach lebendigen Schulmeistern drängt, weil es nicht mit Büchern — sondern mit lebendigen Menschen zu tun haben will.“

So war für Grundtvig allmählich der Plan reif geworden, eine Schule zu begründen, die das ganze Volk erfassen sollte — die jungen Männer und Frauen, dann die übrigen Erwachsenen. Die alte (staatliche) Ritterakademie in Sorö — 1585 von Frederik II. gegründet — hätte dann den äußeren Rahmen bilden sollen. Grundtvig gewann auch den aufgeschlossenen König Christian VIII. für seine Ideen, und es wäre alles gut gegangen, wenn der König nicht zu früh gestorben wäre. Christian VIII. Nachfolger, der nüchterne Frederik VII., sah in Grundtvigs Schulplänen eitle Phantastereien. Das Ministerium, das Grundtvig hätte unterstützen können, war zu schwerfällig und — uninteressiert. Das Volk jedoch war mündig geworden. Grundtvig hatte in den Jahren 1838 und 1848 zu den breiten Schichten des Volkes gesprochen. Die Zeit war reif — ganz Dänemark wußte, daß der Süden Jütlands in Gefahr war. Um ein geistiges Bollwerk gegen das andringende Deutschland zu haben, wurde 1844 in Rödding (Südjütland) die erste dänische Volkshochschule eröffnet. Grundtvig war nur mittelbar der Gründer. Als Mann des Wortes war er groß — Schulmann aber war er nicht. Aber seine Anhänger waren umso tüchtiger, was die Gestaltung der Wirklichkeit betraf. Der Funke hatte gezündet. Und wenn auch dieser erste Versuch bald ins Stocken geriet, das Land war bereit, die neuen Ideen aufzunehmen. Wenn Dänemark heute stolz darauf hinweisen kann, daß sein Volk die Idee der englischen Universität (den Collegebetrieb), die Erziehungsideale Pestalozzis, die pädagogischen Pläne der französischen Revolutionäre und der deutschen Romantiker in einzigartiger Weise verwirklicht hat, und zwar aus eigenen Mitteln, ein halbes Jahrhundert lang ohne Beihilfe des Staates und ohne Unterstützung durch die Staatskirche, wenn es stolz zugleich hinweisen kann auf die Tatsache, daß das ganze Volk Schüler dieser hohen Schulen war, dann gedenkt es zugleich der Freunde und Lehrlinge Grundtvigs, die da heißen: Christian Kold, Ludvig Schröder, Heinrich Nutzhorn, Ernst Trier, Jens Nörregaard, Christoffer Baagö, Holger Begtrup, Thomas Bredsdorf — und wie sie sonst heißen mögen die Pioniere der Volksbildung. Das Werk der dänischen Volkshochschulen war also nicht allein der Sieg Grundtvigs — es war ein Sieg des demokratischen Gedankens, Sieg des dänischen Volkes. Grundtvig hatte den Entwurf geliefert, er hatte die Prinzipien der Volksbildung verkündet, die da waren: Erziehung durch das lebendig Wort, Bildung des ganzen Menschen (nicht nur einer intellektuellen Fähigkeit), Weiterbildung der Nichtmehr-Schulpflichtigen, Gemeinschaftserziehung, Weckung des nationalen Gedankens, Vertiefung des historischen Wissens, Pflege des Volksliedes und der Muttersprache, lebendige Verkündigung der Heiligen Schrift.

Christian Kold aber war der große Praktiker. Er war 1816 in Thisted (Jütland) geboren worden; wegen seiner Zugehörigkeit zur Grundtvigbewegung machte er sich als junger Lehrer bei den Schulbehörden unbeliebt, die ihn, als er die Bauernkinder nach eigener Methode erziehen wollte, aus dem Schuldienst entließen. Kold schloß sich einem Missionär an, zog mit diesem nach Kleinasien, war fünf Jahre lang in Smyrna Buchbinder und kehrte dann wieder in seine Heimat zurück. Er war kaum daheim angelangt, als der Krieg gegen Deutschland ausbrach. Das war 1848. Er rückte als Freiwilliger ein. Und da seine Kameraden ihn gerne erzählen hörten, dachte er abermals daran, eine Schule aufzumachen, wo das gesprochene Wort alles, das Buch fast nichts bedeuten sollte. Er wollte die Begeisterung, die 1848 das ganze Volk ergriffen hatte, im täglichen Leben wirksam machen. Mit Hilfe Grundtvigs und einiger Freunde begründete er im Jahre 1851 eine kleine Hochschule in Ryslinge; er übersiedelte einige Male, um sich schließlich ganz in Dalum (bei Odensee-Fünen) niederzulassen. Bald hatte er über hundert Hörer. Hier gab er auch der Volkshochschule jene Gestalt, wie sie später für ganz Dänemark vorbildlich wurde. Im Jahre 1863 hielt er das erste Mal einen drei Monate langen Sommerkurs für Mädchen ab. Im darauffolgenden Winter schulte er fünf Monate lang die Burschen. Fortab war das die feste Regel: Sommerkurse für Mädchen — Winterkurse für Burschen. Auch wurden feste Lebensformen gefunden. Die Kluft zwischen Lehrer und Schüler wurde überbrückt. Von nun an lebten nämlich Lehrer und Schüler unter einem Dach und nahmen auch die Mahlzeiten gemeinsam ein. Als Kold im Jahre 1870 starb, war die neue Schule zur mächtigen Bewegung im ganzen Lande — auf allen Inseln geworden. Sechs Jahre zuvor war Dänemark durch die gewaltigen Erschütterungen des verlorenen Krieges gegangen. Schleswig war an Deutschland verloren, nicht aber der Mut des Volkes, das nun alle seine materiellen und geistigen Kräfte sammelte, um „nach innen zu gewinnen, was nach außen verloren ward.“ So erwies sich der Krieg als geistige Wiedergeburt des Volkes. In allen Provinzen entstanden nun Volkshochschulen, von denen heute allerdings nur mehr wenige erhalten sind. Unter den jungen Männern, die sich in den Krisenjahren zusammenschlössen, waren fünf Studenten, welche die neuere Entwicklung der Volkshochschulen mächtig förderten. Sie alle waren durch die Erweckungsbewegung Grundtvigs gegangen, die ihnen in der Krisenzeit ihres Vaterlandes für das ganze Volk verpflichtend erschien. So begründeten L. Schröder (1836 bis 1908) und H. Nutzhorn (1833 bis 1925) im Jahre 1865 die noch heute bestehende Hochschule von Askov. Ernst Trier (1837 bis 1893) — der Sohn eines jüdischen Kaufmannes — gründete eine Hochschule in Vallekilde (Nordseeland). J. Nörregaard (1838—1913) und Chr. Baagö schufen in Testrup (bei Aarhus) eine hohe Schule für das Volk. Alle aber planten nach den Entwürfen Grundtvigs und arbeiteten nach den praktischen Erfahrungen Kolds. Das beginnende 20. Jahrhundert vermochte der einmal bestehenden Institution nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen. Die Form war ein für allemal gefunden und hatte sich bereits ein Menschenalter lang bewährt. Neu hinzu kamen nur die erweiterten Interessengebiete der neuen Zeit. So die Literaturwissenschaft, die Gesellschaftswissenschaft, technische und naturwissenschaftliche Studien, Sport und Gymnastik. Besonders vertieft wurde das Studium der Landwirtschaft, die ja für das Agrarland Dänemark von so ausschlaggebender Bedeutung ist. Auch wurden neue Volkshochschulen eröffnet, die bestehenden aber ausgebaut. Waren die Volkshochschulen bislang Eigentum der Grundtvigianer gewesen — so standen nunmehr auch andere geistige und politische Richtungen nicht weiter mehr zurück. Es kam zu Gründungen durch die Leute der „Inneren Mission“. Im Vordergrund dieser Hochschulen steht freilich die christliche Erweck u n g. Hatten ferner die Grundtvig-schen Hochschulen draußen auf dem Lande ihren Schwerpunkt, so verlegte die junge Arbeiterbewegung den Schwerpunkt ihrer Erziehungsstätten in die Stadt. Durch die sozialdemokratische Partei bekam Kopenhagen zwei Volkshochschulen, während die „Innere Mission“ zehn Hochschulen unterhält. Insgesamt aber existieren im kleinen Dänemark heute 54 Volkshochschulen, die in den letzten 35 Jahren j ä h r 1 i c h von 5000 b i s 8000 Männern und Frauen, Burschen und Mädchen besucht wurden. Diese Schülerzahl war freilich nur möglich, weil seit zwei Jahrzehnten alle Volkshochschulen große Zuwendungen vom Staate erhalten, die Jahr für Jahr erhöht werden.

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