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Die irdische „Milchstraße“

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Fauchend und zischend schwingt der „Butofumeiro“, das fast mannshohe silberne Weihrauchfaß, durch die Weite des mächtigen Kirchenschiffes. In einem Meer von Licht schwebt die Siegesfahne von Lepanto, schimmern die scharlachroten Ornate der Kirchenfürsten. Glocken läuten, Orgelmusik rauscht auf, inbrünstig tönt der Chorgesang. Die mystische Feier lichkeit und schwere Pracht der spanischen Gottesdienste, ob sie nun in der Mesquita von Cordoba, in den Kathedralen von Sevilla, Toledo oder Burgos zelebriert werden, erreicht in Santiago de Compostela ein atem beraubendes Majestoso. Ist es auch um diesen bedeutenden Wallfahrtsort des Mittelalters stiller geworden, so knien doch an jedem Tag des Jahres entrückte Beter in der Krypta, deren Silberschrein die Gebeine des Apostels Jakobus des Älteren umschließt, während darüber in der Mitte der pompösen Capilla Major, umrahmt von goldener und silberner Brokatpracht, die Gestalt des Patrons von Spanien thront.

Der Jakobskult, der das Antlitz Spaniens und damit auch das der westlichen Welt geprägt hat, gründet sich auf Legenden. Danach brachten treue Schüler den Leichnam des im Jahre 44 auf Befehl des Königs Herodes enthaupteten Apostels nach Galicien, um ihn vor Entweihung zu schützen, und bestatteten ihn in Iria Flavia, dem heutigen Santiago de Compostela. Das Spanien der frühen Kaiserzeit war geistig eng mit Rom verknüpft. Vielleicht predigte hier sogar der heilige Paulus in seinen letzten Lebensjahren. Nachdem St. Jakobus durch Visionen und Lichterscheinungen verkündet hatte, daß seine Gebeine in galicischer Erde ruhten, fand man in einem Waldesdickicht einen Marmorsarkophag mit den Reliquien. Alfons II. der Keusche errichtete bei dem Grab eine Kirche und ein Kloster. Um diese Gebäude entstand die Stadt Santiago de Compostela.

Die iberische Halbinsel wär bis auf das schmale Königreich Asturien von Mauren besetzt. Und nun wandelte sich seltsamerweise der Apostel zum „Matamaros“, zum Maurentöter. Im Vertrauen auf den Schutz des heiligen Jakobus brachen die asturischen Könige Alfons II., Alfons III. und ihre Ritter aus den Bergen hervor und stürzten sich mit dem Schlachtruf: „Santiago y a eilos!“ — „Sankt Jakob und auf sie!“ auf die Eindringlinge. Chronisten berichten, daß Santiago hoch zu Roß und säbelschwingend in einer Wolke die Streiter anführte. So hatte die erste große geistige Bewegung, welche nach dem Falle Roms Euopa einigte, eines ihrer Zentren in Santiago, das, wie der Historiker A. Castro bemerkt, „nicht nur eine fromme Reliquie war, sondern eine im spanischen Leben gegenwärtige Realität“, die den Verlauf der nationalen Politik bestimmte. Ein anderer Historiker, M. Pidal, behauptete, „daß die Entdeckung des Jakobsgrabes und die Entstehung des spanischen Imperiums zusammengehören“.

Auf dem Jakobsweg zogen Millionen von Pilgern aus ganz Europa. Es pilgerten Heilige und Sünder, Fürsten, Ritter und Bettler, Künstler und Handwerker, Gelehrte und Spitzbuben. Der „Camino de Santiago“ war Aufmarschweg der christlichen Heere gegen die Mauren und zugleich Handelsweg, der den Kaufleuten größtmögliche Sicherheit bot. Handelsleute, die aus dem Herzen Südfrankreichs in das islamische Saragossa reisten, scheuten nicht den Umweg von fast 1000 Kilometern, um sich in Santiago lateinische und arabische Geleitbriefe ausstellen zu lassen. Diese Pässe wurden sogar von den Mauren respektiert und gewährleisteten solchen Schutz, „daß eine Frau allein mit einem Goldschatz durch öde Gegenden reisen konnte, ohne belästigt zu werden“.

Vor allem aber war der Camino Austauschweg geistiger Güter und Kunstformen. Ohne das Phänomen der Pilgerzüge mit ihren Ausstrahlungen auf Kunst, Literatur und Philosophie hätte die westliche Welt niemals das sein können, was sie später geworden ist. Der romanische Stil, die „Kunst der Pilgerstraße“, entfaltete am Rande der irdischen „Via lactea“ seine kostbarsten Blüten. „Ein einziger Stil breitete sich von Santiago längs des Jakobsweges bis Toulouse, Moisäc und Congues aus, aber es wäre vergeblich, ein schöpferisches Zentrum zu suchen, wenn auch die Bedeutung von Santiago größer ist als die von Toulouse“ (Kingsley Porter). In diesen Tatsachen liegt die Größe und Universalität des heiligen Jakobus. Das Bewußtsein von dieser Größe ist der Gegenwart allerdings verlorengegangen.

Santiago de Compostela, Rom und Jerusalem waren die drei heiligen Städte des Mittelalters. Nur derjenige verdient nach Dante den Namen „Pilger“, der die Jakobsreliquien verehrt hatte. Zwei Jahrhunderte vor Rom erhielt Compostela das Privileg, ein „Heiliges Jahr“ feiern zu dürfen — immer dann, wenn der Jakobstag, der 2. Juli, auf einen Sonntag fällt. Im elften und zwölften Jahrhundert erlebte die Jakobsverehrung dank der eifrigen Mönche von Cluny, die in Spanien großen Einfluß erlangt hatten, ihren Höhepunkt. Der Erzbischof Diego Gelmirez — sein Palast ist ein Wunder der romanischen weltlichen Architektur Spaniens — nahm den Titel „Pontifex“ an, trug die Tiara, ernannte Kardinale und hatte das Recht, Münzen zu prägen.

Das 14. und 15. Jahrhundert brachte den Niedergang des Jakobskults. Mit der Eroberung des letzten maurischen Bollwerks Granada, 1492, war die Conquista beendet und damit auch die politische Mission des Santiago als Maurentöter. Der kämpferische Glaube Spaniens wich der Mystik der heiligen Therese von Avila, seit 1620 neben St. Jakobus die Patronin Spaniens. Die Deutschen, welche in hellen Scharen zum Grab des Heiligen pilgerten, wurden durch die Lehre Luthers und den ätzenden Spott der Humanisten dem Jakobskult entfremdet. Maria Theresia verbot aus „staatspolitischfinanziellen Gründen“ — schließlich gab es ja genug Wallfahrtsorte in Österreich — ihren Untertanen die Fahrt nach Compostela, und Ludwig XIV. bedrohte die Jakobspilger mit lebenslänglichen Galeerenstrafen.

In jüngster Zeit trugen die Botschaften der Päpste Leo XIII. und Pius XII. nicht wenig zum Wiederaufleben der Wallfahrten bei. Das „Heilige Jahr“ 1954 sah 700.000 Pilger, darunter Kardinal Roncalli, den späteren Papst Johannes XXIII., vor dem Jakobsgrab knien, und das letzte „Heilige Jahr“ 1965 mehr als eine Million.

Der motorisierte, moderne Pilger kann den Spuren der mittelalterlichen Beter auf einer asphaltierten Autostraße folgen, die nur wenig von dem im Codex Calixtinus um 1130 beschriebenen Weg abweicht. Es gab zwei Pilgerrouten durch Spanien Der von Südfranzosen und Italienern bevorzugte Navarra-Weg begann am Paß Somport und zwängte sich mühevoll durch die Pyrenäen nach Jaca, wo die älteste romanische Kathedrale Spaniens den Wallfahrern Halt gebot. Bei der Eremitei Nuestra Senora de Eunate, einem Oktogon, vereinigten sich die Pilger mit jenen, die vom nördlicher gelegenen Paß Roncevalles (1207 Meter) zur großmächtigen Kathedrale von Pamplona herabgestiegen waren.

Gemeinsam zogen sie nün auf dem Camino nach Puenta la Reina, das sie mit zwei Hospitalen, Brot, Milch und Wein empfing. Mit dem Bau von Gotteshäusern und Hospizen hatten die Clunyazensęr trefflich für das geistige und leibliche Wohl der Pilger gesorgt. Jeden Abend konnten die Ermatteten in den Kirchen von Estella, Los Arcos oder Logrono das Wort Gottes hören und vor den edelsteinfunkelnden Reliquienschreinen das Leben der Heiligen und Märtyrer betrachten. Uber San Domingo de la Calzada wurde Burgos erreicht. Kaum konnten die 34 Hospize und Herbergen die Massen der Frommen fassen, denn hier stießen auch die aus Bayonne und Najera kommenden Pilger auf den Camino.

Burgos, die Stadt des Cid, war und ist hohes Erlebnis des Jakobsweges. Mit der Tätigkeit zweier deutscher Baumeister in Spanien, des Simon und Hans von Köln, dokumentiert die triumphale Kathedrale die Ausstrahlungen des Jakobskultes. Das königliche Kloster Las Huelgas ist eine geglückte Synthese christlicher und maurischer Stilelemente. In Leon sind die romanischen Collegiats- kirche San Isidoro, die gotische Kathedrale und das Kloster St. Markus, heute Hotel, typisdie Marksteine der Pilgerstraße. In der kristallenen Klarheit Kastiliens weisen Orte mit dem Zusatz „del Camino“ oder „de la Calzada“ den Weg nach Astorga, wo die Schuster sogar am Sonntag Pilgerschuhe flicken durften. Die im Codex Calixtinus angeführte Route steigt nun in die Berge und ist mit Autos nicht befahrbar. In Triacastela pflegten die Pilger einen Stein zum Bau der Kathedrale in Castaneda mit sich zu nehmen. Zahllos sind die Kirchen und Hospize im grünenden und blühenden Gartental El Bierzo.

Endlich erscheinen auf der Höhe des Monte El Gozo, auch „Berg der Freude“ genannt, die Türme von Santiago zum erstenmal am Horizont. Unter dem Ruf: „Mon Joie! Mon Joie!“ sanken die Pilger in die Knie und stimmten begeistert das „Tedeum“ an.

Selbst der nüchterne, moderne Mensch ist überwältigt, wenn er das Glück hat, Santiago bei Sonnenuntergang zu erreichen. Die Stadt kommt auf ihn zu wie ein bewegtes, goldenes Meer, dessen Wogenkämme zu Stein erstarrt sind. Türme, Kirchen und Paläste scheinen von Innen heraus zu erglühen und greifen in den blaßblauen Abendhimmel. Die Plaza del Obradoiro, das Zentrum Santiagos, bestrickt mit fast unfaßbarer Schönheit. Die Kathedrale, ein Werk von Jahrhunderten, verbindet reinste Romanik mit graziler Gotik, elegantem platereskem StiL und schwellendem Barock zu seltener Harmonie. Über einer feierlichen Freitreppe erhebt sich die Fassade del Obradoiro aus graugelbem Sandstein wie ein riesiges Retablo und läßt nicht ahnen, daß sie eines der edelsten Denkmäler der Romanik verbirgt, den Portico de la Gloria des Meisters Matteo oder Matthieu. Wahrscheinlich beriefen die Bauherren des 12. Jahrhunderts, um ein rein abendländisches Kunstwerk als Gegengewicht zu dem üppig wuchernden Mudejarstil zu schaffen, einen französischen Meister.

Eine von den Pilgern vieler Jahrhunderte völlig abgegriffene Säule stützt das Portal in der Mitte und trägt einen segnenden Christus. Entrückt thront der Heiland inmitten von 16 Apostel- und Evangelistengestalten. In den stürmisch bewegten Gruppen von Engeln und Heiligen, Teufeln und Verdammten lebt der kämpferische Glaube des von den Mauren bedrängten Spanien. Mißgestaltete, geschnäbelte Ungeheuer tragen Bogen und Säulen.

Nicht weniger als vier romanische und barocke Fassaden schirmen den schweren romanischen Kirchenraum von der Außenwelt ab, von einer Welt, welche mit der wunderbaren plateresken Fassade des Hospitals Real, heute in das Luxushotel de Los Reyes Catholicos verwandelt, der französischen Einfluß verratenden Casa Conistoriales und dem romanischen Portal des Colegio de San Jeronimo einen der schönsten Plätze der Erde geschaffen hat. Santiago de Compostela hat einen Abglanz seiner Glorie bis in unsere Tage bewahrt.

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