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Die polnische Brücke

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Den aufmerksamen Beobachtern des großen Spiels, das in diesem Jahre durch die beiden führenden Weltmächte einander auf diplomatischem Terrain geliefert wird, ist es nicht entgangen, welche bedeutsame Rolle dabei Polen zukommt. Einerseits ist die Frage der Oder-Neiße-Grenze der hemmendste Stein des Anstoßes bei jedem ernsthaften Bemühen um eine haltbare Lösung der europäischen Vertrauenskrise, anderseits wird Polen von der sowjetischen Außenpolitik immer wieder als Wegbereiter benutzt, um im Westen Sympathie zu werben und um als Werber für den Gedanken einer friedlichen Koexistenz zweier weltanschaulich diametral entgegengesetzter Lager zu dienen. Weniger bekannt ist dagegen, daß die Polen, nicht zuletzt dank ihrer Geschmeidigkeit und der Beliebtheit, der sie sich Im Fernen Osten als einstige Opfer und, noch heute, eher als Objekte denn als Subjekte des eroberungslustigen Imperialismus erfreuen, auch In Asien eine ähnliche Aufgabe erfüllen.

Die polnische Tätigkeit ist vor allem in England, in Frankreich, in Belgien und in Italien sichtbar. Sie bekundet sich auf den mannigfachsten Gebieten. Ihre Intensität ist in den letzten Wochen, vornehmlich im Hinblick auf die bevorstehende Genfer Konferenz gewachsen. Der mehr als einstündigen Unterredung des polnischen Botschafters Gajewski mit dem französischen Ministerpräsidenten Faure mißt man in Pariser diplomatischen Kreisen besondere Wichtigkeit bei. Die enge Zusammenarbeit zwischen der polnischen Vertretung und mehreren führenden Persönlichkeiten aus der Umgebung Mendes-Frances und de Gaulies ist notorisch. Man erblickt darin aber nicht nur einen Versuch, die Annäherung zwischen Frankreich und der UdSSR auf Wegen zu fördern, die nicht über den derzeitigen und gegenüber dem Kreml sehr zurückhaltenden Hausherrn des Quai d'Orsay, Pinay, gehen, sondern auch ein Druckmittel auf Moskau, bei der kommenden Auseinandersetzung mit Adenauer die gemeinsamen französischen und polnischen Interessen nicht außer acht zu lassen. Daß dabei von Warschau aus die Frage der östlich der Oder-Neiße-Linie befindlichen Territorien im Vordergrund verharrt, ist klar.

Eben dieser Gesichtspunkt beherrscht den Austausch britisch-polnischer Artigkeiten. In diesen Tagen ist, zum erstenmal seit langem, *in engliches Kriegsschiff Gast der Marine eines Sowjetblockstaates. Die „Glasgow“, ihre Offiziere und Matrosen, sind von der polnischen Flotte nach Gdynia eingeladen worden. Die Aufnahme war ungemein herzlich. Wie stets in derlei Fällen, einerlei ob es sich um die belgische Königinwitwe Elisabeth, um französische Parlamentarier, Gelehrte oder Schauspieler oder um schwedische Rotekreuzleute handelt, werden Besucher aus dem Westen gefeiert; von den einen, weil man wohldiszipliniert jedem Gast der offiziellen Sphären zujubelt, von den andern, zahlreicheren, weil man froh ist, einmal keinen östlichen Verbündeten bei sich zu sehen. Im Falle der „Glasgow“ aber tritt hinzu, daß sich die Polen freuen, hier eine britische Anerkennung ihrer Anwesenheit am Baltischen Meer zu erfahren.

Die sogar das Maß der üblichen Ovationen weit überschreitenden wahren Delirien der Begeisterung, mit der Nehru in Polen überschüttet wurde, haben außer den bisher erwähnten noch andere Ursachen. Indien und sein Premier sind in der Weichselrepublik deshalb besonders populär, weil sie das eigentliche Ideal der Polen verkörpern, die, wären sie nur auf sich gestellt, keinem Block angehören und nur den Frfeden, den ruhigen Aufbau ihres Landes begehren, dann, da der Kampf Indiens um seine Unabhängigkeit soviel Analogien zu dem der Polen gegen Russen und Preußen aufweist. So hat es die offizielle Propaganda, der sehr an einem guten Eindruck auf Shri Nehru gelegen war, wenig Anstrengung gekostet, um ungezählte Hunderttausende auf die Beine zu bringen. Der Triumphzug Nehrus begann mit dem Augenblick seiner Ankunft auf dem Warschauer Flugplatz. Er erreichte seinen Höhepunkt bei einer Autofahrt durch Ober schlesien und nach Krakau-Nowa Huta. Der indische Gast sparte nicht mit deutlichen Freundschaftserklärungen, die über das sonstige Maß seiner diplomatischen Zurückhaltung hinausragten. Ob er in OSwiecim (Auschwitz) bei der Besichtigung des berüchtigten KZ seiner Entrüstung und dem Willen Ausdruck verlieh, einen neuen Krieg unter allen Umständen zu verhüten; ob er die ihm zujubelnden Warschauer Kinder als die schönsten Blumen rühmte, die er auf seiner Reise empfangen hatte; ob er auf einer Massenkundgebung an der Seite Bieruts, Zawadzkis und Cyrankie-wiezs eine Rede improvisierte, an der die polnischen Staatslenker ihre helle Freude haben konnten: bei kühlen diplomatischen Beobachtern meldete sich kein Zweifel über den Sinn dieser gut instrumentierten Gefühlsausbrüche. Nehru wird in London ähnliche Ziele bezüglich der Haltung der Westmächte fördern, wie sie in den Pariser franko-polnischen Gesprächen erörtert wurden. Selbstverständlich nicht in ämtlicher Form; der indische Premier hat in Wien auf die Frage eines Journalisten entschieden bestritten, sich in europäische Angelegenheiten einzumengen. Allein, man weiß ja, „One World“ und „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“. Was zum Beispiel an der von Nehru belobten Tätigkeit des polnischen Vertreters in der Indoehina-Kommis-sion — neben den Repräsentanten Indiens und Kanadas — zu erproben ist.

Die Polen suchen ihrerseits den Kontakt mit Asien. Der Ausbau des Handels und des Kulturaustausches mit Indien ist beim Besuch Nehrus des breitesten besprochen worden. In China sind polnische Ingenieure und Techniker vielerorts am Werk, so beim Aufbau einer Zuckerindustrie. Freilich gibt es dafür Reibungen mit den von der Warschauer Propaganda als Inbegriff satanischer Bosheit angeprangerten „faschistischen“ Randstaaten des Fernen Ostens, vor allem mit Formosa. Die Rückkehr eines Teils der Besatzung des von Tschiang-Kai-Scheks Marine gekaperten polnischen Schiffes „Gottwald“ wurde von den offiziellen Stellen groß aufgezogen. 70.000 Menschen begrüßten die Heimkehrer; daß ein Teil der Besatzung „die Freiheit gewählt“ und um Asyl in den USA gebeten hatte, wurde wohlweislich verschwiegen.

Das ist es aber, was den polnischen Bestrebungen nach engeren Anschluß im Westen Grenzen setzt. Weder die Lockungen der Koexistenz noch die unter der Hand herumgebotenen ,,vertraulichen“ Indiskretionen, man wolle englische, französische, belgische, italienische Kontakte, um sich vom sowjetischen Einflußmonopol ein wenig zu befreien, vermögen recht zu wirken, wenn man gar schnell der Hemmnisse gewahr wird, die jeder spürbaren Milderung der Fesseln im Osten verhängt bleiben. Ein paar Beispiele: katholische Politiker und Schriftsteller von Rang und von unbe-zweifelbarer Lauterkeit der Gesinnung fahren nach dem Westen, sprechen von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs, von der Notwendigkeit, sich gegen neue Ausbrüche des Imperialismus und des Militarismus zu schützen — so weit, so gut — und von der Freiheit, die sie und die Kirche in Polen genießen. Man glaubt gerne, daß dort das eigentliche religiöse Leben ungestört verläuft (übrigens haben sich Nehru und leine Begleiter ebenso gewundert wie gefreut, als sie in Krakau die vielen und gut besuchten Kirchen sahen); doch wenn man die polnischen Besucher um Auskunft bittet, welche gläubigen Menschen, wenn schon nicht in der Partei, so im Staat hohe und höchste Posten bekleiden — etwa eine der hundert Stellen als Minister oder Vizeminister, die Würden eines Generals, Botschafters, Wojwodschaftsrat-Vor-sitzenden usw. —, dann müssen sie verlegen schweigen oder ausweichen. Oder dieses: auf dem Wiener PEN-Club-Kongreß erschienen hervorragende polnische Schriftsteller, deren nichtkommunistische Denkensart notorisch ist und die vom Warschauer Regime mancherlei Bedrängnisse erlitten hatten. Sie benahmen ich sehr manierlich, wichen dem Kontakt mit den westlichsten Kollegen nicht aus, mußten aber in den polnischen Zeitungen durchaus im Stil der kommunistischen Propaganda berichten und hatten Angst vor ihrem eigenen Schatten, um nur nicht bei der Heimkehr Schwierigkeiten auf Grund der Denunziation eines der ihnen beigegebenen echt-marxistischen Aufsehers zu haben. Oder: die nach dem Tod des hundertjährigen Solski hervorragendsten Bühnenkünstler, der Schauspieler Zelwerowicz und die Opernsängerin Korolewicz, sterben kurz nacheinander. Staatsbegräbnis beziehungsweise prunkvoller Kondukt. Doch es darf weder von einer kirchlichen Zeremonie noch von der Seelenmesse geschrieben werden. Nur auf Umwegen hörte man, daß beide — wie auch Solski, dessen Einsegnung ein Bischof vornahm — nach katholischer Art zur ewigen Ruhe geleitet wurden.

Solange derlei Zwiespalt zwischen den Erzählungen auch der bestmeinenden freiwilligen Werber und den Zuständen im kommunistisch gelenkten totalitären Diktaturstaat klafft, solange dies nicht nur auf dem von uns beispielsweise herangezogenen iirchlichen Sektor, sondern überall und stets der Fall ist, kann die polnische Brücke zwar vielleicht im Fernen Osten und im asiatischen Süden, nicht aber im Westen als ein geeigneter Treffpunkt betrachtet werden, an dem die Widersacher im Kalten Kriege einander mit echtem Vertrauen begegnen.

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