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Die roten Moslems

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In Samarkand oder auch draußen auf dem Flugfeld vor der heiligen Stadt Buchara besteigen Gestalten wie aus alten orientalischen Märchen das modernste Verkehrsmittel.

In weißen, kunstvoll gewundenen Turbanen aus duftigem Musselin, in buntgestreiften Chalaten, den langen Röcken ohne Knöpfe, die am Gürtel mit einem bunten Schal zusammengehalten werden, in hohen, weichen Stiefeln aus buntem Leder, das kunstvoll in Blumen und Ornamenten zusammengefügt ist.

Und der stolze, schimmernde Vogel erhebt sich in die Lüfte. Seine Insassen sind hohe mohammedanische Geistliche, die nach Mekka fliegen. Sie reisen nicht nur, um ein eigenes religiöses Bedürfnis zu befriedigen, sie reisen auch als sowjetische kulturpolitische Agenten nach den Ländern des Nahen Orients und nach Arabien. Es wird allzu oft vergessen, daß die Sowjetunion auch ein großes mohammedanisches Reich ist. Von den 16 Bundesrepubliken, welche die Sowjetunion bilden, sind sechs von mohammedanischen Völkern bewohnt. Es sind das die Sowjetrepubliken Aserbeidschan, mit der Hauptstadt Baku in Transkaukasien, und die fünf mittelasiatischen Sowjetrepubliken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kasachstan und Kirgisien. Damit nicht genug. Die größte Bundesrepublik, Rußland, ist ihrerseits formal eine Föderation. Die nichtrussischen Völker sind dort administrativ in „autonome“ Sowjetrepubliken zusammengefaßt. Im Wolga-Kama-Becken gibt es drei solche autonome Republiken, Tatarien, Baschkirien und clie Udmurtische Sowjetrepublik, die von Mohammedanern bewohnt werden. Dazu noch drei mohammedanische autonome Republiken im Nordkaukasus: Dagestan, Kabarda, Nordossetien. Außerdem noch eine Reihe von autonomen mohammedanischen Gebieten. Endlich ist auch die Georgische

Republik eine Föderation. Auch hier gibt es eine mohammedanische Republik, Adscharistan, mit der Hauptstadt Batum. Drei „autonome“ Sowjetrepubliken von drei mohammedanischen Völkern, die der Krimtataren und der Tsche-tschenzen und Inguschen im Kaukasus, sind nach dem letzten Kriege „liquidiert“ worden. Alle diese drei Völkerschaften sind aus ihrer Heimat mit Kind und Kegel deportiert worden — unbekannt wohin.

Die mohammedanische Bevölkerung der Sowjetunion zählt heute also weit über 40 Millionen Seelen. Es sind beinahe zwei Dutzend Völkerschaften mohammedanischer Kultur. Sie sprechen die verschiedensten Sprachen, hatten aber einst außer der Religion und durch diese etwas gemeinsam, nämlich das arabische Alphabet. Doch schon die Zaren begannen diese Völker zu nötigen, das russische Alphabet anzunehmen. Die Sowjetregierung vollendete diese Sprachreform. Das arabische Alphabet ist jetzt vollständig durch das russische, bei manchen Sprachen durch das lateinische ersetzt. Wie die zaristische, so fürchtet auch die sowjetische Regierung den Zusammenschluß aller mohammedanischen Völker, die ihr Untertan sind. Sie hat eben darum diese Bundes- und autonomen Republiken geschaffen. Sie weckte erst den Nationalismus dieser Völker, die sich fiiuier alle nur als Anhänger des Propheten gefühlt hatten. Seit bald vierzig Jahren wird die Kultur jedes einzelnen dieser Völker auf alle Art gefördert. Was sie früher nicht hatten, das wurde ihnen jetzt geschaffen: Zeitungen. Zeitschriften und Schulen in ihren Sprachen, Theater, eine Literatur. Diese Literatur dient zwar der kommunistischen Propaganda, doch gleichzeitig benutzt ja diese Literatur auch die Vergangenheit dieser Völker zum Thema und Stoff und arbeitet so den Unterschied zwischen den einzelnen Völkern heraus. Manche dieser Republiken haben nicht nur Hochschulen, sondern auch eigene Akademien der Wissenschaften. Bedeutungsvoll sind die Akademie der Wissenschaften Kasachstans und Usbekistans. Besonders die letztere leistet viel auf dem Gebiet der archäologischen und historischen Erforschung Mittelasiens. In den letzten Jahren hat diese

Akademie auch auf religionsgeschichtlichem Gebiet viel gearbeitet.

Bekanntlich hat der Islam keine kirchliche Hierarchie. Auch im alten Rußland hatten nur die Tataren und Baschkiren so etwas wie ein geistliches Oberhaupt. Jetzt aber, nachdem sich etwa seit 1936 die Sowjetregierung bemüht hat, mit dem Islam ein gutes Verhältnis herzustellen, ist eine geregelte Verwaltung aufgebaut worden. Allerdings haben die Mohammedaner kein gemeinsames Oberhaupt, wie etwa die russische Kirche in ihrem Patriarchen Alexej. Es gibt vier „geistliche“ Verwaltungen der Mohammedaner, eine für das europäische Rußland und Sibirien, die zweite für den Nordkaukasus, die dritte für Transkaukasien und die vierte für Mittelasien und Kasachstan. Die letztere ist natürlich die wichtigste. Denn hier leben über 30 Millionen Mohammedaner in einem geschlossenen gewaltigen Siedlungsraum. Und vor allem gerade Mittelasien hat auf religiösem Gebiet in der mohammedanischen Welt eine internationale Bedeutung. Gerade die mittelasiatischen Länder, bis vor etwa 75 Jahren selbständig, erfreuen sich eines großen Rufes der islamitischen Gottesgelehrtheit. Hier gibt es auch Heiligtümer und Wallfahrtsorte, die in der ganzen mohammedanischen Welt berühmt sind. Die Stadt Samarkand war einst die Hauptstadt Tamerlans, des großen mohammedanischen Welteroberers. Sie ist heute noch voll von wunderbaren Bauten. Vor allem aber die heilige Stadt Buchara! Bis etwa 1920 durfte ja keines „Ungläubigen“ Fuß diesen „heiligen“ Boden betreten. Denn das Emirat Buchara war zwar ein Vasallenstaat Rußlands, doch selbst der Vertreter des Zaren am Hofe des Emirs residierte nicht dort, sondern in einer neuerbauten russischen Stadt an der Grenze.

Eine eingleisige Nebenlinie der Eisenbahn führte von hier bis vor die Tore der mittelalterlichen Stadt. Nur für den Hofzug des Emirs war sie einst berechnet. Sie endete ganz einfach im freien Feld, einige Dutzend Meter vor dem Stadttor von Buchara. Diese Stadt wirkt auch heute noch wie eine lebendige Illustration zu einem orientalischen Märchen. Sie ist umgeben von einer hohen Stadtmauer. In den tiefen Toren sieht man heute noch die Wachträume. Hier zog noch 1921 die Armee des Emirs eine Wache auf. Und dahinter ein dichtes Gewirr von krummen Gassen, unterbrochen von imposanten Bauten. An jeder Ecke sieht man die charakteristischen Roßschweife und andere Abzeichen auf hohen Stangen, die anzeigen, daß hier ein mohammedanischer Großer begraben liegt. Die imponierenden Gebäude sind Klöster und geistliche Hochschulen. Das heilige Buchara war dafür berühmt. Auf einem weiten Platz steht noch auf einem niedrigen Hügel die große, trutzige Burg des Emirs, der jetzt im Exil irgendwo in Afghanistan haust. Vor der Burg steht auch noch der hohe Turm, von dem man noch 1920 die zum Tode Verurteilten auf die Steinfliesen des Platzes hinabwarf.

In dieser merkwürdigen Stadt findet man aber auch etwas ganz Besonderes. Plötzlich, wenn man in einer solchen engen, von einer bunten Menschenmasse erfüllten Gasse um die Ecke biegt, steht man vor einem eigenartigen, gewaltigen Wasserbassin. Der Platz ist ganz still, von Bäumen umwachsen. Und das Bassin ist ganz eigenartig, ringsherum laufen Treppen. Es geht Dutzende von Stufen hinunter, bis man an den Wasserspiegel gelangt. Es gibt viele solcher Wasserbehälter. Diese alten Bauten der Wasserversorgung Bucharas sind mit das Schönste an dieser Stadt. Uebrigens, was die Wasserbassins anbelangt. Einige Dutzend Kilometer von der Stadt, in einer blühenden Oase, steht das moderne Schloß des früheren Emirs. Es besteht aus einer Reihe von weißen Marmorbauten im Jugendstil. Eigentlich befand sich hier einst nur der Harem des Fürsten, der über hundert Frauen beherbergte. Im Park dieses Schlosses, in einem wunderbaren Rosengarten, befindet sich ein gewaltiges Schwimmbassin, ebenfalls aus leuchtend weißem Marmor. Das Wasser ist ganz durchsichtig, so daß man das Mosaik des Bodens sieht.

Als der Emir 1921 nach Afghanistan floh, da verwandelten die Sowjets diesen Gebäudekomplex in ein Irrenhaus!

Hier in der heiligen Stadt Buchara ist eigentlieh das geistige Zentrum des roten Islams. Denn statt der vielen Medresse (Hochschulen) der einzelnen Klöster von einst befindet sich hier jetzt die große theologische Hochschule Zentralasiens. Die größte von allen der Sowjetunion und eine der angesehensten der Welt. Die Lehrer dieser Hochschule haben eine große Autorität, bis nach Kairo, Bagdad und Mekka.

Obwohl die drei übrigen sowjetischen „Mufti“ offiziell dem mittelasiatischen gleichgestellt sind, ist es doch Zentralasien, das heute außenpolitisch für den Kreml wichtig ist. Die Mohammedaner an der Wolga und im Kaukasus erhöhen nur die Bedeutung Mittelasiens, indem sie das farbige Bild der vielen mohammedanischen Völker bereichern.

Vieles auf der Welt ist relativ. Mag ein Europäer oder Amerikaner das Leben eines Bauern oder Arbeiters in Mittelasien noch so primitiv, vielleicht auch dürftig finden: Im Vergleich zu den umliegenden mohammedanischen Staaten, Persien, Afghanistan oder sogar Pakistan, ist der Lebensstandard unendlich hoch. Der einzelne hat hier Möglichkeiten, die sich der Mann aus der Masse, etwa in Persien, gar nicht vorstellen kann. Was noch viel wichtiger ist, auf die dünne Schicht der neuen Intelligenz ganz Asiens übt da:- sowjetische Mittelasien einen faszinierenden Einfluß aus.

Denn die Sowjets haben hier die Lebensformen vor etwa einem Vierteljahrhundert vollkommen umgebrochen. Die Frauen wurden entschleiert. Die Einehe rigoros durchgesetzt. Schwere Strafen stehen auf Vielehe, Brautkauf oder landesüblichen Brautraub, selbst wenn er eigentlich nur symbolisch in Erinnerung an eine alte Sitte gepflogen wird. Gleichzeitig wurde die Landwirtschaft kollektivisiert. Fabriken entstanden. Das kostete damals viel Blut. Die Familien ermordeten oft ihre Frauen, wenn sie unter dem Einfluß der kommunistischen Agitation den Schleier fortwarfen. Die rote Staatsmacht antwortete mit Terror, mit Hinrichtungen.

Doch nun ist seitdem beinahe ein Vierteljahrhundert vergangen. Kasachstan war einst eine wilde Gegend, von Nomaden durchzogen. Heute sind diese Nomaden ansässig, haben Schulen und, wenn auch nicht sehr viele Spitäler. Einst gab es keine Industrie in Mittelasien. Heute gibt es zahllose Fabriken. Und vor allem sehr viele Schulen aller Stufen. Die Akademien der Wissenschaften in Kasachstan und Usbekistan machen alles, damit ihre Arbeiten in Asien und im Mittleren Osten bekannt werden. Eine breite, gut verdienende Schicht von einheimischen Intellektuellen ist entstanden. Vieles ist Eigennutz des Kremls. Mittelasiens Rohstoffe braucht die Sowjetindustrie. Die Baumwolle Mittelasiens, die Wolle Kasachstans haben die russische Textilindustrie vom Auslande unabhängig gemacht.

Es ist auch Kolonialpolitik. Doch die Fassade einer eigenen nationalen Staatlichkeit ist sehr geschickt aufgebaut. Nach dem sowjetischen Mittelasien, nach dem Kaukasus muß man sehen, wenn man die unbestreitbaren Erfolge der Sowjetdiplomatie in Asien und ihre jetzt beginnende Offensive in Mittelost und Arabien beobachtet.

Immerhin, der sowjetische Erfolg wäre sehr zweifelhaft, wenn sich der Islam gegen die rote Macht gestellt hätte. Das schien auch wahrscheinlich. Denn in den Jahren 1925 bis 1934 ist auch in den mohammedanischen Gebieten die Religion verfolgt und zurückgedrängt worden. Wahrscheinlich hat sich jedoch die mohammedanische Geistlichkeit die Folgen schlimmer vorgestellt, als sie dann tatsächlich eingetreten sind. Wenn auch das Leben durchgreifend verändert wurde, stürmisch modernisiert, sind aus den Mohammedanern der Sowjetunion doch keine Europäer, keine Russen geworden. Es arbeitete sich in Lebensart, in Kleidung und Sitte etwas zwar Neues, jedoch Bodenständiges heraus. Wahrscheinlich wirkte der erst von den Sowjets entfachte junge Nationalismus dieser Völker versöhnend auf die Geistlichkeit. Als ihnen dann der Kreml theologische Hochschulen, reiche Mittel und Forschungsgelegenheiten gab und eine geregelte Verwaltung schuf, söhnte sich die Geistlichkeit mit dem Neuen aus.

Und heute wird diese Geistlichkeit gerade im Mittleren Orient und in Arabien diplomatisch eingesetzt. Wie schon vorher die russische und die armenisch-gregorianische Kirche. Jeder Brief, der von einem an der usbekischen Akademie der Wissenschaften in Taschkent arbeitenden Geistlichen mit seinen Kollegen in Kairo, Bagdad oder Mekka gewechselt wird, jede Schrift, welche die theologische Hochschule in Buchara in die Länder des Orients versendet, jeder Verkehr fördert den sowjetischen Einfluß.

Seit einigen Jahren wächst auch der persönliche Einsatz. Unkontrolliert von der Weltöffentlichkeit, steigen in Samarkand und Buchara be-turbante Gestalten ins Flugzeug. Moderne Mekkapilger, aber auch geistliche rote Diplomaten in geheimer Mission ..,

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