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Die Stadt an der Adria

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Jede der-am alten Österreich begangenen Sünden rächt sich heute. Das zeigt nicht zuletzt der jetzt wieder die Weltöffentlichkeit beschäftigende Fall des „Freistaates Triest“. Der jugoslawischitalienische Gegensatz erscheint dabei mit der großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, zugleich mit dem Tito-Kominform-Konflikt, in so fataler Weise verquickt, daß im Grunde alle Beteiligten längst ihre volle diplomatische Handlungsfreiheit eingebüßt haben und sich durch jeden Schritt immer weiter in das Geflecht von bindenden Versprechungen und Erklärungen, von „unaufgebbaren Positionen“ und „nicht überschreitbaren Grenzen“ zu verstricken drohen.

Der unbeteiligte Beobachter mag sich fragen, wie es denn möglich war, daß man nach einem Weltbrand, der sich zumindest äußerlich an der Frage des Freistaates Danzig und des polnischen Korridors entzündet hatte, ein „Danzig an der Adria“ schuf, ein Provisorium, dem so ziemlich alle Geburtsfehler der Danziger Lösung in noch verstärktem Maße anhafteten und dessen Problematik zu erkennen es nicht gerade eines besonderen politischen Scharfblickes bedurfte. Doch liegt auch hier die Ursache aller Fehler der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit tiefer — in jenem Mord am alten Österreich, den man heute auch im ehemaligen Feindeslager immer klarer als Mord am alten Europa selbst erkennt.

Triest, die Küstenstadt an der Adria, war eine österreichische Stadt, eine Stadt der ganzen Monarchie in einer Ausschließlichkeit wie sonst eigentlich nur die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Die „cittä fedelissima“, die sich 1382, also vor fast sechs Jahrhunderten, unter die Herrschaft der Habsburger begab, erlebte Aufstieg und erste Blüte im Zeitalter der österreichischen Großmachtbildung, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, durch die Erhebung zum Freihafen 1719, dem Bau der Semmeringstraße 1728, die Einrichtung eines wöchentlichen Fuhrwerksverkehrs Wien—Triest 1730 sowie durch den Bau des großen Molo San Carlo, der nach dem Namenspatron des Kaisers Karl VI., des ersten großen Förderers der Stadt, benannt wurde. In den nur scheinbar so stillen Jahren des Vormärz haben dann unternehmende, weitblickende Bürger die Bedeutung Triests erkannt und seinen Ausbau mit allen Kräften gefördert: allen voran der Gründer und erste Direktor des „österreichischen Lloyd“, Carl von Bruck, der Eberfelder Kauf-mannssohn und spätere österreichische Handels- und Finanzminister. Bruck und der um ihn gescharte Kreis von Triestiner Kaufleuten, Unternehmern, Gelehrten, Armee- und Marineoffizieren und Beamten — Negrelli, Revoltella, Tegetthoff, Wüllerstorff, Moering usw. — waren bemüht, die Stadt zum Ausfallstor Österreichs nach dem Mittelmeer und dem Nahen und Fernen Osten auszubauen. Der von ihnen mit Recht vorhergesehene Verlust von Venedig 1866, der von ihnen von

Anfang an geforderte und dann wärm-stens begrüßte Bau des Suezkanals und die Ausdehnung von Österreichs Seegeltung und Orienthandel haben Triest, das mit dem umgebenden Territorium ein eigenes Kronland bildete, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die große Blütezeit seiner Geschichte gebracht; bis dann um die Jahrhundertwende die Schicksalsfrage der Monarchie, das Nationalitätenproblem, immer tiefere

Schatten auf das Bild materiellen und kulturellen Aufschwungs warf und der Ruf der „Italianissimi“ nach „Trento e Trieste“ immer lauter wurde. Wie väterlich nachsichtig und milde sich dabei der österreichische Staat jenen Söhnen gegenüber verhielt, die ihn leidenschaftlich bekämpften, hat einer der führenden Irredentisten, Carlo Alberti, Jahrzehnte später in seinem Buch „Irredentismo senza Romanticismi“ (Irredentismus ohne Romantik) dankbar anerkannt.

Das Ende des ersten Weltkriegs brachte dann mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie für Triest den jähen Absturz vom Mittelmeerhafen eines Großwirtschaftsraumes zum Range einer der vielen italienischen Seestädte und zur „Stadt ohne Hinterland“. Der „Witz“ (wie auch die italienisch sprechenden Bewohner Triests heute noch ein Scherzwort nennen) vom Kampfruf der beschäftigungslosen Hafenarbeiter „Nieder mit Österreich, weil es uns beigebracht hat, fünfmal am Tag zu essen“, kennzeichnet die Lage unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg. Auch die dann unter dem faschistischen Regime mit viel Energie betriebenen Maßnahmen der Stadtplanung und Hafenerweiterung, des Baues eines neuen Aquädukts und der Assanierung der Altstadt, der Veranstaltung des „Giugno Triestino“ und der „Mostra del Mare“ vermochten die Verlorene Stellung nicht zu ersetzen. Dazu kam, daß das Regime das nationale Problem, den Gegensatz zwischen der italienischen Stadt- und der slowenischen Landbevölkerung, hier ebensowenig zu lösen vermochte, wie in Deutschsüdtirol. Der zweite Weltkrieg brachte dann den durch die nationale Spannung verschärften und komplizierten Partisanenkrieg bis vor die Tore der Stadt. Zwischen den slowenisch-nationalen und zugleich kommunistischen Tito-Partisanen und den italienisch-kommunistischen Garibaldi-Brigaden schuf das gemeinsame antinazistische Bekenntnis eine Kampfgemeinschaft, die sich nicht nur gegen die deutsche Wehrmacht, sondern fast mehr noch gegen die italienischnationale Partisanengruppe richtete. Erst vor kurzem hat ein großer Prozeß in Italien sich mit dem „Gemetzel von Por-ztis“ beschäftigt, bei dem im Februar 1945 die kommunistische „Garibaldi-Brigade“ die gesamte Führung der italienischen „Brigata Osoppo“ liquidierte, wobei sich die tragisch-seltsame Situation ergab, daß italienische Kommunisten wegen Verbrechen vor Gericht standen, die sie ihrem jetzigen Erbfeind Tito zuliebe begangen hatten.

Slowenische Irredentisten aus Istrien, dem Küstenland und Friaul, wie Kardelj, Bebler und andere, waren nach Kriegsende die eigentlichen Träger der jugoslawischen Expansionspolitik, die von der endgültigen Einverleibung Triests träumte und sich zugleich der Unterstützung durch die Sowjetunion und den gesamten Ostblock sicher wußte. Triest sollte der südliche Angelpunkt des „Eisernen Vorhangs“, der südwestliche Vorposten des Ostblocks am Mittelmeer werden. Aus diesem Bestreben und aus dem Widerstand der Westmächte — die die eminente Bedeutung der Stadt für das Mittelmeer wie für den Donauraum erkannten — erstand dann 1946 das Kompromiß des „Freien Territoriums Triest“ mit der anglo-amerikanisch besetzten Zone A und der jugoslawisch besetzten Zone B, die nach der Bestellung eines neutralen Gouverneurs vereinigt werden sollten. Unter den wenig günstigen Auspizien blutiger Demonstrationen trat ein Jahr später, im September 1947, der „jüngste Staat Europas“ ins Leben. Bald erwies sich die Unmöglichkeit, einen geeigneten Gouverneur zu finden, auf den sich Ost und West einigen konnten. „Der Gouverneur muß ein sehr kluger Mann sein“, sagten die Triestiner, „aber wenn er das ist, kommt er nicht nach Triest.“ In dieser Situation erfolgte am Vorabend der entscheidenden italienischen Aprilwahlen jene Drei-Mächte-Erklärung vom 20. März 1948, in der sich die USA, Großbritannien und Frankreich verpflichteten, für die Rückkehr des gesamten Freistaates zu Italien eintreten zu wollen. Dieses Versprechen ist es, auf dessen Erfüllung Italien nach wie vor besteht — und an das die Westmächte in der gegenwärtigen Situation einer angebahnten Verständigung mit Tito nicht gerne erinnert werden möchten.

Denn der Tito-Kominform-Konflikt hat inzwischen die Situation grundlegend verändert und zugleich noch weiter kompliziert. Italien konnte jetzt hoffen, daß Rußland eines Tages der Drei-Mächte-Erklärung beitreten werde — und sei es auch nur, um die Annäherung Titos an den Westen zu stören, denn bei der Lage der Dinge würde die Aufgabe, diesen Vier-Mächte-Beschluß durchzuführen, das heißt praktisch: Tito die Zone B wegzunehmen, den Anglo-Amerikanern zufallen. Andererseits wollen weder Tito noch die Sowjetunion das nationale Odium eines endgültigen Verzichts des Slawentums auf Triest und sein Hinterland auf sich nehmen. Der Westen wieder befindet sich in der schwierigen Lage, einen Ausgleich finden zu müssen zwischen dem einstigen Versprechen an Italien und den jetzigen Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit Jugoslawien.

In dieser Situation war es im Grunde für alle unmittelbar Beteiligten peinlich, daß, ähnlich wie das Saarproblem in einem für die deutsch-französische Verständigung günstigen Augenblick, jetzt das Problem Triest plötzlich in den Vordergrund der Debatte trat. Ein schon seit Monaten schwelender diplomatisch-propagandistischer Kleinkrieg zwischen Italien und Jugoslawien, um den sich die Weltöffentlichkeit, die andere Sorgen hatte, zunächst wenig kümmerte, trat plötzlich in ein akutes Stadium, als die Beseitigung der Zollschranken zwischen Jugoslawien und der Zone B und die Ausschreibung von Gemeindewahlen in dieser Zone die Befürchtung wachrief, daß Tito hier ein „fait accompli“ schaffen wolle. Der italienische Außenminister Graf Sforza hielt seine Mailänder Oster-rede, in der er Jugoslawien direkte Verhandlungen anbot, zugleich allerdings die Möglichkeit eines Beitritts der Sowjetunion zur Drei-Mächte-Erklärung „nicht von vornherein ausschloß“. Gegenüber der heftigen Reaktion aus Belgrad, die ihn der „Heuchelei“ und der „Erpressung“ zieh, beteuerte er erneut seinen Willen, auf jeden Fall mit Jugoslawien zu einer direkten Verständigung und Generalbereinigung zu kommen. Sein ehrlicher Wille steht außer Zweifel, bildet doch der Gedanke einer italienisch-jugoslawischen Verständigung (wobei er sogar an ein Groß-Jugoslawien mit Einschluß Bulgariens dachte) einen Kardinalpunkt seines politischen Credos, dem er auch in den Jahren der Emigration in seinen politischen Schriften immer wieder Ausdruck verliehen hat.

Trotz, der starken Worte auf beiden Seiten wird es schließlich doch zu einer Einigung kommen müssen. Eine solche wäre etwa denkbar durch die Rückgliederung der schon weitgehend an Italien angeglichenen Zone A mit der Stadt Triest selbst und durch die Teilung der Zone B längs des Flußlaufes der Dragogna, die von den Hauptorten der Zone Capodistria, Isola und Pirano und damit dem eigentlichen Golf von Triest bei Italien, Umago, Buie und Cit-tanova und damit das schon eigentlich istrianische Gebiet bei Jugoslawien belassen würde. Auch das wäre keine Ideallösung; eine solche erscheint seit 1918 überhaupt nicht mehr im Bereich der Möglichkeit zu liegen und kann wohl erst in veränderter Form wieder auferstehen, wenn das vielbesprochene Vereinte Europa aus dem Stadium der Konferenzen in das der Tatsachen getreten ist.

Es mag den Österreicher mit wehmütiger Genugtuung erfüllen, wenn jetzt in dem Streit um die nationale Zugehörigkeit der Zone B von italienischer Seite die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung von 1910 und der Reichsratswahlen von 1911 als einzig verläßliche Zahlen bezeichnet werden, „weil durchgeführt von einer Verwaltung, die erhaben war über jeden Verdacht der Wahlschiebung, in einer von Leidenschaften ungetrübten Epoche“ (wie der Sonderberichterstatter des „Corriere della Sera“, Tomaselli, am 8. April aus Triest schrieb). Die Triester Bevölkerung hat die glücklichste Zeit der Stadt, die österreichische Zeit, nicht vergessen, deren Spuren in tausend kleinen Zügen des Lebensstils, der Alltagsgewohnheiten und der Umgangssprache noch immer zu finden sind. Die Zerschlagung des österreichischen Großwirtschaftsraums und seiner Völkergemeinschaft hat unermeßliches Leid und eine nicht enden wollende Unruhe gerade für die Bewohner so umstrittener Gebiete wie Triest gebracht — die herzlich gerne auf den zweifelhaften Ruhm verzichten möchten, ein .internationales Problem“ darzustellen.

Es ist ein schlagender Beweis für die liefe, unaustilgbare Kraft geographischer und geschichtlicher Zusammenhänge, wenn die stärkste wirtschaftliche Hilfe für die Hafenstadt an der Adria in dieser unruhigen Nachkriegszeit sich mit aus der Tatsache ergab, daß es der Ausladehafen erst der UNRRA, dann der Marshall-Plan-Güter für Mitteleuropa und besonders für Österreich war Und ist. In dieser, durch alle politischen

Manöver und Kämpfe letzten Endes unaustilgbaren Stellung als Emporium des Donauraums, liegt die Gewähr für die Zukunft der Stadt an der Adria — in dieser Verbundenheit zugleich auch die Legitimation für das besondere Interesse, mit dem wir Österreicher — die wissen, was es heißt, im Spannungsfeld weltweiter Gegensätze zu liegen — das Schicksal Triests verfolgen.

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