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DIE TRADITION VERONAS

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In seinen „Memorie” schreibt Carlo Goldoni, der im Jahre 1733 in Verona weilte: „In Verona befindet sich ein römisches Amphitheater… Es ist so gut erhalten, daß es heute ebenso verwendbar ist wie zur Zeit seiner Entstehung. Das ungeheure Bauwerk, das in Italien die Arena von Verona genannt wird, hat eine ovale Form. 225 Fuß beträgt der äußere, 135 Fuß der innere Durchmesser; die Umrahmung bilden 45 marmorne Stufenränge, auf welchen 20.000 Menschen in bequemer Weise Platz finden können. In diesem Raum werden Vorstellungen jeglicher Art gegeben: Wettrennen, Turniere, Stierkämpfe, und während des Sommers wird hier bei bloßem Tageslicht Theater gespielt. Zu diesem Zweck wird auf festen Gestellen ein Podest errichtet, das im Winter abgetragen und für die neue Spielzeit wieder aufgeschlagen wird. Hier treten, einander abwechselnd, die besten Schauspieltruppen Italiens auf und zeigen daselbst ihre Künste.”

Dieser großartige Schauplatz blutiger und unblutiger Kämpfe und Spiele wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch als Freiluftkonzertsaal benützt; so fand am 29. Jänner 1806 ein großes Chor- und Orchesterkonzert anläßlich der Vermählung Eugene Beauharnais’, des Vizekönigs von Italien, mit der Prinzessin Amalie von Bayern statt, über welches jedoch keine näheren Angaben überliefert sind. Hingegen ist uns näheres über ein Festkonzert bekannt, das zu Ehren des Kongresses der Heiligen Allianz, der 1822 in Verona tagte, in der Arena gegeben wurde und im Zeichen Gioacchino Rossinis stand. Der auf dem Zenith seiner Karriere stehende Meister hatte zu diesem festlichen Anlaß auf einen Text von Gaetano Rossi eine Kantate „La Santa Alleanza”, geschrieben und vor einem Publikum, das die Elite des gesellschaftlichen und politischen Lebens von Europa repräsentierte, selbst dirigiert. Zwanzig Jahre später, am 31. Juli, erklang ebendort sein „Stabat Mater”, das er im Jahre 1833 geschaffen und 1842 nach einer Neubearbeitung veröffentlicht hat. Neben einer Reihe von weltlichen und geistlichen Kompositionen kleineren Formats ist dies das letzte großangelegte Werk des ein Jahr nach Mozarts Tod geborenen, berühmtesten Opemkomponisten seiner Zeit, Im Jahre 1856 wurden zum erstenmal Opemaufführun- gen „all’ aria aperta”, im anderthalbtausendjährigen Amphitheater veranstaltet. „II casino di campagna” von Pietro Lenotti, Rossinis „Barbier von Sevilla”, Donizettis komische Oper „Der Liebestrank” und „Chi la dura, vince” von Luigi Ricci standen auf dem Programm. Nach diesem wohlgelungenen Versuch gab es eine lange, wohl durch die äußeren Ereignisse bedingte Pause, bis die so vielversprechend begonnene „stagione lirica” im Rahmen der großen Ausstellung der Provinz Verona im Jahre 1900 mit dem großen Ballett „Pietro Micca” von Luigi Manzotti einen. Serienerfolg zu verzeichnen hatte, dem am 29. Juli die Ermordung des Königs Umberto von Mona, ein jähes Ende gesetzt hat. Auch nach Ablauf der offiziellen Hof- und Landestrauer überschattete die aufrichtige Trauer der Bevölkerung um den allbeliebten Monarchen das öffentliche Leben.

Wieder gab es eine, wenn auch nicht so lange währende Unterbrechung der verheißungsvoll und erfolgreich begonnenen musikalischen Ära, bis eines Tages, besser gesagt: eines Spätnachmittags in den ersten Juli tagen des letzten Friedensjahres 1913, der italienische Tenor Giovanni Zenatello und die in Spanien geborene Mezzosopranistin Maria Gay sich mit einigen Veroneser Freunden in einem Cafe auf der Piazza Brä im Schatten der Arena trafen. Wie und wo man wohl die im Oktober dieses Jahres fällige hundertste Wiederkehr des Geburtstags Giuseppe Verdis in würdiger Weise begehen könne, war der Gegenstand ihres Geprächs. Ein Blick über die Piazza auf den Diokletiani- schen Kolossalbau brachte die Entscheidung: nur dieser konnte zum Schauplatz der Verdischen Kolossaloper werden, die wie keine andere für diesen Anlaß geeignet war, die „Aida”. Mit diesem Tage war der Grundstein zu der nun schon ein halbes Jahrhundert lang fortgesetzten Reihe glanzvollster Opernaufführungen gelegt, die von größter Bedeutung für die Geschichte der europäischen Musik werden sollten.

Der hervorragende Theaterfachmann und -Unternehmer

Ottone Rovato wurde bald für den Plan des Künstlerpaars gewonnen, der auch eine ganz große Dirigentenpersönlichkeit in seinen Bann und für fünf Jahrzehnte in seinen Dienst zu zwingen vermochte: Maestro Tullio Serafin. Er war es, der sowohl die Festaufführungen der „Aida” zum hundertsten Geburtstag Verdis als auch die fünfzigjährige Wiederkehr der Aida-Aufführung in der Arena von Verona in letzter Hingabe an seine hohe Mission und unter vollem Einsatz seiner erlesenen Künstlerpersönlichkeit zu einem, nach wie vor, unwiderstehlich überwältigenden Ereignis gestaltet hat. Ihm zur Seite als Mitschöpfer der Bühnenbilder und Kostüme standen in den Jahren 1913 Ettore Fagiuli und 1963 Pino Casarini.

Betrachtet man die Programme einer fünf Dekaden währenden Spielzeit, so ergibt sich die Feststellung, daß diese nicht nur auf die italienischen Komponisten beschränkt sind, die wohl dominieren, aber nicht ausschließlich das Repertoire beherrschen. Bizet, Gounod, Massenet erscheinen immer wieder, Flotow, Meyerbeer, Mussorgsky und Prokofiew sind mit je einem bis zwei Hauptwerken in dieser, vorwiegend der „opera lirica” gewidmeten Aufführungsreihe vertreten.

Diesen gegenüber nimmt Richard Wagner mit fünf Werken einen überragenden Platz ein. Bereits 1922 erscheint „Lohengrin” auf dem Spielplan, 1924 hält das Musikdrama mit „Parsifal” seinen Einzug in die Arena. Es folgen 1931 die „Meistersinger”, 1938 „Tannhäuser” und 1950 „Die Walküre”.

Während im Gedenkjahr des hundertvierzigsten Geburtstages Giuseppe Verdis ausschließich Verdische Opern aufgeführt wurden, waren es im Jubiläumsjahr 1963 Pon- chiellis „Gioconda” und Wagners „Lohengrin”, welche neben die eigentliche Festoper „Aida” gestellt wurden, die ein halbes Jahrhundert vorher den Ruf Veronas als Stadt der Oper begründet hat — ein Ruf, der zum Weltruf geworden ist.

War es im verflossenen Jahr der Genius Verdis, der die Musikkenner und -liebhaber aus allen Teilen der Welt in Verona vereinte, so ist es in diesem Sommer Shakespeare, dessen Geburtstag sich zum vierhundertsten Male jährt. Seit langem werden die Dramen des großen Engländers an zwei besonders schönen Plätzen dieser an Denkmälern der Kunst und der Natur so überaus reichen Stadt gegeben: im Teatro Romano, das bereits unter Kaiser Augustus erbaut, also um ungefähr dreihundert Jahre älter als die Diokle- tianlsche Arena ist, und nach einem fast tausendjährigen Schlaf erst in der Neuzeit zu neuem Leben erweckt wurde.

Zum Schauplatz der Aufführung Shakespearscher Dramen wurde auch der zauberhafte Park der vielbesungenen Villa Giusti, einer der schönsten und berühmtesten Renaissancegärten Italiens, erwählt. Zu Ende des 17. Jahrhunderts wurde hier der Sitz eines für die italienische Sprache und Literatur bedeutsamen Zentrums errichtet, nämlich einer sogenannten „colonia” der „Accademia degli Arcadi”, welche von dem Dichter und Humanisten Giovan Mario Crescimbeni im Verein mit dem durch seine kritischen Schriften bekannten Gravina im Jahre 1690 in Rom gegründet worden war. Der Hebung des stark abgesunkenen zeitgenössischen Geschmacks und der Veredlung der italienischen Sprache galten die Bestrebungen dieser Vereinigung, der sich acht Jahre später der Veroneser Dichter, Humanist und Diplomat Marchese Scipione Maffei, angeschlossen hat, um deren leitende Ideen auch in seiner Vaterstadt zu propagieren. Das war also 1698. Neunzig Jahre später wird in Rom ein Dokument dieser Gesellschaft, die sich kurz „Arcadia” nannte, mit einem Siegel versehen, das eine mit Lorbeer- und Pinienzweigen geschmückte Hirtenflöte trägt, und die Aufnahme eines neuen Mitglieds bestätigen soll; Megalio Melpomenio ist sein Name, im profanen, nämlich „außerarkadischen” Leben: Johann Wolfgang von Goethe.

Ob Goethe anläßlich seines kurzen Aufenthalts in Verona im Jahre 1786 diese Zweigstelle der Arkadischen Akademie in Villa Giusti besucht hat, ist uns nicht bekannt. Hingegen wissen wir, wie sehr ihn das Amphitheater beeindruckt und begeistert hat, und wie hoch er das Kunstverständnis der Veroneser und ihren Opfersinn einschätzte, der imstande ist, ein solches Riesenwerk durch die Jahrhunderte hindurch am Leben zu erhalten:

„Wegen der Unterhaltung dieses Werks müssen die Veroneser gelobt werden. Es ist von-einem, rötlichen Marmor gebaut, den die Witterung angreift; daher stellt man der Reihe nach die ausgefressenen Stufen immer wieder her, und sie scheinen fast alle ganz neu. Eine Inschrift gedenkt eines Hieronymus Maurigenus und seines auf dieses Monument verwendeten unglaublichen Fleißes. Von der äußeren Mauer steht nur ein Stück, und ich zweifle, ob sie je ganz fertig geworden ist. Die untern Gewölbe, die an den großen Platz, 11 Brä genannt, stoßen, sind an Handwerker vermietet, und es sieht lustig genug aus, diese Höhlungen wieder belebt zu sehen.”

Vom ersten Augenblick an hat Goethe das ganze Geheimnis dęr Arena erfaßt:

„Als ich hineintrat, mehr noch aber, als ich oben auf dem Rand umherging, schien es mir seltsam, etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen. Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll von Menschen… Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum bestell zu haben.”

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