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Die Wacht am „kleinen Rhein“

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Einöd heißt die Bahnstation, in der ein Beamter in der blauen Uniform der Saarpolizei und ein französischer Zöllner leibhaftig ankündigen: Hier beginnt ein kleines Land, das, dessenungeachtet, die große Politik viel beschäftigt. Einöd: der Name ist bezeichnend. Schon die letzte Stunde Bahnfahrt durch die westliche Pfalz zeigte eine herbe Landschaft. Nun wird das Land noch karger. Vergleiche mit Teilen des niederösterreichischen Waldviertels drängen sich dem österreichischen Besucher auf. Verschlossen wie ihre Heimat sind auch die Gesichter der Reisegenossen. Mitunter verschwinden sie ganz hinter ihren Zeitungen. Aus den in fetten Buchstaben gesetzten Ja- oder Nein-Parolen auf den Titelseiten mag man erraten, was im Inneren dieser Menschen, die seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen, vorgeht. Bei St. Ingbert fällt Nebel ein, kurz vor Saarbrücken beginnt es zu regnen. Die grauen Herbstwolken vermengen sich hier mit den Rauchschwaden aus den Schloten der großen Industrien zu einer grauen, undurchsichtigen Wand.

Die Wand bleibt. Auch als am nächsten Tag die Wolkendecke zerreißt und einem späten sonnigen Herbsttag Platz macht. Jener Nebel, der sich in den Wochen vor dem 23. Oktober — dem Tag, an dem die eine knappe Million zählende Saarbevölkerung aufgerufen ist, über das zwischen Adenauer und Mendes-France seinerzeit abgesprochene „Europäische Statut“ zu entscheiden — immer dichter über das Land an der Saar gelagert hat, ist von den Hoch und Tiefs der Meteorologie kaum beeinflußt. Es ist ein dichter Schleier, gewoben aus vorgefaßten Meinungen und emotionalen Regungen, aus Parolen und Gegenparolen, aus Mißtrauen und euphorischen Hoffnungen, der dem um ein objektives Erfassen der Situation bemühten Fremden jede klare Sicht nimmt.

Seit wann gibt es eigentlich eine „Saarfrage“? Der in der Geschichte seiner Heimat bewanderte junge saarländische Historiker hat sofort eine Antwort. Der Name Richelieu fällt, und die Erinnerung an den großen französischen. Staatsmann verbindet sich mit jener an die jahrhundertewährende Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland um den Rhein. War dem Streben der geistigen Nachfahren des Kardinal-Kanzlers nach dem Rhein eine Grenze gesetzt, dann trachteten sie stets, wenigstens „den kleinen Rhein“ zu halten. „Le petit Rhin“ aber ist nichts anderes als die in ungezählten Schleifen und Krümmungen von den Bergen Lothringens zur unteren Mosel fließende Saar. So war es schon in den Zeiten der Reunionskriege, so war es auch in den Tagen Napoleons, dessen getreuester Marschall, Ney, in eben jenem Saarlouis geboren worden war, das der geniale Festungsbaumeister des Sonnenkönigs, Vauban, einst als Sperrfort vor Frankreichs Fluren gebaut hatte. Das 19. Jahrhundert scheint die Grenze zu stabilisieren. Doch der Friede, in dem das zwischen der preußischen Rheinprovinz und der bayrischen Pfalz aufgeteilte Land an der Saar schlummert, ist trügerisch. Wie so vielen anderen Ländern bringt die große Industrierevolution dem Saarland Heil und Unheil. Seit die großen Schlote an der Saar rauchen, der Bergmann hier in die Grube fährt und die Hämmer der Eisenwerke ihren Takt schlagen, ist es aus mit der Ruhe im Lande. Die Schwerindustrie an der Saar wird zum Zünglein an der Waage des industriellen Kräftepotentials Deutschlands und Frankreichs. Ein neuer, gewichtiger Grund mehr für das französische Sicherheitsbedürfnis, das 1918 im Elsaß den „großen“ Rhein wieder erreicht hat, auch den „kleinen“- Rhein nicht aus den Augen zu verlieren. Im Zeitalter des Völkerbundes erfüllen ein Mandat und eine in 15 Jahren in Aussicht gestellte Volksabstimmung dieselben Aufgaben wie unter Ludwig XIV. Sperrforts und feste Plätze. Was weiter geschah, ist allgemein bekannt. Die Reaktion des deutschen Nationalismus läßt — als die Volksabstimmung 1935 durchgeführt werden soll, ist Herr Hitler Reichskanzler — an Schärfe nichts zu wünschen übrig. Von ihr wird alles mitgerissen. Selbst die Kommunisten geben die Parole aus, für den Anschluß an Deutschland zu stimmen — obwohl sie wissen müssen, daß dieser Anschluß für sie Verfolgung und Konzentrationslager bedeuten w rd ... Alles übrige besorgt Gauleiter Bürckel, der hier in der „Westmark“ sich für seine größeren Aufgaben in der ,“,Ostmark“ qualifiziert...

Der Rausch der „Heim-ins-Reich“-Stimmung ist kurz. 1939 wird das ganze Saarland „rote Zone“, tief fressen sich die Bagger in die Erde: der „Westwall“ ersteht. Mit Kriegsbeginn wird die Bevölkerung der großen Industriestädte evakuiert. Ihr Hab und Gut bleibt zurück. Was Plünderer verschonen, vernichten 1943 die amerikanischen Bomben. 1945 gleichen die Städte an der Saar Mondlandschaften. Und das Wunder geschieht. Kaum ist der letzte Schuß des zweiten Weltkrieges verhallt, so setzt aus allen Richtungen der Windrose eine große Völkerwanderung ein. Die evakuierten Frauen und alten Leute, die aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Männer: sie alle wissen, wq sie wieder zusammentreffen werden — in der Heimat. Auf Militärlastwagen und in Viehwaggons, oft auch zu Fuß vollzog sich die große Heimkehr von Hunderttausenden. Aus der „Heim-ins-Reich“-Parole war die Losung „Heim an die Saar“ geworden.

Deswegen konnte der einstige Redakteur Johannes Hoffmann wohl mit der Unterstützung breiter Kreise der Bevölkerung rechnen, als sich seine unter Billigung der französischen Militärregierung konstituierte Zivilverwaltung vor allem dem „primum vivere“ verschrieb und alle staatsrechtlichen Ueberlegungen zurückstellte.' Während an der Ruhr und in anderen deutschen Industriezentren noch die ajliierten Demontagekommissionen an der Arbeit waren, begannen an der Saar bereits wieder die Schornsteine zu rauchen. Die Letzten wurden die Ersten. Früher als im „Reich“ begann sich das Leben an der vom Krieg schwer heimgesuchten Saar wenigstens halbwegs zu „normalisieren“.

Da es nun einmal im Zusammenleben zwischen den Staaten keinen Altruismus gibt, so präsentierte Frankreich, zu dessen Saarspezialisten bis dahin Gilbert G r a n d v a 1 geworden war, 1947 seine Rechnung: Zoll- und Währungsunion der Saar mit Frankreich bei politischem Eigenleben. Seitdem gibt es eine Saarregierung, Saarbriefmarken, eine Saareisenbahn und sogar eine Saar-Tabakregie“. Ueber allem weht das weiße Kreuz auf blauem und rotem Felde: die Saarflagge.

Das Fundament der Regierung ist die Christliche Volkspartei des Ministerpräsidenten Hoffmann, die im Landtag eine absolute Mehrheit hat. Neben ihr sind in dieser Körperschaft auch noch die saarländischen Sozialisten vertreten, die Kommunisten vegetieren am Rande.

Diese politische Farbenpalette, die wir in so Vielen europäischen Ländern antreffen, wurde in den letzten Monaten erheblich bunter. Zu den genannten Parteien, die als Träger des saarländischen Autonomiegedankens bisher allein zugelassen waren, gesellten sich nun, gemäß dem Abkommen zwischen Adenauer und Mendes-France, das eine völlige politische Bewegungsfreiheit an der Saar vorsah, Parallelparteien. Der Saarländischen Christlichen Volkspartei trat eine „prodeutsche“ CDU entgegen. Dasselbe ereignete sich bei den Sozialisten. Radikalere Elemente zieht die neue prodeutsche Demokratische Partei Saar des Dr. Schneider an, der kein Hehl daraus macht, daß er im Saarkampf 193 5 die braune Uniform getragen hat.

Diese „prodeutschen“ Parteien lehnen das neue „Europäische Statut“, über das am kommenden Sonntag abgestimmt werden soll, als eine „Verewigung der Trennung von Deutschland“ ab. Die Saarparteien plädieren für eine Annahme. Sie weisen auf die großen wirtschaftlichen Vorteile hin — der Sitz der Montanunion soll bei einer Annahme des Statuts von Luxemburg nach Saarbrücken verlegt werden '— und auch darauf, daß eine endgültige Regelung der Saarfrage ja ausdrücklich einem Friedensvertrag der einstigen Alliierten mit Deutschland vorbehalten sei.

Was immer auch um das Statut herumargumentiert wird: der oft in häßliche persönliche Attak-ken ausartende Streit wurde prompt auf eine andere Ebene getragen. Es geht den bis vor kurzem verbotenen Parteien vor allem darum, ein Mißtrauensvotum gegen den Ministerpräsidenten und sein Regime zustande zu bringen. „Der Dicke muß weg!“ Diese massive Anspielung auf die Leibesfülle des saarländischen Regierungschefs ist der Slogan, hinter dem alle juristischen und wirtschaftlichen Argumente gegen das Saarstatut im Schatten bleiben.

Verkehrte Welt! Diesen Eindruck wird der Beobachter nicht los. Die Saarparteien — von ihren Gegnern gern „Separatisten“ genannt, wofür sie sich ebenfalls mit dem Pauschalurteil „Nationalisten“ für ihre Widersacher revanchieren — agitieren mit allen Kräften für das Statut. Und das, obwohl sie wissen, daß die bei einer Annahme des Statuts .auszuschreibenden, freien Landtagswahlen ihnen auf jeden Fall eine mehr oder weniger starke Einbuße bringen werden. Die „prodeutschen“ Parteien hingegen bekämpfen auf Tod und Brand das Statut-— und damit die Landtagswahlen, die ihnen Chancen geben, „den Dicken“ wegzubringen. Wird nämlich das Statut abgelehnt, so fallen damit im gegenwärtigen Zeitpunkt auch die Landtagswahlen und — „loho“ bleibt.

An dieser Tatsache läßt der saarländische Ministerpräsident auch keinen Zweifel, als der Verfasser ihm im Gebäude des saarländischen Landtages gegenübersitzt... Seine korpulente Gestalt kennt an der Saar jedes Kind, ebenso die charakteristische schwarze Hornbrille mit den viereckigen Gläsern. Die Anstrengungen der letzten Wochen sind an Johannes H o f f m a n n nicht spurlos vorübergegangen. Er ist in der Defensive. Dennoch wird auch von Kritikern des Kurses Hoffmanns zugegeben, daß der Ministerpräsident seiner Umgebung an politischer Durchschlagskraft und Vitalität eine gute Spanne voraus ist. Um seine Wahlprognose braucht man ihn nicht zu fragen. Johannes Hoffmann ist optimistisch. Mit Nachdruck - vielleicht sogar etwas zu viel Nachdruck, um nicht Gedanken an Zweckoptimismus in dem Besucher zu erwecken. Ueber die Möglichkeit des negativen Ausganges der Abstimmung wird gar nicht gern gesprochen. Dennoch: die Verfassung sei in Kraft, seine Regierung hätte in einem solchen Falle keinen Grund, zurückzutreten. Alles andere sei Sache von neuen Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich, lind ob Frankreich dazu so schnell bereit seih würde, bezweifelt der Ministerpräsident — und wir sind in diesem Punkt mit ihm einer Meinung. Die Spaltung des christlichen Volkes - zu der Partei Hoffmanns und der CDU hat sich noch die Christlichsoziale Union hinzugesellt, die für das Statut aber gegen Hoffmann ist — wird von dem Besucher bedauert. Hier hat der Ministerpräsident seine eigene festgefahrene Meinung: seine Partei stehe fest, die aridere - gemeint ist hauptsächlich die- CDU - sei ein Sammelb. cken der Zukurzgekommenen: „Politische Ehrgeizlinge, Schulmeister, die nicht befördert wurden, Polizeianwärter, die um zwei Zentimeter zu klein für ihre Einstellung waren, ehemalige Nationalsozialisten .. .“

Der oft ins Persönliche abgleitende Wahlkampf wird von uns bedauert. Hier zeigt Johannes Hoffmann — selbst Zielscheibe täglicher Angriffe — ohne Zweifel Format. Die Verfälschung der Fragestellung ärgert ihn mehr. Der Grundtenor seiner Worte: Sie mögen mich ablehnen, aber ja zum Statut sagen.

Nach einem Besuch bei dem „Separatisten“ Hoffmann — um in der Terminologie des Wahlkampfes an der Saar zu bleiben — war es natürlich auch verlockend, den „Nationalisten“ Dr. Hubert Ney aufzusuchen.

In der Dudweilerstraße, dem Hauptquartier der CDU, empfängt uns der Chef dieser zweifelsohne interessantesten „prodeutschen“ Partei.

Der aus derselben Stadt wie sein großer Namensvetter im Dienste Napoleons stammende

62jährige Rechtsanwalt streckt einem die linke Hand entgegen — die rechte blieb im ersten

Weltkrieg. Der Grundtenor seiner Worte: Wir sind nicht so wilde Männer, wie man es in der Zeitung liest. Das Hauptziel seiner Bestrebungen: Die Fortsetzung des Besatzungsstatuts unter einem europäischen Mantel — so „Le Monde“ — zu verhindern. Dr. Ney, der in seiner Argumentation den gewandten Mann des Plaidoyers verrät, ist klug genug, zu wissen, daß die Frage „Rückkehr der Saar zu Deutschland“ im gegenwärtigen Zeitpunkt'g ar nicht aufgerollt werden kann, ohne zu einem Bruch zwischen Frankreich und der Bundesrepublik und damit auch zum Ende der Westeuropäischen Union zu führen. Er bekennt sich als Realist. Wer es hören will, dem versichert er auch, daß ein Wiederaufleben der „Heim-ins-Reich“-Parole ihn keineswegs begeistern würde.

Hier hakt der Verfasser ein. Er kann es nicht unterlassen, zu fragen, ob die CDU-Saar njeht unter Umständen von den zur Zeit hochgehenden Wogen in einen Kurs abgedrängt wird, der ihr nicht lieb sein kann. Dr. Ney glaubt seine Partei davor gefeit. Und wie um dies zu bekräftigen, betont er zum Abschied ausdrücklich: „Wir müssen alles vermeiden, was Frankreich verletzt.“

Wie wird die Abstimmung am Sonntag ausgehen? Diese Frage gilt einem Arbeiter in dem oft genannten Röchling-Werk. Mit Ueberzeugung antwortet dieser: 60 zu 40. Und verschmitzt setzte er hinzu: „Die Frage ist nur, ob für Ja oder für Nein.“

Träge fließt die Saar. Wohin? Nach Europa, sagen die einen — doch Europa ist weit. Und die „Wacht am kleinen Rhein“ ist eine wenig schöne Melodie — gleichgültig, ob sie aus deutschen Waldhörnern erklingt oder aus französischen Chirons geschmettert wird.

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