6629295-1956_28_01.jpg
Digital In Arbeit

„Die Welt zerbricht“

Werbung
Werbung
Werbung

„Casca il mondo — die Welt zerbricht.“ Diese Worte, die der päpstliche Staatssekretär Kardinal Antonelli ausrief, als er die Nachricht von der Niederlage der Oesterreicher bei Königgrätz am 3. Juli 1866 erhielt, sind seither berühmt geworden, ohne daß allerdings der Formulierung dieser Worte immer eine genaue Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Und doch verdient diese Formel eine besondere Beachtung. In seinem Erschrecken rief der Kardinal nicht aus „Eine Welt zerbricht“, sondern „D i e Welt zerbricht“. Für diesen römischen Kurienkardinal um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es noch immer eine Selbstverständlichkeit, daß das alte Römische Reich, das „Heilige Römische Reich“, in dem Frieden und Ordnung und Freiheit der Völker herrschten, die beste aller politischen Welten sei. Zwar gab es dieses „Römische Reich“ nicht mehr, noch aber lebte die Donaumonarchie mit ihren weiten Verbindungen zur deutschen, italienischen und slawischen Welt und bildete einen letzten Hort dieser „römischen“ Idee von der Gemeinschaft der Völker, von einem Vereinten Europa. Die Niederlage bei Königgrätz mußte dieses Oesterreich zutiefst verwunden und beinahe unfähig machen, seiner Aufgabe künftig gerecht zu werden, mußte das Auseinanderfallen dieses Europa mit sich bringen. Die Jahrzehnte, die seit Königgrätz verflossen sind, beweisen nur, daß die Worte, die aus dem Unterbewußtsein des Kardinals sprangen, von visionärer Kraft waren. Es zerbrach tatsächlich nicht irgendeine Welt, sondern d i e Welt des alten Europa schlechthin.

Mit Königgrätz zerbrach die deutsche Welt. Denn nicht die Habsburgermonarchie ist der erste und große Verlierer der Schlacht bei Königgrätz, sondern der größte Verlierer ist das deutsche Volk. Bismarck, der entschlossen war, Selbstmord zu begehen, falls die Schlacht bei Sadowa verlorengehen sollte, führte durch den Sieg der preußischen Waffen in eben dieser Schlacht das deutsche Volk auf eine Straße, die es schließlich in einen Abgrund führte. Mit Königgrätz schwenkte das deutsche Volk verhängnisvoll auf die „Blut-und-Eisen“-Straße ein. „Durch die Politik Bismarcks wird aus dem deutschen Volk eine dressierte Herde, die sich gedankenlos treiben läßt“, schrieb die spätere Kaiserin Friedrich, eine der wenigen, die sich nicht durch die Erfolge der Bismarckschen Politik täuschen ließ. Mit Königgrätz begann die fatale Preußifizierung Deutschlands und damit seine Enthumanisierung. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde oft in Deutschland der Satz gesprochen, Hitler sei Oesterreichs Revanche für Königgrätz. Die Wirklichkeit liegt anders. Hitler war nur möglich durch Königgrätz. Er fand in dem „Blut-und-Eisen-Deutsch-land“ jene willenlose und militärisch gefügige Masse vor, die bereit war, gläubig seinen Parolen zu folgen.

Ohne Königgrätz hätte es keine Kaiserproklamation zu Versailles gegeben, jene Schimäre eines Kaisertums, die Wilhelm I. richtig als „Charaktermajor“ bezeichnete. Ohne dieses Versailles hätte es nicht den „Schmachfrieden“ von Versailles gegeben, ohne dieses Versailles keinen Hitler, ohne Hitler keine Katastrophe von 1945. So hängt diese schauerliche Niederlage des deutschen Volkes, die ihm unendlich viel Menschen, unendlich viel Raum, unendlich viele Güter raubte, aufs engste zusammen mit der Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz. Sie ist ein Beweis dafür, wie sehr Oesterreichs Kampf von 1866 nicht ein Kampf gegen Deutschland, sondern für Deutschland war, allerdings für jenes andere Deutschland, das immer die Besten der Nation gesucht hatten. Grillparzer, der ewig Unzufriedene, hatte nur allzurecht, als er den Siegern zurief: „Ihr glaubt, ihr habt ein Reich geboren und habt doch nur ein Volk zerstört.“

Der zweite große Verlierer der Schlacht von Königgrätz ist das italienische Volk. Denn ähnlich wie aus Deutschland, zog sich Oesterreich nach dieser' Niederlage auch gänzlich aus Italien zurück. Und damit begann das Unglück Italiens. Selbst die größten Anhänger des Risorgimento geben heute zu, daß das Verschwinden der österreichischen Verwaltung aus Italien einen kulturellen Verlust dr Nation bedeutete. Im großen Werk über die faschistische Revolution wird die österreichische Verwaltung als die gerechteste bezeichnet, die Italien je besaß. Pius X., als geborener Vene-tianer ehemals österreichischer Untertan, dessen Bruder im Jahre 1866 als Wachtmeister in der österreichischen Armee Dienst tat, erinnerte sich noch im Alter der Wohltat dieser österreichischen Administration.

Aber nicht der Verlust der an sich so schätzbaren Verwaltung war das eigentliche Unglück, das Königgrätz Italien bescherte. Dieses lag auf einem anderen Gebiet: Aehnlich wie Deutschland fieberte auch Italien seit Jahren seiner Einigung entgegen. Der Wunsch der beiden Nationen nach Einigung war begreiflich und gerecht. In Deutschland hatten es die Liberalen 1848 und die Fürsten 1863 versucht. Beidemal war Oesterreich maßgeblich an den Einigungsbestrebungen beteiligt gewesen. Beidemal hatte sie Preußen torpediert. Auch in Italien mußte es von ausschlaggebender Bedeutung sein, wer die Einigung herbeiführen werde: die konservativen Kräfte, die gemäßigten Liberalen, die Anhänger der Kirche oder die Radikalen, die Freimaurer, die Anhänger Garibaldis, dieses pathologischen Kirchenhassers, die Anhänger Mazzinis: Königgrätz entschied endgültig zugunsten der letzteren. Und damit fiel auch Italien einem Nationalismus in die Arme, der ihm den 60jährigen Streit um die „römische Frage“ brachte, ihm eine schlechte Zentralverwaltung bescherte und das italienische Volk zuletzt auf die „Blut-und-Eisen“-Straße Mussolinis, dieses letzten großen Schülers Mazzinis, führte. So ist auch die Katastrophe Italiens vom Jahre 1945 nur noch das Ende der Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz.

Der dritte große Verlierer der Schlacht bei Königgrätz sind die Nationen, die die Donaumonarchie bewohnten. Bismarck wußte nur zu genau, auf welche Weise man dieses Oesterreich am tiefsten verwunden könne: durch ein Hineintreiben der einzelnen Nationen in einen sinnlosen, egoistischen Nationalismus, der sie den Weg aus der Monarchie nehmen ließ und diese pulverisieren mußte. Bismarck hat diesen Weg nicht verschmäht.

Die Fäden/die er in diesem Jahr 1866 zu den österreichischen Nationen spann, waren weitreichend. Sie gingen bis zu den Rumänen und Seiben. Er verschmähte es nicht, die Italiener aufzufordern, Garibaldiner in Dalmatien landen zu lassen, die dort einen ungarischen Aufstand entfesseln sollten, dem Truppen, gebildet aus kroatischen und ungarischen' Ueberläufern aus Nordungarn, zu Hilfe kommen sollten. Er verschmähte es nicht, an der Seite der preußischen Truppen die Klapkalegion, eine Truppe aus habsburgischen Untertanen, gegen Habsburg marschieren zu lassen. Er verschmähte es nicht, durch einen unbedeutenden tschechischen Revolutionär aus dem achtundvierziger Jahr eine Proklamation an das tschechische Volk verfassen zu lassen, in der von den „gerechten Wünschen“ der Tschechen nach Selbständigkeit gesprochen wurde.

Bismarck wußte anderseits nur zu gut, daß ein Auseinanderfallen der Habsburgermonarchie für die einzelnen Nationen derselben eine Katastrophe sein mußte. Schon 1866 bewies er seinem König in Nikolsburg, daß alle neuen Bildungen auf dem Gebiet der Donaumonarchie nur dauernd revolutionärer Natur sein könnten und die einzelnen Nationen nicht wirklich frei, sondern nur in Abhängigkeit der verschiedenen Mächte bringen müßte. -

Aber seine „Nationalitätenpolitik“ von 1866 fand gelehrige Schüler. Die Alliierten des ersten Weltkrieges kopierten sie fast vollständig und zerstörten damit endgültig die Monarchie.' Und damit begann der Marsch der einzelnen Nationen ins Elend. Ueber kurz oder lang wurde eine jede die Beute eines Mächtigen. Die angebliche Befreiung aus dem „Völkerkerker“ führte die meisten, die Tschechen, die Ungarn, die Polen, die Kroaten, die Rumänen in wirkliche Völkerkerker der Jahre nach 1945. So ist die Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz der Anfang des Niederganges seiner Nationen.

,,Bei Königgrätz starb nicht nur das alte Reich“, schreibt Heinrich Ritter von Srbik, ein sicherlich gewichtiger und unverdächtiger Zeuge, in seinem Werk „Deutsche Einheit“, „es starb auch das alte Mitteleuropa und das alte Europa.“ Es starb mit einem Wort die Idee des Vereinten Europa. Der römische Kardinal sah recht, wenn er ausrief, daß die Welt zerbreche. Jahrzehnte mußten vergehen, ehe die Nationen begriffen, daß die. Niederlage Oesterreichs bei Königgrätz ihnen nicht die Freiheit gebracht, sondern Elend und Unfreiheit. .Und daß der Ausweg aus diesem Elend im Zusammenschluß der Völker zu einem Imperium, zu einer Commonwealth der Nationen, zu suchen sei, daß die besten Ideen des alten römischen Imperium, des „Heiligen Reichs“, den Frieden, die Ordnung, die Freiheit der Völker in der Gemeinschaft in sich vereinen müsse. Erst wenn dieser Zusammenschluß gelungen sein wird, werden die Folgen von Königgrätz überwunden sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung