6674971-1961_17_06.jpg
Digital In Arbeit

Die „zweite Gründung Roms“

Werbung
Werbung
Werbung

Italien erfüllt in diesem Frühjahr das erste Zentenar seiner Existenz, doch an welchen Augenblick, an welches Ereignis soll es anknüpfen, wenn es heute das vollendete Jahrhundert feiern will? Ein kurioses Dilemma, dem sich Regierung und Parteien nicht entziehen konnten, denn das Gedenken seiner eigenen Geburt will Italien mit vielen lebendigen Beziehungen an seine Gegenwart begehen, nicht in bloßen historischen Reminiszenzen, aber gerade diese Beziehungen können auch unbequem werden. So wäre es logisch, den Tag der Proklamation des Königreichs Italien, den 14. März 1861, für einen solchen festen Punkt zu nehmen. Doch der Gegensatz Monarchie—Republik ist immer noch nicht überwunden, und die offizielle Erinnerung an die entscheidende Mitwirkung des Hauses Savoyen an der italienischen Einigung könnte inopportun erscheinen. So wählte man als Beginn des Zyklus der Zentenarfeierlichkeiten lieber den 27. März, obwohl er ein Ereignis zweiter Ordnung bezeichnet: Am 27. März 1861 antwortete der Ministerpräsident König Viktor Emanuels II., der Graf Camillo Benso di Cavour, auf eine parlamentarische Anfrage, Rom sei die natürliche Hauptstadt des neuen Reiches. In dem Augenblick, da Cavour seine Erklärung abgab, wußte er, daß die Verhandlungen mit dem Papst gescheitert waren. Die Aufforderung an Pius IX., gegen alle Garantien freiwillig auf die weltliche Herrschaft im Kirchenstaat zu verzichten, der einzige Landesteil neben dem noch in österreichischer Hand befindlichen Venetien, das der italienischen Oberhoheit entzogen war, hatte kein Echo gefunden. Latium und Venetien blieben die Ziele der Politik Cavours.

Das erste Parlament des geeinigten Italien, das sich im Frühling 1861 im Palazzo Carignano in Turin versammelte, bestand aus 443 Abgeordneten. Zwei Jahre zuvor waren es nur 204 gewesen. In diesen zwei Jahren hatten sich die Ereignisse überstürzt: Den Österreichern war nach den gemeinsam mit den Franzosen geschlagenen Schlachten von Magenta, Solferino, San Martino die Lombardei abgenommen worden: der Freischarenführer Giuseppe Garibaldi hatte mit seiner Expedition der „Tausend“ (in Wirklichkeit waren es 1072 gewesen, in der Mehrzahl Norditaliener) in unbegreiflicher und ans Wunderbare grenzenden Schnelligkeit das morsche und korrupte Königreich beider Sizilien von der Westspitze Siziliens her auf- gerollt und hatte in der Schlacht am Volturno am 1. und 2. Oktober 1860 das Schicksal der Bourbonen besiegelt. Cavour, für die monarchische Orientierung der weiteren Entwicklung bangend, hatte dem Papst ein Ultimatum gestellt, war aber, ohne auch nur die Antwort abzuwarten, in den Marken und in Umbrien eingefallen und hatte diese Gebiete des Kirchenstaates annektiert. In den Herzogtümern Parma, Modena und in der Toskana hatten die einheimischen Aufständischen die Rückkehr ihrer Potentaten verhindert, die nach dem piemontesisch-französischen Sieg von 1859 geflohen waren, und ihren Anschluß an Piemont erklärt. In allen diesen Regionen hatte man rasch Volksabstimmungen abgehalten, um vor aller Welt die Einheitlichkeit des Volkswillens zu demonstrieren. Die Abgeordneten der neuen Reichsteile saßen nun im Palazzo Carignano.

Es muß zugestanden werden, daß die in Büchern und in der Presse anläßlich der Jahrhundertfeier wachgerufenen historischen Erinnerungen zum erstenmal nicht mehr der auch an Geschichtsfälschungen nicht vorbeigehenden Schönfärberei folgen, welche die Behandlung des Risorgimento und besonders des Anteils der Savoyenkönige an ihm während der Monarchie gekennzeichnet hat. Eine der Legenden ist durchweg zerstört worden, nämlich die, daß die führenden Männer der italienischen Einigung, von gemeinsamen Idealen beseelt, einträchtig dem großen Ziel zugestrebt hätten. In Wirklichkeit gab es nicht nur zwischen Garibaldi, Mazzini und Cavour tiefwirkende Gegensätze, sondern auch zwischen Cavour und seinem König Viktor Emanuel selbst. Eine zweite Legende bestand darin, die Geschichte des Risorgimento so darzustellen, als ob der Mithilfe ausländischer Mächte, Englands, Preußens und vor allem Frankreichs, nur eine Nebenrolle zugekommen sei, während es in Wirklichkeit der militärische Beitrag der Franzosen und Preußen war, der die Geschicke entscheidend zugunsten der Italiener beeinflußte.

Ein europäisches Problem

Cavour hatte nicht so unrecht, wenn er die Ernennung Giuseppe Verdis zum Abgeordneten im ersten italienischen Parlament mit dem banalen Scherz befürwortete: „Italien und die Kammer bedürfen der Harmonie.“ Ein Jahr zuvor war es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm und Garibaldi gekommen, dessen letzte Ursachen weit zurückreichen. Nach dem unglücklich verlaufenen Feldzug des Königs Carlo Alberto von Sardinien und Piemont gegen die Truppen des österreichischen Generals Radetzky im Jahre 1849, nach der verlorenen Schlacht von Novara, die ihm den Thron kostete, war man sich darüber im klaren geworden, daß das geordnete und opferwillige Piemont allein viel zu schwach sei, um den Kampf mit einem so übermächtigen Gegner wie Österreich aufzunehmen. Die Einigung Italiens und Deutschlands ist ungefähr zur selben Zeit vollendet worden, aber die Vorbedingungen waren durchaus verschieden. Deutschland vollbrachte sie aus eigener Kraft und nur gegen den Widerstand dynastischer Interessen seitens der Landesfürsten; Italien errang sie nur dank fremder Hilfe, denn seine Einheit stieß gegen die Interessen einer Großmacht. Cavour hat daher seine Politik von Anfang an darauf gerichtet, das Problem . der Einigung Italiens zu einem europäischen Problem zu machen. Er führte Piemont auf die Schlachtfelder der Krim, um ihm dort Freundschaften und Verbündete für seinen eigenen Krieg zu finden. Die Früchte reiften im Jahre 1858, als er sich mit Napoleon III. in Plombiėres traf, um mit dem Kaiser der Franzosen gemeinsam die Grundlagen für die piemontesisch- französische Allianz zu schaffen. Der Preis für die Intervention Frankreichs waren Savoyen und die Grafschaft Nizza; Cavour übernahm die undankbare Aufgabe, die Gebietsabtrennungen nach Beendigung des Feldzugs von 1859 im Parlament zu rechtfertigen. Es mochte noch für Savoyen hingehen, das zwar nicht historisch, aber der Kultur und der Sprache nach französisch war. Aber Nizza? Auf die insolente Bemerkung Cavours, Nizza habe die Sprache, die Sitten und die Aspirationen französisch orientiert, erhob sich Garibaldi, bleich vor Zorn, und verfluchte die Regierung, die ,,Bevölkerungen wie Herdenvieh verhandelte“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung