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Dionysos im Frack

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Prosa, Dramen, Verse. Von Frank Wedekind. 969 Seiten. Preis 28.80 DM. — Selbstdarstellung aus Briefen und anderen Dokumenten. Von Frank Wedekind. 90 Seiten. Preis 3.80 DM. — Frank Wedekind. Von Friedrich Gundolf. (Aus dem Nachlaß.) 69 Seiten. Preis 3.80 DM. Sämtliche bei Albert Langen-Georg Müller, München 1954

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Prosa, Dramen, Verse. Von Frank Wedekind. 969 Seiten. Preis 28.80 DM. — Selbstdarstellung aus Briefen und anderen Dokumenten. Von Frank Wedekind. 90 Seiten. Preis 3.80 DM. — Frank Wedekind. Von Friedrich Gundolf. (Aus dem Nachlaß.) 69 Seiten. Preis 3.80 DM. Sämtliche bei Albert Langen-Georg Müller, München 1954

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Franklin Wedekind, 1864 in Hannover geboren, verdankt seinen fremdartigen Vornamen dem Umstand, daß sein aus einer ostfriesischen Beamtenfamilie stammender Vater nach einem zehnjährigen Aufenthalt in der Türkei 15 Jahre in San Franzisko gelebt hatte, bevor er, im Geburtsjahr des Dichters, nach Deutschland zurückkehrte. Frank Wedekind wuchs auf Schloß Lenzburg im Aargau auf, fand erste Beschäftigung bei der Neuen Zürcher Zeitung, war als Reklamechef für „Maggi" tätig, reiste mit dem Zirkus Herzog, begleitete erst einen Feuermaler, nachher den Bilderhändler Gretor, trat als Rezitator Mine-Haha in der Schweiz auf, wurde Mitbegründer des „Sim- plizissimus" in München, war Sekretär, Schauspieler und Regisseur des „Ibsen-Theaters" in Leipzig und München, kam 1899 wegen Majestätsbeleidigung auf die Festung Königstein, trat als Rezitator bei den „Sieben Scharfrichtern" auf — und schrieb Stück auf Stück. Die 1920, zwei Jahre nach seinem Tod, begonnene Gesamtausgabe umfaßt neun Bände. — Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm: Franklins Großvater mütterlicherseits könnte vom Dichter erfunden sein: dieser Heinrich Kammerer war ein ungarischer Mausefallenhändler, Gründer einer chemischen Fabrik in Ludwigsburg in Schwaben, erfand die Phosphorzündhölzer, betätigte sich als politischer Verschwörer und starb in geistiger Umnachtung. Die bohemehaften, unbürgerlichen Züge bestimmen also nicht zufällig das Bild des Dichters — und seiner Gestalten. Diese sind Außenseiter, Randerscheinungen der Gesellschaft: Verbrecher, Zuhälter, Literaten, abenteuernde Gräfinnen, Kokotten, Zirkusleute. Ihrem Wesen nach sind sie: Schönheitssucher, Panerotiker, Phantasten, Fürsprecher der totalen Emanzipation der Frau, Weltverbesserer und „Moralisten" aus Lust am Widerspruch. Das alles wirbelt in Wedekinds Szenen bunt durcheinander und täuscht orgiastisches Leben vor. Aber in Wirklichkeit sind sie arme Burschen und Luder, monotone, monomanische Puppen mit der Sprache einer verwirrten Zeit auf den hektisch roten Lippen.

Wedekinds Stücke waren zu Lebzeiten des Dichters von stofflichem Skandal umwittert, von Majestätsbeleidigungsanklagen und Sexuallärm umtobt. Man kann heute ruhig darüber sprechen. Wedekind war ein wacher, witternder, empfindlicher Mensch, der unter den Konventionen, den Gesellschaftslügen und der doppelbödigen Moral seiner Zeit persönlich gelitten hat. Seine Jugend stand unter der ersten, primitiven Wirkung von Nietzsches Philosophie, die ein Nein zu allen Zwängen und Konventionen verkündete. Er sah keine Ganzheit, sondern nur einen engen Ausschnitt der Wirklichkeit. Gegen diesen rannte er an, durchstieß ihn — und landete im Leeren. Seine Probleme heißen: Geschlecht und Besitz,

Liebe, Gewalt und Erwerb. „Er stieß sich stierköpfig an den Gleichnissen selbst und durchschaute sie nicht, er litt am Schein und hielt ihn für Trug.” Weib und Geld waren seine Fetische, dahinter gab es nichts, nur Tod und Grauen („Erdgeist", „Die Büchse der Pandora"). Er suchte nach einem archimedischen Punkt, um diese Scheinwelt aus den Angeln zu heben, und fand ihn in der Formel „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist!". Man muß bei ihm unterscheiden, was Uebetschuß einer Kraftnatur und was Opposition eines gereizten Literaten und weltschmerzlichen Freigeistes ist, was schließlich seiner geheimnisvollen, geschöpfhaften Natur entspringt. Hier ist er nicht nur abstoßend, sondern oft auch mitleiderregend, fast rührend. „Wedekind reichte als Gattungsgeschöpf näher als die meisten Literaten in die Geheimnisse des Uebergangs und Untergangs, doch brachte er als Individuum nur exzentrische, willkürliche, zufällige Begriffe davon in seine Schriften. Der Wirrwarr seines Nachdenkens über das, was ihn am wildesten anging, hat etwas Tragisches: sein Rütteln an den Gittern seines beschränkten Geistes mit den Kräften seiner genialen Natur" (Gundolf).

In „Frühlings Erwachen" darf man, neben den grellen Tönen, die ihn zum Vorläufer der expressionistischen und „aktivistischen" Schreidramatik machen, auch sein wirkliches, ernstes Anliegen nicht überhören: daß Naturnöte nicht in gesellschaftliche Konventionen umgelogen werden und daß man Gewächs nicht mit Gewäsch zudecken darf. Unter seiner Zerrissenheit, seinem inneren Zwiespalt und der Ausweglosigkeit seiner Dialektik leiden auch die meisten seiner Stücke. Die einzelne Szene — Witz an Witz, Pointe an Pointe reihend — ist wirkungsvoll, das Ganze öde, weil unorganisch. Denn die Einheit ist nicht durch das Schicksal der Gestalten, sondern lediglich durch die des diskutierten Problems gegeben. So wirken seine Stücke, darin denen von Wilde und Shaw ähnlich, wie eine Suite von Diskussionen. Und dann seine Sprache. „Er benutzt", sagte Friedrich Gundolf in einem aus dem Nachlaß veröffentlichten Vortrag, „die sämtlichen Kitschkonventionen der deutschen Epigonenliteratur, nicht ironisch, wie Wilhelm Busch, sondern herzhaft wie ein Bursch vom Land, der sie zum ersten Male vernimmt und ihnen traut, und gibt ihnen seine ungebrochene Fülle, seine Stimme mit . .. Goethes und Schillers seit drei Generationen abgegriffene Wendungen für das Wahre, Gute, Schöne oder das Furchtbare und Erhabene klingen, besonders in seiner Lyrik, wie Volkslieder eines Mannes, eines Jünglings, der die Klassiker und Romantiker treuherzig gelesen hat und ihrer Gedanken sich bedient mit abergläubischer Scheu und grinsender Gleichgültigkeit.“ Nicht minder kraß und für die Zeitgenossen schokierend war der Widerspruch zwischen Wedekinds agressiven Schriften und der äußeren Erscheinung des Dichters: die steife Höflichkeit und Zurückhaltung eines gemessenen Herrn mit eckigen Bewegungen von pedantischer Korrektheit empfand man wie einen neuen Hohn. Auch hier ein Mißverständnis. Denn diese „Maske" Wedekinds war — echt! In seinem letzten Stück „Die Zensur", das er „Theodizee in einem Akt" nennt, hat es sich der Dichter in der Auseinandersetzung zwischen Buridan- Wedekind und Dr. Cajetan Prantl, dem Sekretär des Beichtvaters Seiner Majestät, nicht leicht gemacht. Hier steht der Satz „Ich habe mein halbes Leben lang ohne Kunst gelebt. Ohne Religio« könnte ich nicht eine Minute leben!" Diesem Stück ist als Motto ein Ausspruch des Oberregierungsrates von Glasenapp vorangestellt: „Wenn sich der Wedekind einbildet, daß wir ihm seines Einakters ,Die Zensur' wegen ,Die Büchse der Pandora' freigeben, dann täuscht er sich gewaltig." Auch das ist echter Wedekind.

Der Verlag Langen-Müller, bei dem seinerzeit die erste Gesamtausgabe erschien, hat diese umfassende Auswahl, die alle wesentlichen Stücke nebst den Betrachtungen in Prosa enthält, besonders solid und elegant ausgestattet.

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