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Ein Monumental werk der Geschichtswissenschaft

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Im September des Vorjahres feierte das weltbekannte österreichische Staatsarchiv die zweihundertste Wiederkehr seines Gründungstages. Aus diesem Anlaß haben sich über Einladung des Generaldirektors dieser Fundstätte geschichtlicher Quellen, Leo San-tif allers, 84 führende Historiker von Rang vereinigt, um dem jubilierenden Institut durch Beiträge zu einer nach jeder Hinsicht großartigen Festschrift zu huldigen, die zugleich den heutigen hohen Stand der Geschichtswissenschaft widerspiegelt. Es sind Gelehrte aus zwölf Staaten, die sich dabei den begreiflicherweise im Vordergrund stehenden österreichischen Fachgenossen zugesellt haben. Im ersten vorliegenden Band sind die sogenannten Hilfswissenschaften der Geschichte vertreten: Archivistik, Paläographie und Diplomatik, Heraldik und Genealogie (im Inhaltsverzeichnis ein häßlicher Druckfehler!), Quellen und Quellenkunde. Der zweite Band wird erzählende Darstellungen erhalten.

Eine kurze Anzeige kann begreiflicherweise nicht den überreichen Inhalt des Werkes erschöpfen; s:'e vermag ihn nicht einmal anzudeuten. So seien nur ein paar Beiträge aus einer glänzenden Vielfalt herausgehoben. Der österreichische Gesandte in Moskau, Norbert v. B i s c h o f f, bietet eine ausgezeichnete Zusammenfassung über das Archivwesen der Sowjetunion, die der nichtslawischen Öffentlichkeit den Weg in ein ihr sonst verschlossenes Gebiet erschließt. Anton Largiader steuert einen ganz ausgezeichneten Überblick des schweizerischen Archivwesens bei. Die Arbeit Jakob S e i d 1 s über die Beamten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs im letzten Halbjahrhundert ist informativ wertvoll, trägt aber zu panegyrischen Charakter, der besonders im Verzicht auf jede Kritik an der politischen Tätigkeit Bittners hervortritt. Als erfreuliches Gegenstück erscheint die auf breiterem Hintergrund geschehene Würdigung des kostbaren dokumentarischen Nachlasses Berta v. Suttners durch A. C. Brechy-Vau-thier, der eindringlich den Wert dieses in Genf ruhenden Schatzes betont. Der bedeutende Aufsatz des Wiener Universitätsprofessors Karl P i v e c über „Paläographie des Mittelalters — Handschriftenkunde der Neuzeit“ beweist, wieviel kulturgeschichtliche und soziologische Erkenntnisse aus einem scheinbar trockenen Stoff zu gewinnen sind. Dem Fachmann beschert die Untersuchung desGrazer Diplomatikers Heinrich A p p e 11 über die Gründungsurkunden des Klosters Reun einen besonderen Genuß. Hans Pircheggers Artikel „über steirischeDiplome“ gibt mehr, als der Titel vermuten ließe, nämlich eine neue Version des Stammbaumes der Aribonen, jenes unter den Ottonen und den Saliern so berühmten Pfalzgrafengeschlechts. „Ein Wappenbuch Kaiser Maximilians I.“, das Gräfin Anna C o r e t h vorlegt, ist uns eine höchst interessante Quelle zu den romantischen Weltmachtträumen des Letzten Ritters, der sich an seines Vaters Wahlspruch hielt, Austriae est imperare orbi universo. Carl Äußerer, bis vor kurzem Leiter des Wiener Hofkammerarchivs, bestätigt sich in einem Aufsatz über die „Gando de Porta Oriola“ als der beste Kenner Trentiner Genealogie.

Den engeren Rahmen sprengt, ungeachtet des abgegrenzten Themas, der Beitrag des Bulgaren Ivan Dujcev über „Die Responsa Nicolai Papae ad Consulta Bulgarorum“. Mit Rührung lesen wir die Fragen, die der neubekehrte Bulgarenherrscher an den Papst richtet, um von ihm die Richtlinien eines sittlichen Lebens zu empfangen, vernehmen wir noch heute, nach über tausend Jahren, die gütige Weisheit eines Oberhirten, der sich zugleich als ein Träger des Fortschritts und der Moral fühlte. Professor Hanns Mikoletzky hätte bei seiner Charakteristik Bruns von Querfurt nicht an den grundlegenden polnischen Werken von Wl. Abraham, T. Wojciechowski, St. Zakrzewski beziehungsweise an den diesem großen deutschen Polenfreund gewidmeten monographischen Darstellungen von Koczy, Karwowski und Widajewicz vorüber sollen. Vielleicht wäre dann das Urteil des vorzüglichen Wiener Historikers anders ausgefallen. Die „Möglichkeit“ einer Verwandtschaft Brunos mit dem kaiserlichen Hause der Ottonen ist Gewißheit. Sie geht aller Wahrscheinlichkeit auf Otto den Erlauchten zurück, von dem Bruno über die Grafen von der Wetterau abstammt.

Kulturgeschichtlich reizvoll sind die Beiträge aus britischen Archiven, die wir Geof-frey Barraclough und R. B. P u g h verdanken. Der eine veröffentlicht anmutige Briefe der schönen, unglücklichen Elisabeth Stuart, der „Winterkönigin“, an ihren Vater Jakob I. von England, des William Clifton an seinen Bruder über eine Seereise nach

Jerusalem Anno 1676 und einen Hinweis auf eine fundamentale Quelle zur Wirtschaftsgeschichte: das Rechnungsbuch jines englischen Kaufmannshauses in Leipzig aus dem Jahre 1639. Der zweite druckt ein Verzeichnis der Ausstattung Isabellas von Lancaster, Tochter des dritten Earls, die Priorin von Amesbury war, dazu eine Art von Budget dieser Dame, a. D. 1333/4. Alphons L h o t z k y s kleiner Beitrag gewährt an der Hand eines unbeachteten Chronikfragments neues Licht zur Erklärung der geheimnisvollen Devise Kaiser Friedrichs III. „A. E. I. O. U.\ Hans Krämers kommentierende Auszüge aus Agostino Patrizzis Beschreibung der Reise des Kardinallegaten Francesco Piccolomini zum Christentag in Regensburg 1471 fesselt über ihren unmittelbaren historischen Wert hinaus als ein Zeugnis von der Begegnung des italienischen Geistes mit deutscher Wirklichkeit.

Die mustergültige Ausgabe der „Preces primariae“ (der „Erstbitten“) Kaiser Maximilians I. ist mit ihren 80 Seiten das Kernstück und die Zierde des ersten Festschriftbandes. Die Reichweite der Quelle erstreckt sich von Frankreich und Belgien bis weit nach Osten. Ein vortreffliches Personenregister gestattet die leichte Benutzbarkeit.

Zwei Jahrhunderte umspannend, bringt die Registratur der toskanischen Gesandtschaft am Kaiserhof, von Marcello del P i a z z o veröffentlicht, mannigfaches Material, das sich auch auf Polen bezieht. Fausto Nicolini gibt einen urkundlichen Beitrag zum Leben Giam-battista Vicos; man entnimmt daraus, daß es mit der viel verschrieenen Mißachtung der Wissenschaften in Neapel nicht so arg gewesen ist. Der sehr beachtenswürdige Briefwechsel zwischen Kaiserin Maria Theresia und Maria Amalia von Sachsen, Gattin Karls III. von Spanien, den Benito Fuentes Isla publiziert, zeigt die Herrscherin von ihrer liebenswürdigsten Seite, als Mutter, die sich der stets wachsenden Zahl ihrer Kinder freut und die an den häufigen Entbindungen ihrer spanisch-sächsischen Kusine lebhaften Anteil nimmt. “Dazwischen finden sich hochpolitische Bemerkungen, die dem diplomatischen Talent Maria Theresiens alle Ehre machen.

Der Direktor des Wiener Kriegsarchivs, Hofrat Oskar Regele, bespricht die Geschichtsschreibung an der von ihm geleiteten Arbeitsstätte seit 1779. Erich Zöllners Mitteilungen aus unbekannten Briefen eines der vertrautesten Mitarbeiter Metternichs, des Gesandten Franz Baron Binder von Kriegelstein, sind recht schätzbar. Man wünscht nur eine genauere Edition der eingestreuten französischen Zitate, in denen manche — kaum vom Briefschreiber herrührende — falsche Akzente und orthographische Fehler zu entdecken sind.

Wiederum eines der Glanzstücke des Bandes: Angelo Filipuzzis Erzählung der englisch-französischen Mediation im österreichisch-sardinischen Krieg 1848/49. Die Zweideutigkeit und die Unbeholfenheit der Londoner Diplomatie tritt dabei ins helle

Rampenlicht. Viktor Emmanuel und seine Piemontesen mußten dafür hart büßen, und als sie von Radetzky in seinem berühmten Fünftagefeldzug vernichtend geschlagen waren, begnügte sich die britische Intervention mit einem Glückwunsch an die österreichischen Sieger. Den Band beschließt Hofrat August Loebr, der Wiener Museumsdirektor, mit einer instruktiven Abhandlung über die Pflege der Porträtkunde in Österreich. Univ.-Prof. Dr. Otto Forst de B a 11 a g 1 i a

Die politische Stellung der Völker im Frankenreich. Von Erich Zöllner. Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, herausgegeben von Leo Santifaller, Band XIII. Universum-Verlag, Wien. 276 Seiten.

Seit der Geschichtsschreibung der Romantik ist die Frage oftmals aufgegriffen und nie richtig gelöst worden, ob denn der Gegensatz der einzelnen Völkerschaften zum Gesamtreich oder auch die Spannung zwischen Romanen und Germanen die Ursache des Zerfalles des fränkischen Reiches und der Gründung neuer „nationaler“ Reiche gewesen seien. In die Kontroverse haben sich leider nicht selten politische oder subjektive Akzente eingeschlichen, wodurch die klare Erkenntnis getrübt wurde. Heute liegen schon genügend Einzelforschungen nach Sprache, Recht, Wirtschaft und Volkstum vor, die es dem Autor ermöglichen, auf ganz breiter Basis die umfassende Frage nach dem Zusammenwirken oder Auseinanderstreben völkischer Kräfte im fränkischen Reiche zu stellen; und zwar befragt er jedes einzelne Volk nach seinen Traditionen, seinem Volks- und Abstammungsbewußtsein — das sich etwa in Stammsagen äußern kann —, nach seinen religiös-politischen Grundlagen und Bestrebungen und nach der spezifischen, bei jedem Volk und in jeder Epoche verschiedenen Art der Beziehungen zum Reich. Das eigentlich kulturelle Leben ist hier durdi das Thema ausgeschaltet. Sowohl das politische Geschehen an sich und die daraus abzulesende Kräfteverteilung wie auch sämtliche verfügbaren schriftlichen Quellen, besonders Bemerkungen zeitgenössischer Autoren, können da über das Volksbewußtsein eines Stammes Auskunft geben. Die 13 behandelten Völkerschaften, teils antikes Erbe tragend, teils „gentes“, Bartaren — Romanen, Germanen, Kelten und Slawen —, Katholiken, Arianer und Heiden, dazu die nur lose angegliederten Völker geben ein buntes und zugleich für das Gesamtgefüge des Reiches sehr plastisches Bild. Auf diese Vorstudien hin gewinnt auch die Übersicht über die Politik der Franken zu den anderen Völkerschaften ganz neues Licht. Nicht der Stammesgegensatz allein, noch der rassische oder religiöse, aber auch nicht das Versagen der späteren Karolinger allein waren nach diesen Erkenntnissen schuld am Zerfall des Reiches, vor allem aber wird entgegen anderen Ansichten betont, daß die Gründung von Nationalstaaten keineswegs bewußt geschehen ist. Die klare Durcharbeitung bei gewissenhaftester Erfassung und vorsichtiger, gerechter Bewertung der Quellen macht der altbewährten Wiener Schule der Geschichtsforschung alle Ehre.

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