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Einsames Volk

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Unter den vielen Berichten über die verschiedenen Vorgänge in Ungarn: Wahlkämpfe, politische Prozesse, diplomarische Proteste, Verhaftungen, die Flucht von Po-' litikern usw. ist eine kurze Notiz nur in wenigen Blättern des Auslandes der Veröffentlichung gewürdigt worden. Und doch besagt gerade sie mehr über die Seelenhaltung des ungarischen Volkes inmitten dieser schweren Krisenzeiten als alle anderen, je nach der politischen Einstellung so oder anders gefärbten Nachrichten. Die Meldung nämlich, wonach mehr als eine halbe Million Menschen an der heurigen St Stephans-Pro-zession in Budapest teilgenommen haben.

Eine halbe Million! Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Hauptstadt. Eine solche Beteiligung war, so weit die Erinnerung zurückreicht, noch bei keiner der alljährlich am 20. August, dem Tage des Schutzpatrons und ersten Königs von Ungarn, stattfindenden Stephansfeiern zu verzeichnen gewesen.

Bis zum Jahre 1943 war diese Prozession, der Überlieferung folgend, in den schmalen, alten Straßenzügen von Buda zwischen der königlichen Burg und der Matthias-Krönungskirche abgehalten worden. Schon die Begrenztheit dieses äußeren Rahmens setzte der Teilnehmerzahl enge Schranken. Aber auch das vorgeschriebene Zeremoniell beschränkte sie auf die hohen Funktionäre des Staates, der Honved, des Klerus und die Mitglieder des Ober- und Unterhauses sowie — wohl mehr als eine Art malerischer Staffage — auf Volksdeputationen aus den verschiedenen Komitaten in ihren farbenfreudigen Trachten. Ihre bunte Pracht mischte sich mit den goldverschnürten Prunkkleidern der Großen des Landes, mit dem Rot und Lila der Kirchenfürsten und den mittelalterlichen UnLjsrmen der Kronwache zu einem grandiosen Bild, das freilich — zumal in den letzten Jahren — angesichts der ernsten, ja bedrohlichen Wirklichkeit einen fast makabren Beigeschmack hatte. Unmittelbar nach der letzten Stephans-Prozession, an der er teilnahm, erhielt der damalige Reichsverweser Horthy die Nachricht vom Tode seines Sohnes, der auf eine bis heute nicht restlos aufgeklärte Art hinter der Front mit seinem Flugzeug abgestürzt war. Der düstere Ausklang dieser letzten Stephansfeier im alten Stil sevien voll unheimüdier Symbolik: anderthalb Jahre später lag Buda, das mit seinen schönen, alten Palästen dem Festesprunk des Steptanstages zum Schauplatz gedient hatte, einschließlich der Königsburg in Schutt und Asche ...

So mußte 1945 die erste Stephans-Prozession nach dem Kriege nach Pest verlegt werden. Der Reliquienschrein mit der „Heiligen Rechten“ aber, der erhalten gebliebenen rechten Hand König Stephans des Heiligen, die den Mittelpunkt aller Stephans-Prozessionen gebildet hatte, war von den Vfeil-kreuzlern außer Landes gebracht worden. Dennoch hatten sich — eine bis dahin nie erlebte Zahl — über 200.000 Menschen eingefunden, um das Andenken des ersten Ungarnkönigs in ernster Stunde zu ehren. Schon das Äußere dieser Menschen bot ein vielsagendes Abbild der grundlegenden Veränderung, die hier vor sich gegangen war. Der frühere Prunk war wie weggefegt. Die fast unübersehbare Menge trug Zivil, die meisten — und nicht nur aus den ärmeren Schichten — zerschlissene Kleider und schadhafte Schuhe. In ihre todernsten, eingefallenen Gesichter hatte die Not der durchlebten Kämpfe und Bombenangriffe, Entbehrung und Inflation tiefe Runen eingegraben. Als sich die Hunderttausende aber auf dem großen Platz vor der Basilika versammelt hatten, brauste mit einem Mal ein „Eljen!“ zum Himmel, wie es das strenge Zeremoniell bei solchem Anlaß einst weder vorgesehen noch zugelassen hätte: auf den zur Basilika emporführenden Stufen erschien der Schrein mit der Heiligen Rechten, die die amerikanische Militärmission für diesen Tag nach

Budapest heimgebracht hatte. Bei ihrem Anblick leuchtete in den Augen der Menschen ein Glanz auf, ungleich wahrer, wärmer und daher schöner als der — nicht immer ganz echte — äußere Glanz, der früheren Feiern das Gepräge und Gepränge gegeben hatte.

Irgendwie fühlten diese Menschen: nun müßte es wieder aufwärtsgehen! Die Herrscherhand Stephans des Heiligen, die dem ungarischen Volk vor einem Jahrtausend den rechten Weg gewiesen und es vor vielfachen Gefahren erfolgreich beschirmt hatte, war wieder in ihrer Mitte.

Vieles ist seither unstreitig besser geworden. Die äußeren Lebensverhältnisse haben sich in raschem Tempo gehoben, die äußerste Not, die Gefahren der Inflation sind gebannt. Aber andere, vielleicht schwerere Gefahren erheben heute ihr Haupt. Grund . genug zur Wallfahrt der Fünfhunderttausend.

Denn die geradezu fanatische Liebe und Verehrung der Ungarn zur Heiligen Rechten lag ja seit jeher nicht zuletzt in jenem Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit dieses weit von allen Stammverwandte* in Europa lebenden Volkes begründet, das seine ganze Geschidite durchzieht und dem sein größter Sohn, Graf Stephan Szechenyi, in den Worten: „Wir stehen allein!“ Ausdruck verliehen hat. Dieses tiefe Wissen um seine Einsamkeit bildete die treibende Kraft zu vielen Erscheinungen in seiner Geschichte, die in der Umwelt unverstanden geblieben sind. Nur wer dieses Gefühl richtig zu werten weiß, vermag in das Geheimnis des ungarischen Wesens einzudringen. Er wird auch die so oft als falscher Stolz, ja Hochmut empfundene, im Grunde aber nur aus erfahrungsgemäßem Mißtrauen und innerer Unsicherheit geborene scheinbare Schroffheit der Ungarn Fremden gegenüber verstehen und verzeihen, die übrigens unvermittelt in eine bis zur Selbstentäußerung gehende Freundschaft umschlagen kann, sobald sie im anderen ein Zeichen wahrer Zuneigung erkannt haben.

König Stephan war sich der Gefahren, die diese Verlassenheit in Europa für sein Volk barg, sehr wohl bewußt. Awaren, Rumänen und Petschenegen, die gleich den Magyaren aus dem Osten nach Pannonien vordrangen, sind — vor ihm und nach ihm — diesen Gefahren erlegen. So galt es, eine innere Bindung zwischen den Ungarn und ihrer Umwelt herzustellen. Diese dauernde Verbindung konnte ihnen nur das Christentum geben. Stephan hatte die Wahl zwischen Ost und West, zwischen Byzanz und Rom. Seine Wahl fiel auf Rom und den Westen, doch bedeutete diese religiöse und kulturelle Anlehnung keineswegs zugleich einen polirischen Ansdiluß. Vielmehr lag, politisch gesehen, der eigentliche Zweck dieser Angleichung an den christlichen Westen gerade in der Sicherstellung des Eigenlebens der Ungarn in Europa. Gerade dieses Motiv der Tat Stephans des Heiligen aber wurde im Lauf der Geschichte sowohl im Westen als auch im Osten immer wieder verkannt: der Westen begriff nicht, daß die Ungarn, als christliches Volk, keine Lust zeigten, im Abendlande — im Heiligen Römischen Reich und später in Österreich als „Gesamtstaat“ — auch politisch aufzugehen und sich so selbst zu verlieren. So wurden ihre zahllosen Kämpfe um die Erhaltung ihrer Eigenständigkeit als unbegreifliche Halsstarrigkeit und Rebellionen mißdeutet. Der Osten wieder — wie die Osmanen — sah in den Magyaren im Grunde nie etwas anderes als abtrünnige, zum Christentum abgefallene Stammesbrüder, die mit dem Abendlande nichts gemein und daher auch keinerlei Anlaß hätten, sich für dessen Sache zu schlagen.

Ein plastisches Beispiel hiefur bietet die Geschidite des Großfürstentums Siebenbürgen: zur Wahrung des ungarischen Charakters dieses Landes.: nach dem Türkeneinfall geschaffen, hat es kaum einen unter seinen gewählten Fürsten gegeben, der beim Antritt seiner Herrschaft nicht versucht hätte, sich an das Abendland — dessen Zentrum Wien war — um Hilfe zur Abschüttelung des Osmanenjodies zu wenden. Erst die Ohnmacht oder die Verständnislosigkeit des Westens zwang sie, mit der Pforte einen modus vivendi zu finden, um so das christlich-europäische Wesen des Landes — mit Erfolg — zu erhalten. Als aber dann endlich doch die Befreiung kam, wurde im Diploma Leopoldinum, das die autonomen Verfassungsrechte Siebenbürgens bestätigte, /war ausdrücklich anerkannt, daß das Land „kraft der heiligen Krone“ an das Haus Österreich zurückgefallen war. Nur allzu rasch aber vergaß man seine beide Teile bindenden Zusagen. Dieser tragische psychologische Fehler hatte denn auch zur Folge, daß jede Freiheitsbewegung Ungarns gegen den Westen gerade in Siebenbürgen den größten Anhang fand.

Die heilige Krone König Stephans besteht aus zwei Teilen: der obere kam aus Rom von Papst Sylvester IL, der Kronreif selbst aber stammt aus Byzanz. Darin liegt ein tiefes Symbol: seiner Herkunft und Natur nach dem Osten angehörend, seiner Kultur und Geistigkeit nach dem Westen verhaftet, hat es das ungarisdie Volk im jahrhundertealten Widerstreit zwischen Ost und West verstanden, sein Eigenleben gegen alles Unverständnis und alle Gefahren, die ihm von beiden Seiten drohten, zu behaupten.

Wie je in seiner Geschidite auf sich allein gestellt, blickt es so heute mit verdoppelter Inbrunst zur Heiligen Rechten seines ersten Königs empor, Riditung und Rettung von ihr erhoffend und erflehend.

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