6659339-1959_48_11.jpg
Digital In Arbeit

Englands große Queen

Werbung
Werbung
Werbung

Als die Nichte des vierten William den Thron Englands bestieg, war schon der letzte Rest effektiver königlicher Macht den Hannoveranern durch die leichtfertigen Finger geronnen. Am 4. Juni 1832, wenige Tage nach Victorias 13. Geburtstag, wurde die längst überfällige, bis an den Rand des Bürgerkrieges verzögerte Wahlrechtsreform Gesetz, durch die das Haus der Lords seinen Vorrang gegenüber dem Unterhaus und der König die Möglichkeit verlor, eine Regierung willkürlich nach seinen persönlichen Neigungen und Zielen zusammenzustellen und ihr im Wege eines entsprechenden Pairschubs die erforderliche parlamentarische Grundlage zu geben. Für die kleine, ihrem Wesen und ihrer Erziehung nach so ganz unenglische, in der Oeffentlichkeit so gut wie unbekannte Prinzessin, die fünf Jahre später die höchste Würde im Reich übernehmen sollte, war es nicht leicht, sich mit der drastischen Beschneidung königlicher Prärogative abzufinden. Selbstbewußt, ambitioniert, energisch, pflichtgetreu und vom ehrlichen Willen beseelt, dem Wohl ihrer Völ-

ker zur dienen, und dabei voll von echt deutscher Sentimentalität, bedeutete es für sie ein allzu häufig wiederkehrendes Opfer, sich, statt selbst in das politische Geschehen einzugreifen, dem Rat von Premierministern unterwerfen zu müssen, die ihr persönlich höchst unsympathisch waren oder — oft traf beides zusammen — deren politische Linie ihrer eigenen Auffassung diametral widersprach. Allerdings, und darin kam das Privileg ihrer Weiblichkeit deutlich zur Geltung, unterlagen ihre Ansichten mitunter den merkwürdigsten irrationalen Schwankungen. Trotz ihrer grundsätzlichen Ablehnung eines Kompromisses in Fragen monarchischer Legitimität und ihrem anfänglichen Entsetzen über den Staatsstreich von 1851, der einen dubiosen Abenteurer in den Besitz des Thrones der Bourbonen gebracht hat, läßt sie sich schon beim ersten Zusammentreffen von der Erscheinung, der geheimnisvollen Vergangenheit, der galanten Liebenswürdigkeit des neuen Kaisers der Franzosen geradezu faszinieren; und ihre Begeisterung fürJhn fjteigert icl) jtu fijieifl riesigen Ejjfljji-. siasmus unter dem Eindruck der Auftnwksamkeiten, mit denen sie und ihr Prinzgemahl bei ihrem bald darauf erfolgten Gegenbesuch in Paris überschüttet werden. Was sie keineswegs hindert, im Gegensatz zu John Russell, Gladstone. Lord Palmerston, dem Allerweltshetzer und -Unruhestifter und erbitterten Oesterreich-Feind, in den italienischen Fragen die

Partei der Habsburgermonarchie zu ergreifen und sich nach Kriegsausbruch 1859 in fieberhafter Ungeduld darüber zu verzehren, daß Gyulay sich nicht und nicht entschließen wollte, die Sardinier in einem raschen Anlauf aus dem Feld zu schlagen, um dann mit überlegenen Kräften auf das Heer Napoleons loszugehen Es war ein Glück für Victoria und für ihr Reich, daß sie in den ersten Jahren ihrer Herrschaft in ihrem Premierminister Lord Melbourne einen Mentor besaß, dessen behutsamer und kluger Führung sie sich in ihrer mädchenhaften Schwärmerei für den ritterlichen alten Mann, der sie wie ein liebevoller Vater umsorgte, willig überließ. Was sie in jenen Jahren, fast ein Kind noch, von ihrem geliebten „Lord M.“ lernte, hat ihr in ihrem langen Leben als Trägerin der Krone immer wieder geholfen, sich, wenn auch oft unter bitteren Tränen, den Gesetzen einer ungeschriebenen Verfassung zu beugen und so Erschütterungen hintanzuhalten, die der monarchischen Institution in England und dem britischen Imperium selbst hätten zum Verhängnis werden können.

Königin Victorias politischer Einfluß wurde oft überschätzt, aber doch spricht man mit Recht von einem Victorianischen Zeitalter, denn ganze Generationen des britischen Volkes sind durch ihr mutiges Beispiel, durch ihre strenge Auffassung von Pflichterfüllung, von Sitte und Benehmen, und nicht zuletzt durch ihren persönlichen Geschmack deutlich geprägt wordtn. Diesem Umstand hat Charles Chastenet in dem hier vorliegenden Buch in hervorragender Weise P.echnung getragen. Er zeichnet das Lebensbild der Königin gegen den reichgegliederten Hintergrund der Geschichte ihrer Zeit; einer Entwicklung, die das Vereinigte Königreich in knapp über sechzig Jahren zu dem heute fast sagenhaft anmutenden Höhepunkt seiner Macht, seines Wohlstands und seiner weltpolitischen Geltung geführt hat. Daß bei der Fülle des Geschehens, das der Autor in prägnanter und oft humorvoller Art skizziert, die eine oder andere Ungenauigkeit unterlief, wie etwa die Gleichsetzung des britischen Okkupations- und Verwaltungsrechtes in Zypern, welches auf der am 4. Juni 1878 zu Konstantinopel abgeschlossenen anglo-türkischen Konvention beruhte, mit der formellen Annexion, die erst 1914, nach dem Beitritt der Türkei zur Allianz der Mittelmächte erfolgte, ist durchaus verzeihlich und tut dem Wert’dieses interessanten und anregend geschriebenen Werkes keinen Abbruch. Besonders hervorzuheben ist die vorzügliche Arbeit des Uebersetzers, der einen vollkommen vergessen läßt, daß es sich hier um eine Ueber- tragung aus dem Französischen handelt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung