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Entdeckungen in Nazareth

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Die jüngst abgeschlossenen Ausgrabungen in Nazareth wurden ermöglicht durch die Demolierung der Verkündigungskirche aus dem siebzehnten Jahrhundert, die bekanntlich einem monumentalen Neubau weichen soll. Sie haben viele wichtige Resultate ergeben: Die Grundrisse der byzantinischen und mittelalterlichen Verkündigungskirchen stehen nun fest. Es wurde bewiesen, daß die Verkündigungsgrotte inmitten eines Dorfes des ersten nachchristlichen Jahrhunderts liegt. Völlig unerwartet wurde Naza-reths Schatz burgundischer Skulptur der Frühgotik um zwei bedeutende Stücke bereichert.

Immerhin, die Resultate dieser Grabungen sind von höchstem Interesse': Im Gebiet westlich der byzantinischen und mittelalterlichen Kirchen liegt frei, was man den negativen Abdruck des jüdischen Dorfes Nazareth nennen könnte. Die Fundamente vieler kleiner Häuser sind in den Fels geschnitten, Keller mit Treppen aus anstehendem Felsen, Zisternen und Getreidespeicher mit komplizierten Ventilationsrohren. Ein Kellerraum, dessen Decke zwei antike Säulen tragen, ist ein interessantes Gegenstück zu den zwei Säulen in der Verkündigungsgrotte, die als ein „Hinterzimmer“ im Hause Josephs gilt. Keinerlei Spuren antiker Gräber wurden gefunden.

Die Grabungen haben den Grundriß der beiden Kirchen geklärt, die vor der jetzt demolierten Verkündigungskirche hier standen. Es ist deutlich geworden, daß P. Viaud, der im Jahre 1907 grub, im Irrtum war, als er die Ruinen der größeren Kirche in die byzantinische Epoche datierte. Das erste Verkündigungsheiligtum von Nazareth war ein relativ bescheidener Schrein, ungefähr 18 Meter im Quadrat. Umfangreiche Spuren byzantinischer Mosaiken wurden gefunden, die zwei Perioden angehören. Die interessantesten sind mit Kreuzen geschmückt und müssen entstanden sein, bevor Kaiser Theodosius die Anbringung von Kreuzen und Christogrammen in Fußbodenmosaiken verboten hat. Wenn man die derbe Technik dieser Mosaiken mit dem Raffinement der gleichzeitigen Bodenmosaiken von Bethlehem vergleicht, wird deutlich, daß Nazareth damals als Pilgerziel zweiten Ranges galt.

Kreuzfahrer rekonstruierten die Basilika in der alten Achse, aber in viel größerem Ausmaß. Ihre Kathedrale war siebzig Meter lang und dreißig breit. Zahlreiche Riesensäulen, die in die mittelalterlichen Fundamente vermauert sind, müssen im byzantinischen Atrium gestanden haben. In der Kirche war kein Platz für sie. Die Apsiden der byzantinischen Kirche wurden nun im Schiff der Kreuzfahrerkirche ausgegraben, deren mächtiger Chor im Westen der jüngst demolierten Kirche freigelegt ist. Hier haben die Archäologen den mittelalterlichen Pilgerfriedhof angeschnitten. In der Grabungsfront sind Beisetzungen sichtbar, die von vier Kalksteinplatten gebildet sind. Nur ein paar durchbohrte Muscheln, Abzeichen der Pilger, wurden in den sarglosen Gräbern gefunden. Ein großer, wiederbenutzter römischer Steinsarg war ein Einzelfund, vermutlich diente er einst einem fürstlichen Pilger.

Den wichtigsten Fund stellten ein weiteres der berühmten „Nazareth-Kapitäle“ dar und ein fast lebensgroßer Torso der gleichen Hand. Als P. Viaud 1907 im Norden der demolierten Kirche grub, fand er im Schutt eines eingebrochenen mittelalterlichen Kellers sechs Kapitale. Sie stammen offenbar aus einer der großen burgundischen Kathedralbauhütten des frühen dreizehnten Jahrhunderts, vermutlich aus Vece-lay. Sie tragen die schlanken Gestalten biblischer Propheten und Könige, in kalligraphischen Faltenwurf gekleidet, gestellt in grazile, noch romanische Architektur. Diese Meisterwerke französischer Gotik wurden wohl nach Nazareth geschickt, um in einem Neubau der Kathedrale, der nie zustande kam, verwendet zu werden.

Im Schutt eines benachbarten Kellerraumes wurde nun ein weiteres Kapital gefunden und der fast lebensgroße Torso einer £tatue desselben Meisters, die den Engel einer Verkündigungsgruppe dargestellt haben mag. Die beiden Skulpturen, im Gegensatz zu den Funden von 1907, sind grausam verstümmelt, aber von gleicher Unberührtheit der Oberfläche, die zeigt, daß sie niemals eingebaut und atmosphärischen Einflüssen ausgesetzt waren. Es scheint, daß die Mamelucken des Baybars dieses Versteck entdeckt und an den beiden Plastiken ihren ikonoklastischen Fanatismus ausgelassen haben.

Die Kapitale von Nazareth sind in jedem Werk über die Bauplastik der französischen Gotik abgebildet. Bisher ist es niemandem gelungen, den Meister zu identifizieren und zu erklären, wie diese Hauptwerke nach Palästina gekommen sind. Die neuen Funde bieten der Forschung zusätzliches Material, insbesondere der Torso in dem so typisch raffinierten Spiel seines Faltenwurfes. Vielleicht bieten sie den Schlüssel des Rätsels der einzigen Werke metro-politaner französischer Gotik, die bis zum heutigen Tage in den Grenzen von „La France d'Outre Mer“, dem Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem, gefunden wurden.

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